Sündenbock China
Konservative und Liberale möchten lieber über chinesische Labore als über die Arbeitsbedingungen deutscher Pflegekräfte reden
CDU und FDP springen offenbar auf den Propagandazug gegen China auf. Wie unter anderem die Augsburger Allgemeine berichtet, fordern Sprecher beider Parteien eine unabhängige Untersuchung in der zentralchinesischen Metropole. CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt möchte gar "internationale Hygienestandards" in China durchsetzen.
Bescheidenheit scheint nicht zu seinen herausragenden Eigenschaften zu gehören, diplomatisches Fingerspitzengefühl auch nicht. (Und vielleicht sollte er mit den Hygienestandards auch ohnehin lieber in deutschen Schultoiletten beginnen.)
Wie berichtet ist in den USA ein Handbuch aufgetaucht, in dem republikanischen Politikern und nahestehenden Journalisten detaillierte Ratschläge gegeben werden, wie China in der Corona-Krise und in den kommenden Wahlkämpfen zum Sündenbock gemacht werden kann. US-Präsident Trump hat damit bereits seit einigen Wochen angefangen und beharrt unter anderem darauf, von einem "China-Virus" zu sprechen.
Offensichtlich ist es auch für hiesige Politiker attraktiv, sich an dem Haltet-den-Dieb-Spiel zu beteiligen. Denn so lange über Labore in Wuhan gesprochen wird, muss man nicht darüber reden, weshalb man sich kein Beispiel an Südkorea, Hongkong oder Taiwan genommen hat, die die Krise schnell in den Griff bekamen und die Zahl der Todesfälle wesentlich niedriger als Deutschland halten konnten.
Oder man muss nicht erklären, weshalb ein Industrieland wie Deutschland nicht rechtzeitig für Schutzkleidung und Masken sorgen konnte, weshalb stattdessen die Bevölkerung monatelang über deren Schutzwirkung gründlich fehlinformiert und verwirrt wurde.
Und man muss nicht diskutieren, weshalb Krankenschwestern und -pfleger jetzt 60 Stunden und mehr in der Woche arbeiten müssen, obwohl bekannt ist, dass das extrem gesundheitsgefährdend ist.
Immerhin, so heißt es bei der Gewerkschaft ver.di, gibt es rund 200.000 examinierte Pflegekräfte, die nicht in ihrem Beruf arbeiten. Wieso wird nicht versucht, denen mit besserer Bezahlung und Arbeitsbedingungen einen Wiedereinstieg schmackhaft zu machen?
In Großbritannien ist derweil am Mittwoch die Zahl der Corona-Todesfälle massiv nach oben korrigiert worden. 3811 in Pflegeheimen Gestorbene wurden nachgemeldet. Damit belief sich die offizielle Gesamtzahl am Donnerstag auf 26.771.
Als Mitte April Wuhan seine Zahlen korrigierte und 1290 zusätzlich Verstorbene meldete, fand Bundesaußenminister Heiko Maas dies, wie berichtet, "besorgniserregend", stellte die Transparenz der chinesischen Berichterstattung in Frage und erteilte Ratschläge zur Änderung kultureller Gewohnheiten.
Ähnliche Botschaften an die Adresse Londons sind bisher nicht bekannt und wohl auch eher unwahrscheinlich. Schließlich weiß wohl jeder, welcher politische Schaden damit in Europa angerichtet werden kann.
Nur merkwürdig, dass Politiker des Exportweltmeisters Deutschland glauben, mit der zweitgrößten Wirtschaftsmacht des Globus, einem Land, von dem der Weg aus der globalen Rezession abhängen wird, einem Land, das in der Vergangenheit unter deutschen Kolonialtruppen zu leiden hatte, ohne dass es dafür je eine Entschuldigung oder gar Reparationen gegeben hätte, anders umspringen zu können.