Zwischen Lockdown-Leugnern und Pandemie-Panikern

Seite 2: Über- und Untersterblichkeit

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Wie gesagt, im Jahr sterben bei uns ca. 960.000 Menschen, einfach, weil sie das Ende ihres Lebens erreicht haben. Die Zahl ist leicht zu ermitteln: 82 Mio Menschen geteilt durch ca. 82 Jahre Lebenserwartung wären ca. 1 Million. Ebenso viele Geburten müssten stattfinden, wenn die Bevölkerungszahl stabil bleiben soll, es sind allerdings nur ca. 760.000, das nur am Rande. Hinzu kommen aber die vielen Flüchtlinge, die im Schnitt "jünger" sind und die Sterbestatistik beeinflussen, deshalb versterben eben etwas weniger als die errechnete Million. Das ist unsere "normale" Sterbeziffer von ca. 1,2% pro Jahr.

Nun steigt diese Letalität im Winter immer etwas durch Grippewellen, im Sommer auch mal durch Hitzewellen, das ist eine sogenannte Übersterblichkeit. Wenn im Januar/Februar bei einer schweren Grippewelle wie 2017/18 z.B. 25.000 Menschen versterben, dann fällt das auf, weil die normale Zahl in 2 Monaten ca. 160.000 wären, die zusätzlichen 25.000 also ca. 16% oder 1/6 tel mehr sind, jeweils 7 statt 6 Menschen. Und das sieht man als kleinen Berg, wenn man die Statistik als Kurve abbildet. Aber nicht auf dem Friedhof, da fällt das nicht auf.

Dazwischen, also zwischen Grippe und Hitzewellen-Bergen muss die Letalität naturgemäß etwas geringer ausfallen, eine Untersterblichkeit, ein Tal in der Kurve, ein Abweichung vom Jahresmittel nach unten also. Aber Corona ginge weit über eine Grippewelle hinaus, mit ungebremstem Corona würde die Kurve buchstäblich durch die Decke gehen.

Tatsächlich muss man die Letalität (=wie viele Infizierte überleben es nicht) durch Covid-19 z.B. für Bergamo mit vermutlich 3,5% ansetzen, also höher als die obigen 2%, anders bekommt man in der Statistik die Eckpunkte nicht in Einklang mit den Zahlen (t1p.de/LBCS) - und das ist auch auf das überforderte Medizinwesen zurückzuführen. Verdichten Sie diese Zusatzletalität auf einen sehr kurzen Zeitraum, dann sehen Sie, und das war so in Bergamo, in der schlimmsten Woche nicht 4-5 Bestattungen sondern 40 und mehr - ein Matterhorn in der normalerweise flachen Hügelandschaft der Sterbefallkurve.

Die genannten Zahlen gelten für eine ungebremste Verbreitung von Corona ohne jede Gegenmaßnahme. Und Statistik ist bisweilen grausam. Jedem Epidemiologen und jedem Statistiker ist völlig klar, dass diese "Übersterblichkeit" in den nächsten Jahren ohne weitere Corona-Epidemie aufgrund der erreichten Herdenimmunität durch eine Untersterblichkeit "ausgeglichen" werden würde. Alle Risikopatienten, die aufgrund Covid-19 jetzt akut sterben mussten, sterben ja morgen und übermorgen nicht mehr.

Bergamo wird in den Monaten nach Ende der Epidmie nicht mehr 30 Bestattungen in der Woche erleben, sondern nur noch 20 oder weniger, denn in Bergamo sind bzw. waren schon gut ein Drittel der Bevölkerung infiziert, selbst in einer zweiten Welle könnten nicht sehr viel mehr als die ersten 1000 von 120.000 Einwohnern sterben. Aber wen tröstet das?

Dazu kommt, wie die Menschen sterben: einsam und allein. Zitat einer Krankenschwester aus New York:

Es ist furchtbar, dass die Menschen sterben" sagt sie. Aber schlimmer noch sei die Art, wie sie sterben. "Jeder hier stirbt alleine." Viele Verwandte wüssten nicht einmal, was mit ihren kranken Angehörigen passiere. Es gibt keinen Besuch, die meisten älteren Patienten könnten nicht einmal ein Smartphone bedienen, um ihre Familien auf dem Laufenden zu halten. "Es verfolgt mich", sagt Strickland mit brüchiger Stimme. "Kein Leben sollte auf diese Art enden müssen."

Focus

Und das würden die Menschen den Politikern nicht verzeihen - verständlicherweise.

Aber warum können Verharmloser wie Wodarg, der frühere Lungenfacharzt, und andere behaupten, die Panik sei völlig unangebracht, man sähe die Covid-19 Toten ja gar nicht in der Statistik? Tja, Mediziner und Statistik, ein weites Feld. Aber das gilt auch für Wirtschaftswissenschaftler wie Prof. Homburg, Direktor des Instituts für Öffentliche Finanzen(!) der Uni Hannover, der in der Welt massiv gegen den Lockdown wettert und den schwedischen Weg anpreist. Dazu später mehr.

Fehlendes "hermeneutisches" Verständnis für Statistik

Warum also? Weil manchen Menschen jedes "hermeneutische" Verständnis für Statistik fehlt, und das passiert auch Menschen, die mit Zahlen viel zu tun haben müssten - wie Professor Homburg. Sie haben offenbar die sehr menschliche Wahrnehmung von Zahlen nicht im Blick.

Ein Beispiel: Jedes Jahr sterben in Deutschland ca. 3000 Menschen bei Verkehrsunfällen, das sind über acht am Tag und ca. 60 in einer Woche. Was lesen wir davon in der Presse? Selten irgendetwas. Aber wenn weit entfernt, z.B. in Südamerika, ein Busunglück mit 30 Toten zu beklagen ist, dann steht das sogar in Ihrem Wochenblättchen und natürlich ganz oben in der Hauptstadtpresse.

In Deutschland sind es - umgerechnet - jedes Jahr praktisch 100 Busse mit 30 Insassen, die da tödlich verunglücken, jede Woche zwei, es müsste also zweimal jede Woche ein Aufschrei durch die nationale Presse gehen, dass schon wieder ein ganzer Bus ... tut es das? Nein. Weil wir den einen Unfalltoten in Buxtehude und den anderen in Rosenheim und den dritten in Magdeburg als Einzefälle gar nicht wahrnehmen. Wir Normalos, aber eben auch die Journalisten nicht, die uns in dieser Hinsicht völlig gleichen.

Evolutionär sind wir Menschen darauf ausgelegt, besondere Ereignisse extrem stark zu überzeichnen. Das ist oft nützlich, denn jede kleine Abweichung von der Norm besonders intensiv wahrzunehmen, schützt uns. Nur so konnten die chinesischen Ärzte eine ungewöhnliche Häufung schwerster Lungenentzündungen rein gefühlsmäßig wahrnehmen, denn die absoluten Zahlen - nur einige wenige binnen einiger Wochen - waren für eine 9-Millionen-Stadt, in der jede Woche für über 2000 Menschen das Leben endet, statistisch völlig unsichtbar. Jeder Statistiker würde das als unter "Rauschen" einordnen, 1% plus oder minus, da schlägt keine Statistik an.

Anders, wenn man nach dem "Wie" fragt: Lungenentzündungen sind als Todesursache nicht so häufig, das fällt den Ärztinnen schon eher auf, wenn es hier einer und dort noch einer ist. Es ergibt also evolutionär einen Sinn, dass wir es "übertreiben" mit der Wahrnehmung von Abweichungen, wir sind dadurch vorsichtiger, wachsamer - und das hilft uns zu überleben.

Wie aber können Wordarg et .al. die Zahlen so fehlinterpretieren? Ich mache mal ein Beispiel: Sie sind in einer Firma angestellt, die hat 100 Abteilungen mit je 10 Mitarbeitern, also 1000. Jetzt werden 3 Mitarbeiter Ihrer Abteilung schwer grippekrank und müssen zuhause bleiben, ein Ausfall von 30%. Merken Sie das? Aber hallo, Sie müssen ja für die mitarbeiten, und wie Sie das merken. Sie schlagen Gegenmaßnahmen vor. Aber da kommt der Oberstatistiker der Firma und sagt: Nein, das brauchen wir nicht, in den Arbeitszeitkurven ist nichts zu sehen, alles ganz normal im Fehlerbereich. Hat er recht? Jein.

Es sind momentan nur 3 Promille der Arbeitskraft (3 von 1000), das geht im statistischen Rauschen tatsächlich unter, aber die Aussage ist natürlich Quatsch. Denn wenn sich diese Grippe ausbreitet, dann sind es am Ende 300 von 1000 und dann sieht er das natürlich in seiner Statistik - leider viel zu spät. Der Chef hört zwar auf Sie, aber weil er den anderen Arbeitnehmern nicht richtig deutlich machen kann, welche Gefahr da droht, wird er die Gegenmaßnahmen (Handschlagverbot, Mundschutz, Kantine wird geschlossen etc.) nur Stück für Stück in Kraft setzen, nicht bevor sich nicht eine zweite und dritte Abteilung infiziert haben und dann jeder sehen kann, dass da wirklich etwas im Busch ist.

So ähnlich ist es mit Corona. Und mit Bergamo, wo es fürchterlich war, aber auf ganz Italien gerechnet, in der Übersterblichkeit in der Nationalstatistik nicht sichbar war, kaum einen Unterschied macht. Genau das hat Wodarg ja zum Kern seines Arguments gemacht: Was wollt Ihr mit den 1000 oder 2000 Toten, die beeinflussen die Sterblichkeitskurve ja viel weniger, als jede Grippewelle es tut. Richtig und doch grottenfalsch, weil nicht zu Ende gedacht.

Epidemiologen und Statistiker mit tiefem Blick sehen allerdings das Grauen im Potential einer solchen Seuche. Und können das den Politikerinnen auch vermitteln. Oder was glauben Sie, warum haben die Chinesen innerhalb kürzester Zeit eine 9-Millionen-Stadt praktisch stillgelegt? Sind die verrückt? Oder besonders humanistisch? Weder noch. Realistisch, könnte man sagen.

Man muss die gering erscheinenden Todeszahlen aus Wuhan nicht unbedingt "glauben", aber verglichen mit dem 9 mal größeren Deutschland sind sie weit weniger beeindruckend - etwa 3.000 mal 9 wären 27.000, davon sind wir heute (22.4.20) mit etwas über 5.000 Covid-19-Toten ja noch weit entfernt. Aber selbst 27.000 wären ja kaum mehr als die Grippetoten von 2017/18, da hat doch auch niemand Panik gemacht? Tja, aber mehr konnte diese schwere Grippewelle eben auch nicht anrichten, bevor die Saison zu Ende war. Das Potential von Corona sind aber die o.a. 2,4 Millionen - und die will niemand, ganz sicher nicht.

Was haben wir also: Hotspots, an denen wir ablesen können, wie virulent und wie tödlich die Seuche ist oder werden könnte. Virulent? R°=3,5, binnen 12 Wochen wäre das ganze Land durchseucht. Tödlich? Realistische 2%, kann man sehr gut vom Kreuzfahrtschiff "Diamond Princess" ablesen: 13 Tote auf 700 Infizierte = 1,8%. Geben Sie einen unerkannten, weil später Verstorbenen dazu, dann sind es genau 2%. In etwa die Zahl die man in Schweden verzeichnet. In Schweden? Ohne Lockdown? Oh nein, dort sind es heute laut worldometers.info bei 16.004 Infizierten schon 1.937 Sterbefälle: 12%. Woran man ablesen darf, dass die Schweden ganz sicher viel zu wenig testen und eine hohe Dunkelziffer haben.

Mehr als 2% kennen wir aus Situationen, in denen das Gesundheitswesen überfordert war, wie in der Lombardei, in Spanien, in Frankreich. Sicher auch durch zu wenige Tests und eine Unterschätzung der Zahl der Infizierten. Wir sind in Deutschland schon über 2%? Ja richtig, Stand 22.4.: 3,5%. Das liegt aber nicht an der Überforderung unserer Krankenstationen, die sind eher leer, sondern daran, dass auch bei uns die Zahl der Infizierten notwendigerweise zu klein sein muss, die der Toten zwar eventuell auch, aber weniger stark unterschätzt.

Da die Tests knapp und teuer sind, wird man nur unter bestimmten Voraussetzungen gestestet. Die erste sind Symptome - und die haben 50% der Menschen schon mal nicht. Die der Toten wird unterschätzt, weil die nur dann gezählt werden, wenn sie schon vorab als Corona-Positiv galten. Ein Verstorbener, der vorher nicht getestet war, was manchmal vorkommt, wird idR auch nicht mehr nachträglich getestet. Trotzdem: Die Zahl der Toten ist viel realistischer, als die der Infizierten und inklusive Dunkelziffer werden auch wir bei 2% landen.

Angefangen hatte es mit Quoten von 0,2% Mitte März - aber zwischen Infektion und Sterbefall liegen ca. 12 Tage. Die Quote bleibt solange falsch, wie sich die Zahl der Neu-Infizierten Tag für Tag erhöht und die der Toten 12 Tage hinterherhinkt. Und erst wenn diese Zahlen gleich bleiben, werden wir wissen, wie die Letalität wirklich ist. 2% +/- x erscheint aber durchaus realistisch. Und wie war das mit der Gangelt-Studie des Virologen Streeck? 0,37% wollte er ermittelt haben, weit entfernt von 2% oder gar 3,5%: "Die Letalität (case fatality rate) bezogen auf die Gesamtzahl der Infizierten in der Gemeinde Gangelt beträgt mit den vorläufigen Daten aus dieser Studie ca. 0,37 %."

7 Sterbefälle sind es gewesen in Gangelt. Um da auf eine Letalität von 0,37% zu kommen, müssten fast 1900 Personen infiziert gewesen sein, das folgt aus Streecks Studie. Realistischer klingt da die Aussage des Landrats, der 48 Kondolenzbriefe verschickt haben will bei offiziell knapp etwas über 1500 Infizierten im Landkreis, das ergibt ca. 3% Letalität. Diese Größenordnung kennen wir ja schon, auch wenn sie, wie überall, überschätzt ist, weil zu viele symptomlose Infizierte nicht getestet wurden.

Wie kam Streeck zu seiner Mini-Zahl? Zum einen könnte da ein Kommafehler vorliegen. Bei realistischen 3,7% kämen wir auf 190 Infizierte. Nimmt man die Zahlen des Landrats, wären es 230 Infizierte und 7 Tote. Aber wie kommt Streeck auf die 8-10-fache Anzahl Infizierter? Nun, es gibt tatsächlich auch "harmlose" Corona-Erkältungsviren, das musste auch ich lernen. Und die Tests auf Antikörper (das sind nicht die üblichen Tests des RKI auf eine aktive C-19-Infektion) könnten auch auf Antikörper solcher Viren angeschlagen und damit die Zahl der angeblich Corona-Positiven stark erhöht haben.

Also 2%+x: das Doppelte der normalen jährlichen Sterblichkeitsziffer, aber hier verdichtet auf wenige Wochen oder Monate und damit auch in der Wahrnehmung vervielfacht: Das war das Bild, das Politikerinnen vor Augen stehen musste. Und nun begründen Sie mal äußerste Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten mit den wenigen Toten, die es Anfang März gab - auch in Heinsberg waren es im ganzen Landkreis ja nicht mehr als 50. Auf 19 Millionen Einwohner Nordrhein-Westfalens eine Quantité negligeable, absolut unsichtbar.

Aber ohne die restriktiven Maßnahmen wäre Heinsberg überall, oder Mitterteich, Tirschenreuth, Ischgl, Mulhouse, Madrid, New York. Und überall und ohne Lockdown hieße: 2-3 Millionen Tote nur in Deutschland in einer Zeitspanne, in der sonst 250.000 sterben. No country for old men. Und ein Armageddon für Politker.