Zwischen Kapital und Kriminalität: "Die Missetäter" fordert das System heraus
Argentinien macht eine anarcho-kapitalistische Kettensäge-Kur unter Milei und Rodrigo Morenos Film-Meisterwerk feiert das Verbrechen und die Schönheit.
"Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?"
Bertold Brecht
Die Börsen freuen sich, andere weniger: Argentinien, das Land mit der höchsten weltweiten Inflationsrate (276 Prozent im Jahresmittel 2023), wird unter dem neuen Präsidenten und selbstdefinierten Anarcho-Kapitalisten Javier Milei einer brutalen neoliberalen Disruption unterworfen.
Das schöne, weil genau kalkulierte Verbrechen
Genau in diesem Moment wird ein argentinischer Film in der Welt gefeiert, der eine grundsätzliche Alternative zu Mileis kurzfristiger Rosskur mit Kettensäge darstellt: Den Ausstieg aus den eingefahrenen Verwertungszusammenhängen und Renditemechanismen, das schöne, weil genau kalkulierte Verbrechen.
"Los delincuentes" von Rodrigo Moreno stellt sich dem Zuschauer als eine Enthüllung der Geheimnisse gesellschaftlicher Ungleichheit vor, die zuerst das – auch psychische – Elend, die Ermüdung und dann in deren notwendiger Folge auch das Verbrechen hervorbringt.
Befreien wir die Menschen aus der Gefangenschaft des Kapitalismus, die schlimmer ist, als die Haft im regulären Gefängnis, schaffen wir eine Chance zur Rettung.
Der Haken an der Sache
Der Haken an der Sache ist natürlich derselbe wie an der Präsidentschaft Mileis: Wenn das alle tun würden ... Schon Bertold Brecht wusste:
"Bankraub ist eine Unternehmung von Dilettanten. Wahre Profis gründen eine Bank."
Aber zunächst einmal ist es wie immer im Kriminalfilm: Man sympathisiert mit dem Gangster, dem Einzelnen, der die Regeln infrage stellt, und es triumphiert im schönen Bild die bloße Vorstellung der Rettung, der ästhetische Trost.
Wilde Seiten eines Spießbürgers
Die Handlung dreht sich um einen ungewöhnlichen Bankraub: Die Hauptfigur Morán (Daniel Elías), ist so scheint es, ein ziemlich durchschnittlicher Mensch. Er lebt – unverheiratet, ohne teure Hobbys und exzessive Eigenschaften – ein ganz schön langweiliges Spießerleben in einem kleinen Appartement in Buenos Aires. Tagsüber arbeitet er als Schatzmeister einer Genossenschaftsbank.
Eines Tages aber entfaltet er ungeahnt wilde Seiten: Da beobachten wir ihn, wie er plötzlich aus der Routine ausbricht. Er stiehlt von seiner eigenen Bank mehr als 650.000 Dollar, und hat anscheinend alles, was danach passieren soll, genau geplant.
Er weiß genau, dass er nach wenigen Tagen identifiziert und gefasst werden wird. Aber er hat sich ausgerechnet, dass die Aussicht auf dreieinhalb Jahre Gefängnis, die er bei guter Führung dann noch absitzen muss, angenehmer ist, als 25 Jahre lang seinem sterbenslangweiligen nine-to-five-Job in der Sparkasse nachzugehen, danach wird das Geld – bei sparsamer und kontrollierter Lebensführung – für den Rest seines Lebens reichen.
Er handelt allein, aber nachdem er das Geld gestohlen hat, zieht er seinen Kollegen Román (Esteban Bigliardi) hinzu, und erpresst ihn, das Geld an einem sicheren Ort aufzubewahren. Dafür soll Román die Hälfte davon abbekommen.
Vertrauen und Kontrolle
Vertrauen und Kontrolle, die Macht der Ordnung und die Macht des Zufalls – dies sind die Pole, um die dieser Film kreist.
Denn auch die besten Pläne funktionieren nie perfekt; der Zufall, die Liebe und das Leben können den besten Plan stören.
Denn indem Morán Román gegen dessen Willen zum Komplizen macht, ermächtigt er sich über ihn, beutet ihn aus und erschafft sich überdies anstelle eines Komplizen einen Doppelgänger, der sein eigenes Leben als Bankangestellter weiter leben muss, während er in seiner Zelle die Zeit vergehen sieht.
Letzteres wird allerdings anstrengender, als vermutet, denn im Knast gibt es Kreise, die nicht zu Unrecht vermuten, dass bei ihm Geld zu holen ist, und ihn zu Schutzzahlungen zwingen.
Außerdem ermittelt die Polizei, die ahnt, dass mehr hinter Moráns Raub steckt, als er ihnen weismachen will, und dass er einen Komplizen haben muss.
Auch hier lohnt noch mal der Blick auf Brecht:
Ja, mach nur einen Plan!/ Sei nur ein großes Licht!
Bertolt Brecht, Balade von der Unzulänglichkeit menschlichen Planens
Und mach dann noch’nen zweiten Plan/ Gehn tun sie beide nicht.
Denn für dieses Leben/ Ist der Mensch nicht schlecht genug.
Doch sein höhres Streben/ Ist ein schöner Zug.
Darüber hinaus wird die Bank von einem Angestellten der Versicherungsgesellschaft untersucht, die den Schaden ersetzen muss. In dessen Verlauf werden die Gehälter gekürzt, Entlassungen vorgenommen und das Leben der Angestellten zur Hölle gemacht. Moráns Tat hat soziale Folgen, die er in seine Berechnungen nicht einkalkuliert hat.
Am Ende ist das interne Umfeld der Bank allerdings aus dem Film praktisch verschwunden und taucht allenfalls sporadisch noch einmal kurz wieder auf. Zu den wenigen Vorwürfen, die man dem Regisseur machen kann, ist, dass er die Ignoranz, die er "dem System" implizit vorwirft, an Stellen wie diesen selbst reproduziert.
Klassischer Kriminalfilm
Die erste Stunde, man könnte fast sagen, der gesamte erste Teil von "Los delincuentes" (deutsch: "Die Missetäter") ist Genrekino, ein geradezu altmodischer Safeknackerfilm. "Altmodisch" ist hier als Beschreibung der Absicht und der Grundidee des Regisseurs Rodrigo Moreno zu verstehen.
Diese Annäherung ans Genre ist nämlich nur ein Sprungbrett, um vom Genre des urbanen Kriminalfilms zur Abstraktion ländlicher Landschaften zu führen.
So gesehen ist "Los delincuentes" in seinen drei umwerfend kurzweiligen Stunden auch so etwas wie eine Zusammenfassung der Entwicklung des Kinos selbst vom Klassizismus zur Moderne. An einer Stelle im Film gibt es eine kurze Diskussion über das Kino, und es fällt der Satz:
"Cinema, as it once was, is dead."
Das ist offenbar ein Bekenntnis des Regisseurs, doch zugleich erstaunlich für einen Filmemacher, der durchaus in der Tradition des klassischen Kinos steht, und dem postmodernen "Slow Cinema" zwar nicht feindselig, aber distanziert gegenübersteht - und der in "Los delincuentes" nichts anderes macht, als ein zeitgemäßes des argentinischen Kinoklassikers und Kriminalfilms, "Apenas un delincuente" von Hugo Fregonese aus dem Jahr 1949.
In Opposition zu allem, was die Industrie normalerweise erlaubt.
Die "Los delincuentes" zugrundeliegende Idee dessen, was ein Film ist, steht in Opposition zu allem, was die Industrie normalerweise erlaubt. Man kennt diese Erzählweisen, Tempi, aber auch die sehr spezielle Mischung aus Humor und Melancholie, wie sie für Argentinien so typisch ist, auch aus anderen argentinischen Filmen.
Etwa aus Laura Citarellas "Trenque Lauquen" und anderen Erfolgsfilmen aus Argentinien mit ihrem ganz speziellen Flair: "Trenque Lauquen", "La Flor" und "El Etudiante" mit dem Moreno vor einigen Jahren bekannt wurde.
Sex und Geld - die Utopie in der Provinz
Im zweiten Teil stellt Regisseur Rodrigo Moreno der kafkaesken Welt aus Bürokratie, Verwaltung und institutioneller Macht, die in der Sparkasse und dem städtischen Leben dominiert, eine ländlich-provinzielle Gegenwelt gegenüber, die in ihrer Lebensform wie ihrem Wertesystem fast utopisch-paradiesischen Charakter hat.
Denn bei einer Reise aufs Land, nahe den Bergen von Alpa Corral in einem abgelegenen Teil der Provinz Córdoba, wo er das Geld zu verstecken versucht, entdeckt Román eine Welt, in der die Zeit stillzustehen scheint, in der die Natur in bezaubernder Schönheit regiert, und ein menschlicherer Rhythmus das Leben bestimmt.
Es könnte alles auch ganz anders sein
Román trifft hier auch an einem einsamen See auf ein Trio von Wanderern: Die Schwestern Norma (Margarita Molfino) und Moana (Cecilia Rainero), und ihren Freund, den Filmemacher Ramón (Javier Zoro Sutton). Es dauert nur diesen einen Nachmittag lang, da verliebt er sich in Norma. In sie hat sich allerdings - wir haben es zuvor bereits gesehen - auch Morán verliebt ...
Vielleicht verlieben sich beide auch weniger in die Frau, als in ihr Leben, in die Alternative zu allem, was sie kennen, die hier plötzlich aufscheint: Es könnte alles auch ganz anders sein.
Formen der Gefangenschaft
Ähnlich wie zuvor der Bankraub ist auch dieser Nachmittag am See meisterlich erzählt. Moreno erzählt beobachtend, als mache er einen Dokumentarfilm.
So leben die einen das Leben der anderen, so vermischen sich Namen und Schicksale und die jeweiligen Spielregeln und Wertesysteme.
Auch kokettiert Moreno in verschiedenen Momenten mit der Farce, die sein Film nicht zuletzt ist, unter anderem, indem er den Gefängnisdirektor mit demselben Schauspieler besetzt, der auch den Generaldirektor der Bank spielt, aus der Morán durch die Straftat entkommen ist.
Hört, hört: Der Chef eines Gefängnisses und der Chef einer Bank sind sich ähnlicher, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Das ist schon mal recht lustig, auch wenn die erzählerische Absicht für alle erkennbar ist.
Die Arbeit als andere Form von Gefangenschaft, mit ihren feindseligen Arbeitsbedingungen, nervtötenden Kollegen, überflüssigen "Teams"-Sitzungen und Chefs mit provinziellem Horizont, die sich aufspielen wie Gutsbesitzer vergangener Zeiten.
Romantik und Verbrechen
Es wird immer absurder. Irgendwann fällt uns auf, dass die Namen Morán und Román Anagramme sind. Und Norma ... auch! Ist das nur ein Verwirrspiel des Regisseurs oder hat das alles tiefere Bedeutung. Julio Cortázar - ein Argentinier – hat in seinem Roman "Rayuela" (1964) einst verschiedene Lese-Reihenfolgen vorgeschlagen.
Es könnte auch alles ein Traum gewesen sein, weil vielleicht nichts so ist, wie es scheint, und das einzige Schicksal der Figuren des klassischen Kinos im narrativen Rahmen des modernen Kinos nichts anderes ist als das des bloßen Verschwindens, wie bei Antonioni, wo sie plötzlich von der Erde verschluckt werden.
Wer so etwas befürchtet, den kann man trösten: "Los delincuentes" flirtet mit der Moderne, aber er bleibt am, Ende ein Film des klassischen Kinos. Immer wieder entfaltet Morenos Film erstaunliche, auch für die Anhänger des Postklassischen überraschende Seiten.
Das ist das Allerbeste an diesem Film: Seine mutige Bereitschaft, Erwartungen ständig zu brechen. Die unerhörte Intensität, die der Film von Anfang an entfaltet, und mit der er uns im Publikum geschlagene drei Stunden lang an unseren Sessel schraubt und die Zeit vergessen lässt, bleibt bis zum Ende bestehen.
Ein Bankräuber- und Geldraub-Plot trifft sich mit einer Doppelgängergeschichte, mit einem an Jean Renoir erinnernden humanen Realismus und mit Momenten sanfter Rohmer-Romantik. Das Ganze ist nicht lethargisch, sondern ruhig.
Die Midlife-Crisis moderner Männer
So wird aus einem Genre-Heist-Film ein Film über die Midlife-Crisis moderner Männer, über die Möglichkeiten, im neoliberalen Leben noch Handlungsfreiheit, Kreativität und Abenteuer zu finden. Und über den Ausbruch aus kapitalistischen Nutzungs- und Produktionsverhältnissen.
Spätestens am Ende dieses ausgezeichneten, sehr schönen Films, und es ist ein Happy End, wird klar, worum es dem Regisseur geht: um die Freiheit.