Zwischen Politik und Panikmache

Die rituellen Zusammenstöße mit der Polizei am 1. Mai in Berlin kommen vor allem Befürwortern von mehr Polizei und Überwachung zugute

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Selbst der unpolitischste Bewohner konnte dem Spektakel nicht entgehen. Schon am frühen Vormittag des 1. Mai kreisten gleich mehrere Hubschrauber von Polizei und Bundesgrenzschutz über den Hausdächern von Berlin. Mit einer massiven Polizeipräsenz von über 8.000 Beamten aus elf Bundesländern sollten die alljährlichen Krawallrituale am Abend des "Tages der Arbeit" in Berlin verhindert werden. Fraglich ist, ob die massive Präsenz von Polizisten in Kampfmontur schon Tage vor dem 1. Mai die Stimmung nicht erst entsprechend anheizte.

Foto: Harald Neuber

Die Berliner Mai-Krawalle haben Tradition. Zum ersten Mal kamen Autonome Gruppen 1987 im Stadtteil Kreuzberg zusammen. Weil sich ihre radikale Gesellschaftskritik kaum mehr mit den Reformforderungen der Gewerkschafter und Parteien vereinen ließ, riefen die Autonomen parallel zu den großen Demonstrationen in dem Jahr erstmals zum "Revolutionären 1. Mai" auf. Spätestens 1989 wurde diese Aktion weit über Berlin hinaus bekannt, als die Polizei nach stundenlangen Straßenschlachten die Flucht ergreifen musste. Seit Mitte der neunziger Jahre hat sich mit dem Bedeutungsverlust der autonomen Szene aber auch die Motivation der Teilnehmer an den "revolutionären Mai-Demonstrationen" verändert. Mit einer kaum verhohlenen Erwartungshaltung strömen in den letzten Jahren Jugendliche nach Kreuzberg, um sich ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei zu leisten. Wem aber nützt das Theater?

Eine Berliner Boulevardzeitung schrieb wenige Wochen vor dem Stichtag, "linke und rechte Chaoten" bereiteten sich in diesem Jahr "mit besonders fiesen Methoden" auf die gewaltsamen Auseinandersetzungen vor. Das neu gegründete linke Netzwerk Act! propagiere "unversöhnliche Standpunkte" und wolle "auf revolutionärem Wege die bestehende Gesellschaft überwinden". Die Sprecherin des Verfassungsschutzes brachte es auf den Punkt: "Sie wollen aneignen, enteignen und rebellieren."

Der Bericht passte in ein Schema, das in den vergangenen Jahren immer offensichtlicher wurde. Die Entpolitisierung der Proteste am 1. Mai wurde besonders in der rechten Presselandschaft freudig aufgegriffen, um die gesamte Berichterstattung einem wenig differenzierten Gewalt-Diskurs unterzuordnen. So wird am Tag nach den Protesten von der Berliner Morgenpost ein Straßenfest mit durchaus politischen Inhalten und sozialen Forderungen zu einem Fest gemacht, "mit dem 5000 Kreuzberger friedlich der jährlichen Gewalt begegnen wollten". Eine solche Berichterstattung liefert freilich die Steilvorlage für politische Akteure. Wenig verwunderlich ist daher das Urteil des CDU-Bundestagsabgeordneten Roland Gewalt wenige Stunden nach den Krawallen: "Der Bürger hatte wieder das Gefühl, von seiner Polizei wirkungsvoll geschützt zu werden." Polizei und Innensenator Körting machten das neue "Deeskalationskonzept" dafür verantwortlich, dass dieses Jahr die Ausschreitungen seien nicht so schlimm wie früher gewesen seien. 192 Polizisten wurden verletzt, 186 meist Jugendliche wurden festgenommen, über 50 mehr als im letzten Jahr: "Die Berliner Polizei hat die Gratwanderung zwischen besonnenem Auftreten und schnellem Durchgreifen hervorragend gemeistert", lobte Körting, der auch sagte, dass dieses Jahr erstmals das "Ritual der Gewalt" durchbrochen worden sei. Überdies wären vermehrt nicht politisch motivierte Straftäter in Erscheinung getreten.

Ebenso rituell wie die Zusammenstöße in der Nacht sind seit fast zwei Jahrzehnten die Forderungen am Folgetag, Polizei und Verfassungsschutz aufzurüsten. Und wo sonst außer in Berlin bekommt die Polizei alljährlich zu einem festen Termin die Möglichkeit, in Großmanövern mit Tausenden Beamten mitten in Wohngebieten neue Strategien zu erproben?

In Anbetracht dieser Entwicklung hatten linke Gruppen mit dem Act!-Bündnis gerade versucht, politische Inhalte wieder zu stärken. Mit der Kampagne Mai-Steine riefen im Vorfeld des 1. Mai zahlreiche Gruppen zu dezentralen Demonstrationen auf. Ein Beispiel ist die Aktion "Moma umsonst", die mit einem Besuch der New Yorker Kunstausstellung in der Neuen Nationalgalerie die Debatte über den Zugang zu Kulturveranstaltungen fördern wollte. In einem Bericht bei Indymedia wird das Ziel der Aktion mit einer stärkeren Bezugnahme auf soziale Bewegungen erklärt. Nach jahrelangen Grabenkämpfen sollten unterschiedliche Strömungen wieder zusammengebracht werden. Ob politische Inhalte so wieder in den Vordergrund gestellt werden können, wird sich zeigen. In diesem Jahr jedenfalls wurden die politischen Aktionen noch von den allerseits erwarteten Auseinandersetzungen überschattet.