Zwinger mit Meerblick
Dresdener Gemäldegalerie Alte Meister wurde maßstabsgetreu in Second Life nachgebaut
Die Gemäldegalerie Alter Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, eines der berühmtesten Museen der Welt, wurde maßstabsgetreu in Second Life nachgebaut. Die 3D-Version ist auch eine indirekte Hommage an eine der revolutionärsten Epochen der Kunstgeschichte.
Die Entdeckung der Zentralperspektive war eine der großen Leistungen der Renaissance. Die Menschheit hat rund zehntausend Jahre intellektueller Anstrengung benötigt, um mathematische Regeln aufstellen zu können, die es ermöglichen, den Raum perspektivisch genau abzubilden.
Erst die Kunst der Renaissance stellte die Natur und den Menschen jenseits eines religiösen Zwecks dar, auch wenn die Themen die christliche Teleologie noch zitieren. Ohne die Experimente der Maler der Renaissance gäbe es keine Camera obscura von William Storer, ohne die Camera obscura wäre man nur schwer auf die Idee gekommen, dreidimensionale Polygone zu entwickeln, und ohne Polygone gäbe es weder HiPiHi, Twinity noch andere massive multi-user virtual environments
Die Alten Meister und ihre erstaunliche Kunstfertigkeit sind schon wieder Avantgarde. Die virtuelle Version der Dresdener Gemäldegalerie garantiert im Internet die wichtigsten Faktoren eines Museumsbesuchs: Interaktivität und die Erfahrung des Raums, ein Erlebnis, das ein Kunstkatalog nicht vermitteln kann. Die Initiatoren geben sich daher auch äußerst selbstbewusst. "Die Dresdener Gemäldegalerie Alte Meister ist das erste Museum von internationalem Format, das auf die neuen Herausforderungen des Internets mit einem echten Klon seiner selbst reagiert."
Dr. Andreas Henning, Kurator für italienische Malerei in der realen Galerie, sieht den Reiz der Second-Life-Version darin, etwas zusammenzubringen, was nur auf den ersten Blick nicht zusammengehört: Avatare und Alte Meister, die Perspektive des 16. und die 3D-Welten des 21. Jahrhunderts, Luca Cranach der Ältere und jüngere Computerspieler. "Wir wollten von Anfang an dabei sein", sagt Henning. Während das Guggenheim-Museum einen Ableger in Dubai plant und die Kunstwelt noch darüber streitet, ob man den Louvre nach Abu Dhabi verfrachten dürfe, platzierten die Dresdener ihren Zwinger frech einfach in die virtuelle Wüste - nach dem Motto des Igels, der zum Hasen sagt:
"Ich bin schon da".
Wer sich mit seinem Avatar auf den virtuellen Glockenspielturm am Theaterplatz stellt, hat zudem über die Dünen noch einen Blick auf glitzernde digitale Meereswellen - ein gewolltes und ironisches Zitat der Diskussion.
Die vituellen Dresdener Alten Meister werden von den Verantwortlichen anderer deutscher Museen interessiert, aber distanziert beobachtet. Es ist aber auch die These im Umlauf, Kunst habe in 3D-Welten gar nichts zu suchen. Wichtigster Verbündeter der avantgardistischen Sachsen in der Theorie ist das Zentrum für Kunst und Medientechnologie (on1.zkm.de/zkm/about) in Karlsruhe. Während im Dresdner Wissenschaftsministerium noch altgediente Beamte mit dem Internet an sich hadern, will man auch beim ZKM "auf die schnelle Entwicklung der Informationstechnologien und den Wandel der sozialen Strukturen" angemessen reagieren. Aber wie kann man die "Wunderkammer Cyperspace" adäquat nutzen? Der Kulturinformatiker Leonhard Huber sagt dazu:
"Museen erfüllen eine Bildungsaufgabe, zu deren Umsetzung zeitgemäße Kulturtechniken heranzuziehen sind."
Das Zeitgemäße kommt nur nicht überall gleichzeitig an, sondern, vor allem in Deutschland, dem Heimatland der Bedenkenträger und Oberlehrer, mit einigen Jahren Verspätung. In der deutschen Kunstpädagogik wird noch nicht einmal die Frage gestellt, ob man Schüler mit Avataren ins virtuelle Museum schicken dürfe, um in Echtzeit über Alte und neue Meister auch chatten zu können. Sara Burckhardt, beim Fachverband Kunstpädagogik für Medien zuständig, hat die einzige aktuelle Dissertation über Kunstpädagogik im Internet verfasst - virtuelle Welten kommen noch nicht vor. Burckhardt findet den Dresdener Versuch aber sehr interessant: "Gerade für die Breitenwirkung von Kunst ist das spannend." Dem entsprechen auch die meisten Eintragungen in das Internet-Gästebuch der virtuellen Gemäldegalerie. Ein US-Amerikaner schreibt:
"It is much like having a membership to a museum. I can come back at look at one work, a group, a room or just wander through looking for someting new. I live in the United States and there is no other way I would get to look at the Dresden collection. How does it compare to a regular museum? It is less crowded for one. I can use my camera to see works high on a wall."
Der virtuelle Zwinger wird von der Berliner Second Interest AG (www.secondinterest.com/) umgesetzt und betreut. Das Unternehmen hat sich gegen den abklingenden Hype um Second Life gestemmt und der hessischen Ex-Volksschullehrerin Ailin Gräf a.k.a. Anshe Chung die besten Entwickler abgeworben, die gleich auch eine Gruppe Programmierer aus China als Morgengabe mitbrachten. Ohne die Chinesen wäre der virtuelle Zwinger vermutlich nicht so preisgünstig geworden. Second Internest baut auf die Marktanalysen führender internationaler Institute wie der Gartner Group. Die sagen dem Web 3D bis 2011 eine rasante Entwicklung voraus: Bis zu 80 Prozent aller Nutzer des Internet werden bis dahin virtuelle Welten genutzt und erkundet haben.
Museen wie in Dresden ziehen real nur eine bestimmte Gruppe von Rezipienten an; erstaunlicherweise ist die Schnittmenge zu der klassischen Second-Life-Klientel höher als erwartet: Der Anteil von Frauen beträgt knapp die Hälfte, und der Altersdurchschnitt der besonders Aktiven ist ein Jahrzehnt höher als der von durchschnittlichen Computerspielern. Die Galerie Alter Meister will Anfang September die erste empirische Auswertung ihres Experiments präsentieren. Schon jetzt steht fest, dass das Projekt weiter verfolgt wird - die Besucherzahlen in Second Life sind weit überdurchschnittlich. Einwände sieht man gelassen:
"Die Kritik an sämtlichen Reproduktionstechniken, die im Laufe der Jahrhunderte auf den Markt kamen, hat immer wieder gezeigt, dass mediale Auftritte nur Andeutungen sein können und auch nur Andeutungen sein dürfen. So kann die virtuelle Dependance auch nicht die zentrale Schlüsselfähigkeit eines Museumsbesuchs ersetzen, die sinnliche Wahrnehmung vor dem Original."
Die digitale Gemäldegalerie verhält sich zur realen wie ein Videoclip zu einem Musikstück: Gut genug, um zu wissen, worum es geht, nicht gut genug, um alles zu wissen und erfahren zu haben, aber - wenn er gut ist - ausreichend, um neugierig auf das Original zu werden. Das wäre ganz im Sinne der Alten Meister der Renaissance. Die Neugier, die zentrale Denkfigur der Moderne, war unter Moraltheologen immer gleichzeitig ein Laster und eine Tugend - wie Computerspiele auch.