Und die Sozialdemokratie danach?

Auf den Klassenstandpunkt kommt es an - ein vorauseilender Kommentar

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Die Polit-Zockerei der schwarz-roten und schwarz-gelben Ära seit 2008 hat sich erstaunlich lange als kluger Pragmatismus verkaufen können. Heute hängen die letzten Fassadenreste von Vertrauenswürdigkeit nur noch an Bindfäden. Wenn die Schere "Schnippschnapp" macht, stehen die verantwortlichen Politikdienstleister mit neoliberaler Konfession aber wohl kaum nackt da. Wir dürfen sicher sein, dass Mitbürger wie Gerhard Schröder, Wolfgang Clement, Angela Merkel, Joschka Fischer, Frank-Walter Steinmeier oder Peer Steinbrück vorgesorgt haben. Für noch orthodoxere Wirtschaftsliberale der Seitenränge, die ihren pekuniären Sachverstand in der privaten Daseinsvorsorge nicht zeitig genug umgesetzt haben, finden sich in letzter Minute bestimmt noch einige lebenslang dotierte Beamtenstellen im ehemaligen Entwicklungshilfeministerium.

Natürlich wird die Kanzlerin, die man derzeit im Ausland mit wirklich sehr hässlichen Anspielungen auf die deutsche Geschichte karikiert, am Tag X als Oberzockerin die geeignete "Sündenziege" abgeben. Die älteste Partei des Landes ist dann wunderbar aus dem Schneider. Ihre Plakate klebende Basis, die sich zum großen Teil aus Leuten ohne Immobilienbesitz und sonstige Sicherheiten zusammensetzt, wird man damit trösten, dass die eigenen Parteifunktionäre alles ganz anders und besser gemacht hätten. Wer es möchte, weiß, dass dies mit der "Wahrheit" natürlich kaum zusammengereimt werden kann.

Aber wird man das auch sagen, wenn es zur Wegbahnung für ein neues Denken dringend notwendig ist? Die letzten 5 Jahre geben nichts her, was in dieser Sache optimistisch stimmt. Für mich gehört das Drama der Sozialdemokratie zu den bedrückendsten Gegenwartserscheinungen. Es handelt sich um ein Drama von historischen Ausmaßen ...

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Zeitgenössische Darstellung zu den "Gründern der Sozialdemokratie" im 19. Jahrhundert: August Bebel, Wilhelm Liebknecht - Karl Marx - Carl Wilhelm Tölcke, Ferdinand Lassalle. Bild: gemeinfrei

Meine aktuelle Gutenacht-Lektüre ist ein Werk zur regionalen Parteigeschichte des SPD-Bezirks Westliches Westfalen: "Sozialdemokratie im Wandel" (Essen 2001). Besorgt habe ich mir das Buch eigentlich wegen meines unheilbaren Lokalpatriotismus. Carl Wilhelm Tölcke (1817-1893), der "Vater der westfälischen Sozialdemokratie", ist in meinem Heimatdorf geboren, als es kaum zwanzig Häuser zählte. Eine zeitgenössische Ahnentafel der Arbeiterbewegung zeigt ihn an der Seite von Marx, Liebknecht, Bebel und Lassalle.

Besonders hoch in Ehren gehalten wird das Andenken dieses "rothen Unverbesserlichen" im Geburtsort allerdings nicht, obwohl er dort einst als protestantisches Beamtenkind dem aufgeklärten katholischen Dorfpfarrer am Altar gedient hat. Tölcke war ein hartnäckiger 1848er, kampflustig bis zum Äußersten, ein Anwalt der proletarischen Demokratie und ein Gräuel für bürgerliche "Antisemiten und christliche Mucker".

Das von Arno Herzig geschriebene erste Kapitel der regionalen SPD-Parteigeschichte im westlichen Westfalen bis 1893 zeichnet jene mühevolle Basis-Agitation nach, die unter Arbeitern "die Klassengegensätze verdeutlichen" sollte und eine Gegenkultur zu den Festbanketten der bürgerlichen oder adeligen Reichen hervorgebracht hat. Die geheime Leitüberschrift lautet: "Auf den Klassenstandpunkt kommt es an!"

"Klassenbewusstsein" und "Klassenstandpunkt", solch antiquierte Losungen finden man in den späten Kapiteln der westfälischen Parteigeschichte freilich nicht mehr. Sehr aufschlussreich ist gegen Ende der Darstellung die Doppelseite 312 und 313. Abgebildet sind ein Plakat "Macht und Moral" als Einladung zu einer Veranstaltung der Historischen Kommission des SPD-Bezirks am 27. März 1999 und – auf der rechten Hälfte – ein Foto des (damaligen) SPD-Ministerpräsidenten Wolfgang Clement. Im Fließtext liest man: "In den 1990er Jahren gefährdeten sozioökonomische, generationelle und mentale Wandlungen in der Wählerschaft […] die Mobilisierungsfähigkeit der SPD." Das Problem dieser Jahre lag also auf Seiten der Wählerschaft (!) und nicht etwa darin, dass die Sozialdemokratie die von ihr stets hochgehaltene Trias der Französischen Revolution um die zweite und dritte Parole beschnitten hätte.

Option für die Armen

Die klassische Arbeiterklasse ist tot, es lebe die SPD. Vielleicht hätte man zeitig die alte Tradition des Klassenstandpunkts in eine neue Form bringen sollen, die auch unter gewandelten ökonomischen Verhältnissen und im Rahmen postideologischer Diskurse plausibel ist? Es handelt sich beim "Klassenstandpunkt" ja um eine äußerst vernünftige Begrifflichkeit, sofern man u.a. auch die Dienstleister der im Kapitalismus jeweils herrschenden Gewinnerseite richtig einordnet.

Wer auf dem Globus zu jener Milliarde Menschen gehört, die akut Hunger leidet, sieht die Weltwirtschafts-"Ordnung" eben mit anderen Augen als der durchschnittliche Europäer. Wer als Geringverdiener für die SPD Plakate klebt, wird die Verhältnisse hierzulande anders beurteilen als jene Genossen der Schröder-Ära, deren Parteikarriere vor allem mit einer privaten Finanz-Lebensplanung verknüpft ist. Ein sozialdemokratischer Gewerkschafter mit hochdotiertem Aufsichtsratsposten hat natürlich einen anderen ökonomischen Standpunkt als ein "Hartz-IV-Empfänger" oder ein prekärer Freiberufler. Auch das gehört zu den Erkenntnisgewinnen der Aufklärung: Es kommt nicht nur auf die funktionierende Gehirnmasse an, sondern ganz entscheidend auch darauf, WER jeweils mit welchen Augen die Weltgeschichte betrachtet.

Falls der Begriff "Klassenstandpunkt" heute zu traditionell klingt, müsste die gute Sache am Namen nicht scheitern. Die lateinamerikanischen Befreiungstheologen sprechen von einer "Option für die Armen". Die SPD wäre heute schon gut bedient, wenn sie sich zu einer kompromisslosen Option für die kleinen und ganz kleinen Leute durchringen könnte. Ohne Abschied von jenen Funktionären, die sich seit Jahren einer Religionskritik des "Neoliberalismus" verweigern, wird ihr das allerdings kaum gelingen.

Ein gutes sozialdemokratisches Gewissen ist natürlich schon billiger zu haben, etwa durch Voten für etwas höhere Spitzensteuersätze (etwa so wie vor Schröder) und für eine "Transaktionssteuer light". Wer sich auf diesem Niveau bewegt, sollte allerdings am Tag X nicht sagen, er hätte angesichts der Krise ja schon immer für eine durchgreifende Systemveränderung votiert. Seit 2008 sind nun schon einige Jahre ins Land gegangen. Die Armut wird auf den Straßen noch sichtbarer, und gleichzeitig machen phantastische Reichtumsmeldungen die Runde. Vor welchem Forum werden sich die Untätigen und die Unbelehrbaren eigentlich verantworten müssen? Vor einem Parteigericht? Vor der Geschichte?

P.S. Die schlimmsten Feinde des Menschengeschlechts bleiben selbstredend die Kommunisten. Die wollten schon seit jeher dem kleinen Mann die Kuh im Stall klauen. Diese Gleichmacher können auch heute noch nicht kapieren, dass man durchaus mehr als drei Eigenheime bewohnen, mehr als drei eigene Swimming-Poole beschwimmen, mehr als drei Privatköche mit der häuslichen Nahrungszubereitung beschäftigen und mehr als drei Automobile für die persönliche Fortbewegung nutzen kann.

Wie gut, dass solche Klassenkämpfer und ihre Sympathisanten - im Gegensatz zu den Sozialdemokraten des 19. Jahrhunderts - derzeit wenig Sinn für die zentrale politische Bedeutung einer Gegenkultur-Kompetenz aufbringen. Wo kämen wir hin, wenn der Widerstand gegen ein System der "Konkurrenz von Mensch gegen Mensch" mit einer erlebbaren Abschaffung des Konkurrenzprinzips in den eigenen Reihen verbunden wäre?