Unruhen in Stockholms Vorstädten
Auslöser ist die Erschießung eines 69-Jährigen durch die Polizei
Gleich drei Nächte hintereinander brannten in Stockholms Vororten Autos. Hunderte Jugendliche und junge Erwachsene waren nach Medienberichten nachts auf der Straße, eintreffende Fahrzeuge der Polizei oder der Feuerwehr wurden mit einem Hagel aus Steinen beworfen. Zu den Zielen der Angreifer gehörte eine Polizeiwache in dem Stockholmer Stadtteil Jakobsberg. Beschädigt wurden auch zwei Schulen und ein Kulturzentrum im Stockholmer Vorort Husby. Dort geschah auch der Vorfall, der zum Auslöser der Proteste wurde.
Dort war ein 69-jähriger Mann von der Polizei erschossen worden, weil er von seinem Balkon mit einem Messer gedroht haben soll. Ein Einsatzkommando war darauf in die Wohnung eingedrungen und hatte den 69-Jährigen angeblich in Notwehr erschossen. Zunächst behauptete die Polizei, der Angeschossene sei sofort von der Ambulanz in ein Krankenhaus gebracht worden. Diese Version konnte durch Nachbarn und Augenzeugen schnell widerlegt werden: Es kam nie eine Ambulanz und der Mann wurde erst mehrere Stunden nach dem Eindringen des Sondereinsatzkommandos in seine Wohnung tot herausgebracht. Diese offensichtliche polizeiliche Falschdarstellung verstärkte bei der migrantischen Bevölkerung in den Stockholmer Vororten die Wut.
Ist Rassismus das Problem?
Auch in den größeren Medien wurde die Frage gestellt, ob rassistisches Polizeiverhalten für den Tod des Mannes verantwortlich ist.
"Ein mit einem Messer bewaffneter 69-jähriger 'Karl-Erik' in einem Villenvorort hätte eine einfache Polizeistreife auf den Plan gerufen. Derselbe 69-jährige 'Ahmed' in Husby ist durch eine schwerbewaffnete Spezialeinsatzgruppe gleich vorbeugend hingerichtet worden", erklärte ein Aktivist der Organisation Megafonen. Sie ist in den letzten Monaten als Sprachrohr migrantischer Jugendlicher aufgetreten, die mit betont unideologischen Lösungsansätzen in den Stadtteilen für Aufmerksamkeit sorgte.
Wegen ihrer selbstbewussten Vertretung migrantischer Interessen wurde die Organisation von rechten Kräften wie den Schwedendemokraten angefeindet. Schwedische Linke hingegen blickten skeptisch auf das Agieren von Megafonen wegen deren Pragmatismus. Die jüngsten Unruhen dürften zur Aufwertung der Organisation beitragen.
Schließlich handelt es sich um eine der wenigen, die noch die Stimme der migrantischen Jugend in der schwedischen Öffentlichkeit vernehmbar vertreten. In Frankreich, wo es in den Vororten vieler Großstädte in unregelmäßigen Abständen auch zu Unruhen kommt - meist ist auch hier der Auslöser Polizeibrutalität -, gibt es solche Organisationen oft nicht mehr. Wo aber keine Interessenvertretung der subalternen Gruppen mehr zu finden ist, werden deren Artikulationsformen als sinnlose Gewalt wahrgenommen und entsprechend sanktioniert. So ist es wohl vor allem Megafonen zu verdanken, dass nach den Stockholmer Unruhen auch in schwedischen Medien von Polizeibrutalität gesprochen wird und dass berichtet wurde, dass migrantische Bewohner, die vermitteln wollten, von der Polizei als Affen, Ratten und Neger beschimpft worden seien.
"Husby wurde in den letzten Jahren in Stich gelassen"
Aber auch die sozialen Ursachen der Revolte kommen in den schwedischen Medien zur Sprache. So hieß es im sozialdemokratischen Aftonbladet: "Husby wurde in den letzten Jahren in Stich gelassen." In der linken schwedischen Zeitung Internationalen wurde von der verlorenen Hoffnung einer ganzen Generation gesprochen, die sich durch die Revolte artikuliert.
Hintergrund der Unruhen ist eine Sozialpolitik der Mitte-Rechts-Regierung, deren Kennzeichen Steuererleichterungen für die Vermögenden gepaart mit Sozialkürzungen ist, die einkommensarme Menschen empfindlich treffen. Mittlerweile gehört Schweden laut einem OECD-Bericht zu den westlichen Industrieländern, mit den am stärksten wachsenden Einkommensunterschieden. Weil die Sozialpolitik der schwedischen Mitte-Rechts-Regierung im Kern in vielen europäischen Ländern praktiziert wird, könnte man auch sagen, dass die Unruhen von Stockholm möglicherweise einen Blick in die Zukunft Europas bieten.