Verdächtige nationale Identität

Einwanderungsminister Eric Besson lanciert eine große Debatte darüber, was es heißt, Franzose zu sein

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In Deutschland würde man das die große Nabelschau nennen: in Frankreich ist seit gestern die "große Debatte über die nationale Identität" eröffnet. Initiator ist der Minister für Einwanderung, Integration und eben nationale Identität, Eric Besson. Es ginge darum, "die Werte der nationalen Identität und den Stolz, Franzose zu sein, neu zu bestätigen", kündigte der Minister an. Auf der eigens für den Grand Debat geschaffenen Website äußert Besson erste Vorschläge zur Aufwertung der nationalen Identität: So könnte er sich vorstellen, dass die jungen Franzosen - nach einer pädogischen Sitzung zu diesem Thema - "mindestens einmal im Jahr, die Nationalhymne singen". Zum anderen könnte ein für alle offener Staatsbürgerunterricht in den Präfekturen der Departements eingerichtet werden.

Die große Debatte, die gleichermaßen in den Präfekturen wie im Internet lanciert wird, soll bis Ende Januar nächsten Jahres dauern. Am 4. Februar gibt es dann ein Abschlusskolloquium, in dem eine Art Synthese der Diskussionen angestrebt wird. Anderthalb Monate später finden die Regionalwahlen statt. Kritiker der Debatte argwöhnen, dass die Debatte der Regierung dazu dient, Wähler im rechten Milieu zu fischen.

So argumentiert etwa der Historiker Régis Meyran, Autor des Buches "Mythe de l'identité nationale", damit, dass der Ausdruck "nationale Identität" verdächtig sei und eng mit der Ideologie rechter Gruppen verbunden. Schließlich sei der Ausdruck auch in 1980er Jahren von Jean-Marie LePen eingeführt worden. Auch die Präsidentin der Christlich-Demokratischen Partei (die der Regierungspartei UMP angeschlossen ist), Christine Boutin, warnt davor, dass die Debatte riskant sein könnte, angesichts der anstehenden Wahlen könnten sich Diskussionen entwickeln, "vor denen wir uns fürchten".

Bei der Front National unter Leitung der Le Pen- Tochter Marine freut man sich entsprechend über die Debatte, die man lange schon als notwendig propagiert habe - angesichts "deutlicher Zeichen, die täglich daran gemahnen würden, dass die sozialen und patriotischen Verbindungen das Land in Gefahr größter Unordnung bringen". Die Gefahr kommt wie immer von Muslimen und den "Theoretikern des laisser-aller".

So bekommen zumindest auf den ersten Anschein jene Kritiker recht, die der Debatte eine politische Instrumentalisierung unterstellen, Wahlkampfabsichten und eine gewisse Naivität. Brilliant hält der ehemalige Premierminister Michel Rocard dagegen, weshalb er die große Debatte für dumm hält: "Die Idee, dass die nationale Identität nicht selbstverständlich ist und dass man es für angebracht hält, darüber zu diskutieren, verblüfft mich, denn die Logik der Herstellung Frankreichs zerstört sich selbst, wenn man sie abschließen will."

Man dürfe die Identität nicht abschließen und sie Härtegraden aussetzen, wie Le Pen dies möchte. Allein dass sich die Menschenrechtserklärung der Revolutionäre nach Abschaffung der absoluten Monarchie an alle Menschen richte, nicht nur an die französischen Citoyens, zeige schon die Grundorientierung an, das Offene, In-steter-Bewegung-Bleibende, das für ihn zur nationalen Identität gehört. Man dürfe hier keine Grenzen setzen, wo keine sein dürften. Nur das Gespräch über nationale Identität selbst könne davon überzeugen, dass es eine Substanz gebe, etwas qualitativ Anderes, Zusätzliches , dass die voneinander unterscheide, die Franzosen sind, und jene, die das nicht sind, "aber trotzdem in unserem Land leben". Hierin liege eindeutig das Risiko der Debatte.

Während es noch nicht sicher ist, wie sich die amtliche Debatte in den Repräsentationsräumen der 96 Departements entwickelt, trifft sie im Internet auf lebhaftes Interesse. Unter Rocards Ausführungen stehen 100 Kommentare, der Libération-Artikel zum Auftakt der Debatte wird zur Stunde von über sortBy-lastCommented:page-1:target-1237383#1237383: 660 Kommentaren begleitet. Auch die offizielle Site bringt es mittlerweile über 41 Seiten Kommentare.

Unübersichtlichkeit ist also garantiert, fraglich bleibt, ob die Diskussion neue Erkenntnisse eröffnen kann. Gespannt sein könnte man darauf, ob es gelingt, dem FN das Antwort-Monopol auf bestimmte Fragen zu nehmen - mit neuen Ansätzen ohne Klischees, die nicht das Problem ( Video) leugnen, das sich beispielsweise durch die Absperrung bestimmter Straßen in Paris für Anwohner tatsächlich stellt, wenn sich dort freitäglich Muslime im 18.Arrondissement versammeln.