Atomkraft: Hartnäckige Falschmeldungen
Nicht nur in Deutschland ist das Ende der Atomkraft-Ära längst eingeläutet – und in der Mehrzahl der Länder hat sie nie begonnen
Es wird mal wieder über die Atomkraft gestritten. Der Grund: Im Rahmen einer neuen "Taxonomie", also der EU-weit verbindlichen Einordnung bestimmter Technologien für Fragen der staatlichen Förderung, sollen Atomkraftwerke das Etikett „nachhaltig“ aufgeklebt bekommen. Erdgaskraftwerke und -infrastruktur auch, aber das ist eine andere Frage. Schon Anfang Januar könnte über beides endgültig entschieden werden.
Für einige Journalistinnen und Journalisten ist das mal wieder Gelegenheit, altbekannte Erzählungen der Lobbyisten wiederzukäuen. Zum Beispiel RTL: "Viele europäische Nationen folgen nicht dem deutschen Weg", ist dort zu erfahren.
Ist dem tatsächlich so, oder war da nur mal wieder jemand zu bequem, vernünftig zu recherchieren und hat einfach oft gehörte und gelesene Ressentiments reproduziert? Beschränken wir uns auf die 27 EU-Mitglieder.
Davon betreiben Spanien (7), Deutschland (6, ab Januar 3), Frankreich (57), Belgien (7), die Niederlande (1), Schweden (6), Finnland (4), die Slowakei (4), die Tschechische Republik (6), Slowenien (1), Ungarn (4), Rumänien (2) und Bulgarien (2) Atomkraftwerke. In Klammern jeweils die Anzahl der Reaktoren.
Das sind 12 von 27 Ländern und ab dem 31. Januar 2022, wenn in Deutschland die letzten drei AKW vom Netz gehen, werden es nur noch elf von 27 EU-Mitgliedern sein. Eindeutig eine Minderheit, und zwar eine schrumpfende Minderheit.
Es hat nämlich nicht nur Deutschland einen Ausstiegsbeschluss, sondern zum Beispiel auch Belgien. Die Kollegen von RTL mögen es zwar als Land anführen, in dem es anders laufe, weil es die eine oder andere Diskussion in der Regierung gibt.
Noch gilt beim Nachbarn aber das gesetzlich fixierte Ausstiegsdatum 2025. Telepolis hat über den besorgniserregenden Zustand der dortigen AKW wiederholt berichtet und da es auch dort jede Menge denkende Menschen und eine rege Umweltschutzbewegung gibt, ist nicht anzunehmen, dass die Laufzeit der altersschwachen Meiler mit ihren zum Teil von zahllosen Haarrissen durchzogenen Druckbehältern noch einmal verlängert wird.
Frei von AKW dank Volksabstimmungen
In Dänemark hat ansonsten eine Volksabstimmung den geplanten Bau von Atomkraftwerken verhindert. Das Land wurde in der Folge ein Pionier im Bau und Betrieb von Windkraftanlagen und beherbergt mit Vestas den Weltmarktführer auf diesem Gebiet. Auch die Windsparte von Siemens schaffte den Vorstoß in die Spitzengruppe erst mit dem Aufkauf eines anderen dänischen Herstellers.
Auch Österreich und Italien sind dank Volksabstimmungen frei von AKW. In Österreich wurde das einzige je dort gebaute nie in Betrieb genommen; in Italien hatte 2011 die rechtsradikale Regierung unter Silvio Berlusconi ein zweites Referendum einberufen, um wieder AKW bauen zu können.
Allerdings kam ihr seinerzeit die dreifache Reaktor-Havarie im japanischen Fukushima dazwischen, sodass sich über 94 Prozent der Wählerinnen und Wähler dafür aussprachen, am Ausstieg aus der Atomkraft nicht zu rütteln.
In Bulgarien gab es hingegen 2013 eine deutliche Mehrheit für den Bau eines neuen AKW. Allerdings wurde seither kein Spatenstich getan. Das könnte auch daran liegen, dass die beiden AKW-Baustellen in der EU in Frankreich und Finnland mit ihren jahrelangen Verzögerungen kein gutes Beispiel abgeben.
Erfolgreiche Abstimmungen gegen Atomkraft gab es übrigens auch außerhalb Europas. Auf Taiwan entschied sich zum Beispiel erst im August 2021 eine knappe Mehrheit gegen die Inbetriebnahme eines neuen Reaktors.