Afghanistan: Zahl der schwerwiegenden Beschwerden über die Wahl verdoppelt

Der Vorsprung des Amtsinhabers wächst mit jeder Zwischenzählung; parallel dazu verdichten sich aber auch die Anzeichen dafür, dass die Wahl teilweise eine Farce war

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In dieser einen Hinsicht arbeitet die afghanische Wahlkommission Independent Election Comission (IEC) - der man nachsagt, dass auch sie mit der Regierung nahestehenden Männern bestückt ist - ordentlich und verläßlich: Alle paar Tage veröffentlicht sie den Zwischenstand der Auszählungen der Wahl vom 21.August und jedesmal rückt der amtierende Präsident Karsai der 50 Prozent-Marke, die ihm eine zweite Runde erspart, ein wenig näher. An diesem Wochenende sieht ihn das jüngste Teilergebnis mit beinahe 46% vorne. Sein aussichtsreichster Gegenkandidat, Abdullah Abdullah, fällt hingegen immer weiter zurück. Der Zwischenstand nach gezählten 47.8 % der Gesamtstimmen sieht ihn mit 33,3 Prozent ein gehöriges Stück hinter Karsai. Bei der ersten offiziellen Veröffentlichung war der Abstand zwischen den beiden Kandidaten sehr viel kleiner.

Größer wird zugleich auch das Misstrauen, was die Gültigkeit der Wahlen angeht. Parallel zu den regelmäßigen Veröffentlichungen des IEC berichtet die von der UN eingesetzte Wahlbeschwerdekommission ( Electoral Complaints Commission) von einer wachsenden Zahl eingegangener Beschwerden. Laut neuesten Informationen der New York Times hat sich die Anzahl der schwerwiegenden Vorwürfe von Wahlmanipulationen "plötzlich verdoppelt": Sie ist von 270 auf 550 angestiegen; die Gesamtzahl der Beschwerden liegt derzeit bei 2000. Damit steigen auch die Chancen dafür, dass die Wahlergebnisse möglicherweise nicht anerkannt würden. Schon jetzt zeigt sich, dass die Rede vom Erfolg der Wahlen in Afghanistan voreilig war.

In den US-Medien wird seit Tagen über immer neue Fälle von "Unzulänglichkeiten" und Betrügereien in größerem Ausmaß berichtet. Dabei kommt u.a. ans Licht, dass die diesjährigen Wahlen hinter den Standards der letzten Wahlen, der Präsidentschaftswahl 2004 und der Parlamentswahlen im Jahr 2005, zurückbleiben. Das zeige sich insbesonders auch bei den Frauen, die diesmal viel weniger zur Wahl gingen als zuvor - aus Furcht, so die Washington Post, die einen deutlichen Rückwärtstrend beobachtet.

Dass das afghanische System der Clan- und Gruppen-Netzwerke auch die Stimmabgabe beherrscht, wird immer wieder als ein stark retardierendes Moment für den afghanischen "Fortschritt Richtung Demokratie" hervorgehoben. Doch das Ausmaß der Korruption und die Impertinenz der Macht, die in der konkreten Praxis der Wahlmanipulation offen auftritt, führen vor Augen, dass die Wahlen wohl nicht nur ein teilweiser Misserfolg, charakterisiert durch "einige Unzulänglichkeiten", sondern zum Teil eine regelrechte Farce war.

So berichtet die New York Times in ihrer heutigen Ausgabe von einem als Wahlhelfer eingesetzten Lehrer in der Region Kabul, der, als er am Morgen seine Arbeit im Wahllokal antrat, bereits gefüllte Wahlurnen vorfand. Als er dies ansprach, mit dem Hinweis, dass man ihm in der Ausbildung gesagt habe, die Urnen sollten zu Beginn der Stimmabgabe leer sein, wurde er von den Schergen des ortsansässigen starken Mannes kurzerhand gefangen gesetzt. Nach Angaben der Zeitung sind die Manipulationen eines wichtigen Stammesrepräsentanten, genannt "Crazy Tarakhel", im Gürtel um Kabul derart umfassend, dass die dort erzielten Stimmengewinne Karsais im Grunde auf Betrug basieren. Ein Reporter der Londoner Times bekräftigt die Vorwürfe: Er sei eine Stunde nach Öffnung in einem Wahllokal in der Nähe Kabuls gewesen und habe dort abgelesen, dass bereits über 5.000 Stimmen abgegeben wurden. Das Wahllokal war leer.