Zwischen Briefträger und Radrennfahrer
Seite 2: Drei Ebenen des Mobilitätswandels: Nische, Regime, Masterdiskurs
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- Drei Ebenen des Mobilitätswandels: Nische, Regime, Masterdiskurs
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Heute kehrt das Fahrrad vor allem in den Städten langsam als Alltagsverkehrsmittel zurück. Der Wandel ist jedoch zäh, denn Mobilitätssysteme sind Teil emotionaler Bindungen. Neue Mobilitätsformen können sich nur durchsetzen, wenn auf drei Ebenen Veränderungen eintreten, erklärt die Soziologin Mimi Sheller:
- Erstens werden in lokalen Nischen neue Erfahrungen gesammelt, die das Gesamtsystem allerdings noch nicht beeinflussen. In Frankreich beginnt das Fahrrad diese Nische gerade erst zu erobern.
- Unter einem Mobilitäts-Regime versteht Sheller zweitens den kulturellen Rahmen, in dem sich etwas Neues entwickeln kann. Entscheidend ist das Verhalten der institutionellen Akteure, etwa die Verkehrspolitik der Stadt Paris, die den innerstädtischen Autoverkehr verringern will.
- Überformt wird dies drittens vom Landscape-Level, den besonders veränderungsresistenten Masterdiskursen also, die unser Verständnis von Mobilität leiten. Darunter fällt zum Beispiel die Vorstellung, Automobilität sei mit Freiheit gleichzusetzen.
Das Technoimaginäre des Radfahrens entfaltet sich zwischen Drama und Komödie
Diesen Masterdiskurs gibt es auch in Bezug auf das Fahrrad. Welche kulturellen Qualitäten dem Rad zugeordnet werden, zeigt sich zum Beispiel an zwei wichtigen Kinofilmen:
Jacques Tati zeigt das Fahrrad in Jour de fête (1949) als ein dem Beschleunigungsdruck der Moderne unterlegenes, aber in seinen komischen Qualitäten unübertroffenes Objekt. Das Rad hat ein Eigenleben, es ist lebendig und kann klingelnd davon rollen. Es kann einen zu Fall bringen. Insekten stören den Geradeauslauf. Wie bei einem Zirkuspferd muss der Fahrer darum kämpfen, es unter seiner Kontrolle zu behalten, er landet also auch mal im Fluss. Briefträger François überholt spielend eine Meute von Rennradfahrern und behauptet sich damit als die eigentliche kulturelle Ikone.
Louis Malles Dokumentarfilm Vive le tour von 1962 zeigt das Radfahren hingegen als etwas sehr Ernstes: Mühsam arbeiten sich die Fahrer den Berg hinauf, Verletzungen, fürchterliche Stürze, Ohnmacht. Das begeisterte Publikum schiebt erschöpfte Fahrer an, bringt ihnen Bier und Wein aus den Kneipen.
Malles Film zeigt kein fetischistisches Interesse für das Rad als Objekt, wie es auf den Fahrradmessen zelebriert wird. Er untersucht in humanistischer Perspektive, was das Radfahren mit dem Menschen macht. Die Essenz des Radfahrens besteht nicht im Transport, sondern in der Transzendenz. Das Rad transportiert den Fahrer in eine andere Welt, die Welt des Schmerzes, der Leiden und der Selbstüberwindung. Auf dem Mont Ventoux, schrieb Roland Barthes, verlasse der Radfahrer die Erde und finde sich in der Nachbarschaft unbekannter Sterne wieder.
Findet das Rad zwischen Komödie und Tragödie eine neue Rolle?
Folgt man den filmischen Bildern, entfaltet sich das Imaginäre, die kulturelle Symbolik des Radfahrens in Frankreich, also zwischen der Komik des Briefträgers und der Tragödie des Rennfahrers. Fahrradfahren ist in erster Linie großes Theater, sei es während der Tour de France, im Film - aber auch im Alltag. Das Fahrrad gehört zur Ordnung des Spektakels, ist Teil eines Bühnenstücks. Es wird nicht gefahren, sondern aufgeführt.
Dies bietet vielleicht die Chance, das Fahrrad von einem Freizeitobjekt in eine Alltagsmaschine zu verwandeln. Weniger die ökologischen oder ökonomischen Argumente ziehen, sondern Mode und Design: In Paris läuft die neue Haltung zum Radfahren über den Cycle Chic, also eine Inszenierung des Körpers. Dieser Trend wirft die komödiantischen und tragischen Elemente des Masterdiskurses nicht aus dem Sattel, sondern bindet sie spielerisch ein, wie sich besonders an der Fixie-Mode zeigt, aber auch am Image der Velibs, der französischden Leihfahrräder. Der Umstieg aufs Rad muss offensichtlich erst Mode werden, um sich zu realisieren.