Was heißt hier "system change"?

Greta Thunberg war am vergangenen Donnerstag mit Luisa Neubauer Gast bei der Kanzlerin Angela Merkel. Archivbild (September 2019, Montréal): Lëa-Kim Châteauneuf/ CC BY-SA 4.0

Bundeskanzlerin trifft sich mit jungen Klimaschützerinnen, aber die taz vermisst "tragfähige Konzepte". Ein Kommentar

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Dass die Frankfurter FAZ am Donnerstag nach dem Gespräch der Bundeskanzlerin mit Greta Thunberg, Luisa Neubauer, Anuna De Wever van der Heyden und Adélaïde Charliér (beide aus Belgien) lästern muss, war zu erwarten. Natürlich durfte nicht der Hinweis fehlen, dass man sich "zur besten Schulzeit" traf.

Überraschen kann lediglich das Maß an Demagogie, das das Zentralorgan des deutschen Konservatismus aufzubieten hat: Man lässt Thunbergs Mitstreiterinnen unerwähnt, beschwert sich, dass diese zur "Jeanne d’Arc des Klimaschutzes" erhoben würde – wozu man mit der auf sie fokussierten Berichterstattung seinen Beitrag leistet –, und beschwert sich, dass damit "zahllose Fachleute sowie das demokratische Prinzip" brüskiert würden.

Welche Fachleute der FAZ-Kommentator wohl meinen könnte? Klimawissenschaftler werden es jedenfalls nicht sein, denn die haben sich mit von mehreren Zehntausenden unterzeichneten Appellen hinter die Jugendbewegung Fridays for Future gestellt und demonstrieren auch gelegentlich mit. Für die FAZ – das ist jene Zeitung, die meint, ihr Leser hätten ein Recht darauf zu bestehen, wie ein Deutscher ihrer Meinung nach auszusehen habe – ist das der "eher schlichte Populismus der Straße".

Und welches demokratische Prinzip mag brüskiert werden? Wenn sich die Bundeskanzlerin mit jungen, engagierten Frauen trifft, die ein zentrales, die ganze Menschheit betreffendes Anliegen umtreibt, dann ist das undemokratisch?

In Ordnung ist es hingegen, wenn sich die Kanzlerin mit den Spitzen der Automobilindustrie oder auch RWEs trifft, wenn sie, wie 2006 im Rheinland geschehen, trotz der 1992 unterschriebenen Klimaschutzverträge und der seinerzeit bereits mehr als 20 Jahre alten Warnungen der Wissenschaftler vor Klimaveränderungen zur Grundsteinlegung neuer Braunkohlekraftwerke anreist?

Merkel willig?

Etwas anders die Reaktion bei der Berliner taz. Eine wohlmeinende Kommentatorin erblickt viel Einigkeit zwischen den jungen Frauen und der Kanzlerin. Auch Angela Merkel wolle verhindern, dass sich die Erde unerträglich erhitze, wisse bloß nicht wie. Greta Thunberg könne ihr das aber auch nicht sagen, sondern maskiere ihre Ratlosigkeit mit Radikalität.

Das ist nun ebenfalls eine sehr eigenwillige Interpretation des Treffens. Zunächst fragt sich, wann und wo die Autorin den guten Willen der Kanzlerin ausgemacht haben könnte? 1995 in Berlin, als die frischgebackene Umweltministerin als Gastgeberin und Konferenzchefin keinen Finger rührte, um auf der ersten Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention das dringend nötige Protokoll für weitere Klimaschutzmaßnahmen auszuhandeln?

2006 im rheinländischen Neurath, wo sie RWEs neue Braunkohlekraftwerke über den Klee lobte? 2009, als sie auf der UN-Konferenz in Kopenhagen gemeinsam mit Nobelpreisträger Obama das Kyoto-Protokoll beerdigte, während ihre politischen Freunde auf den Straßen vor dem Konferenzzentrum die jugendlichen Demonstranten zusammenknüppeln ließen?

2010, als sie gemeinsam mit der FDP entgegen den Warnungen der Wind- und Solarbranche die Laufzeiten der AKW bis weit in die 2030er Jahre hinein ausdehnte und dies dann auch noch Energierevolution nannte?

2011, als sie diesen Beschluss aufgrund des Unmuts in der Bevölkerung nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima wieder zurücknehmen musste, aber gleichzeitig mit drastischen Einschnitten bei der Vergütung den Solarausbau abwürgte und der deutschen Solarindustrie das Genick brach?

Oder dachte die Autorin vielleicht an den Bundestagswahlkampf 2017, in dem Merkel sich, zwar nur auf Nachfrage und ein wenig verhuscht, zum seit 2006 geltenden Klimaschutzziel für 2020 bekannte, nur um dies anschließend in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD aufzugeben?

Keine Konzepte?

Wie dem auch sei, den jungen Klimaschützerinnen vorzuwerfen, sie hätten Merkel keinen Plan präsentiert, wie die in der Pariser Klimaübereinkunft eingegangenen Verpflichtungen erfüllt werden können, ist jedenfalls originell. Der Vertrag ist vor fünf Jahren unterschrieben worden, da könnte man sich im Kanzleramt schon den einen oder anderen Gedanken gemacht haben, wie der – leider ziemlich unverbindliche – Vertrag umzusetzen wäre.

Und es ist ja nicht so, dass die groben Linien nicht schon seit etlichen Jahrzehnten diskutiert würden. Dänemark hat zum, Beispiel schon Mitte der 1990er Jahre den Bau von Großkraftwerken verboten, deren Abwärme nicht weitgehend genutzt werden kann. Und dass es mit dem motorisierten Individualverkehr nicht ewig so weiter gehen kann, wurde bereits in den 1980er Jahren diskutiert. Dass die Ölreserven endlich sind, schon in den 1970er Jahren.

Wahr ist vielmehr, dass die Lösungen seit langem auf dem Tisch liegen, dass Konzepte für das Umstellen der Energieversorgung – auch für Heizen und Verkehr – auf 100 Prozent erneuerbare Energieträger ganze Regalmeter füllen.

Es liegt nicht an fehlenden Konzepten, weshalb die Bahn in den vergangenen Jahrzehnten teilprivatisiert und eingeschrumpft wurde, weshalb sie ihr Geld in megalomanischen Bahnhofsprojekten verbrennt.

Es liegt nicht an fehlenden Konzepten, wenn Sonne und Wind zu Gunsten von Kohlekraftwerken ausgebremst werden, oder wenn die deutsche Automobilindustrie sich lieber mit ausgefeiltem Betrug als mit der Zukunft einer Ressourcen schonenden Mobilität beschäftigt.

Sondern es liegt – neben einem gerüttelten Maß an Strukturkonservatismus in männerbündischen Konzernetagen – an knallharten wirtschaftlichen Interessen. Mit der fossilen Wirtschaft lässt sich halt immer noch ziemlich viel Geld verdienen, weshalb nicht nur Automobil- und Energiekonzerne sondern auch der Bundesverband der Deutschen Industrie sich gegen den Wandel sperren wo es nur geht.

Kohlekraftwerke mögen zwar im Augenblick keinen Gewinn mehr abwerfen, aber dass könnte sich ändern, sobald in den nächsten beiden Jahren die letzten AKW abgeschaltet werden. Außerdem lässt sich zwischenzeitlich mancher Taler mit dem Handel mit Emissionsrechten verdienen, nachdem fleißiges Lobbying dafür gesorgt hat, dass die Zertifikate nicht verfallen.

So konnte RWE in den Jahren, in denen die Preise meist deutlich unter 10 Euro lagen sich günstig eindecken. Schließlich sorgt auch noch das neue Kohleausstiegsgesetz im Zusammenhang mit den Verträgen dafür, dass der Weiterbetrieb der Anlagen Garant für üppigste Subventionen, pardon, Entschädigungen wird.

Gemeinnutz statt Gewinnorientierung

Die taz-Autorin vermisst bei der 17-jährigen Thunberg, dass ihre Forderung nach einem "neuen System" zu unkonkret bleibe. Auch der Rest der Gesellschaft habe keine Vorstellung, wo der Zug hingehen müsste. Der Klimaschutz komme nicht voran, weil es an einem tragfähigen Konzept fehle.

Doch diese Diagnose geht am Problem vorbei. Vielen Menschen und nicht zuletzt Ökonomen und Naturwissenschaftlern, die sich nicht vom herrschenden Mainstream des Neoliberalismus haben einfangen lassen, ist seit langem, seit sehr langem klar, dass ewiges Wachstum ein Ding der Unmöglichkeit ist und unweigerlich zu dramatischer Verknappung der Ressourcen und Zerstörung der Umwelt führen muss.

Die Crux ist allerdings, dass unser ganzes Steuer-, Finanz- und Wirtschaftssystem auf Wachstum aufbaut. Obwohl wir in einer Welt des Überflusses leben – aus der einerseits viele mit offener oder verdeckter Gewalt ausgeschlossen bleiben, während andererseits im unfassbaren Ausmaß verschwendet wird – muss immer mehr produziert, müssen Autos immer schwerer, Waren immer weiter transportiert werden, weil schon bei Stillstand der Gewinn, der Ursprung unseres ökonomischen Koordinatensystems, in Gefahr gerät.

Güter werden in diesem System nur hergestellt, sofern sie sich verkaufen lassen, also zu Waren werden. Wer kein Geld hat, wird nicht versorgt, wird aus der Wohnung geworfen, dem wird der Strom abgestellt, der muss sich bei Tafeln Essen besorgen oder verhungert, wenn er das Pech hat in einem Land wie dem Jemen zu leben, das gerade mit deutschen Waffen verwüstet wird.

Von dieser Warenform und der Gewinnorientierung müssen wir offensichtlich weg kommen, soll der Planet nicht in den kommenden Jahrzehnten zur Hölle für die Mehrheit von uns werden. Dass in der Gesundheitsversorgung Gewinn nichts zu suchen und Krankenhäuser in öffentliche Hand gehören, haben durch die Corona-Krise viele inzwischen verstanden. Ähnliches liegt auch für Entwicklung und Vertrieb von Impfstoffen und Medikamenten auf der Hand.

Doch auch in anderen Bereichen wird derlei schon lange diskutiert. Gemeinnützige lokale Energieversorger, natürlich demokratisch kontrolliert, wären ein Baustein für das der taz-Autorin fehlende Konzept, ebensolche Verkehrsbetriebe ein anderer. Das Übertragungsnetz müsste wie in Dänemark eine öffentlich-rechtlichen Non-profit-Gesellschaft übernehmen und die Wiederverstaatlichung der Bahn gehört natürlich ebenfalls auf die To-do-Liste.

Und für die Autoindustrie wäre das Mindeste, was an Gegenleistung für die üppigen Beihilfen aus der Arbeitslosenversicherung einzufordern wäre, dass diese bis auf Weiteres keine Dividenden mehr ausschüttet, die Managementgehälter auf 200.000 Euro pro Jahr deckelt, die 30-Stunden-Woche einführt, den Bau von SUV ein- und die Produktion auf die Bedürfnisse des ÖPNV umstellt.