Ein humanitärer Korridor für Flüchtlinge

"Wo war Frontex am Donnerstag morgen?" - Lampedusa: Die europäischen Reaktionen auf die Tragödie

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Wird der Schock über die Flüchtlingstragödie vor Lampedusa etwas an der Grenzpolitik der EU ändern (Der Papst: "Eine Schande für Europa")? 25.000 Flüchtlinge sind in den letzten 20 Jahren im Mittelmeer zwischen Afrika und europäischen Küsten ums Leben gekommen, so die Schätzung der französischen Grünen-Abgeordneten im europäischen Parlament, Hélène Flautre.

Zitiert wird ihre Zahl von französischen Magazin Médiapart. Dessen Kommentar zum Drama statuiert, dass die EU die Mittel hätte, um auf die Flüchtlinge anders als mit rigoros durchgesetzter Abwehr zu reagieren, aber die Mitgliedstaaten würden es vorziehen, sich an die öffentliche Meinung zu wenden, die durch die Wirtschaftskrise und deren soziale Folgen "geschwächt" seien und "verängstigt".

Die Angst sei Hauptadresse der politischen Bekundungen; neue Vorschläge kämen nicht. Als weiteres Beispiel für das Muster des systematisch harten Umgangs mit Flüchtlingen, der eine hilflose Politik zum Hintergrund hat, wird der aktuelle Konflikt der französischen Behörden mit syrischen Kriegsflüchtlingen in Calais angeführt.

Unmenschliche Normen und Frontex

Die Fernsehbilder aus Lampedusa mit den Toten erzeugen für kurze Zeit Aufmerksamkeit, die dem Problem sonst nicht zuteil wird. Das Drama werde wie üblich bald vergessen, sorgt sich die Bürgermeisterin von Lampedusa, Giusi Nicolini.

Sie tritt konkret für eine Veränderung der Gesetze ein, die es den zivilen italienischen Helfern nicht gestatteten, mit ihren Booten rauszufahren, um die Gekenterten zu retten. "Die Regierung muss diese unmenschlichen Normen ändern", wird Nicolini wiedergegeben.

Kritik gibt es auch an der Funktion von Frontex. "Wo war Frontex am Donnerstag morgen?", fragt der Gouverneur der Region Sizilien, Rosario Crocetta.

Die Schaffung eines humanitären Korridors

Der italienische Regierungschef Enrico Letta schlägt die Schaffung eines noch unbestimmten "humanitären Korridors" vor, um die Migranten zu schützen. Wie dieser Korridor konkret aussehen könnte, darüber sollte der europäische Rat zusammenkommen, möglichst bald, so Letta. Europa sollte den "Grad der Intervention steigern".

Dass dies nicht unbedingt auf eine Öffnung der Abdichtungen hinauslaufen muss, erklärt der deutschen Öffentlichkeit heute Innenminister Hans-Peter Friedrich in der Welt am Sonntag. Friedrich hält den Vorwurf, dass sich Europa zu sehr abschotte, für falsch.

"Schleusungskriminalität bekämpfen"

Was sich daran zeige, dass Deutschland "in diesem Jahr schon annähernd 80.000 Menschen Zuflucht gewährt" habe. Zudem hätten gemeinsame, europäischen Grenzpolizeieinsätze in den vergangenen zwei Jahren fast 40.000 Menschen aus Seenot gerettet. Den Schwerpunkt seiner Reaktion auf den Schock von Lampedusa legt auf er, wie gewohnt, auf Bekämpfung. Im Interview sagt er:

"Fest steht, dass wir noch stärker die Netzwerke organisierter und ausbeuterischer Schleusungskriminalität bekämpfen müssen." Die Schleuserverbrecher seien es, "die die Menschen mit falschen Versprechungen in Lebensgefahr bringen und oftmals in den Tod führen".

Der "Frühwarn- und Krisenbewältigungsmechanismus" müsse ausgebaut werden, so Friedrich.

Keine politische Lösung

Mitleid genüge nicht, wird der französische Premierminister Jean-Marc Ayrault in Deutschland zitiert. Eine konkrete Vorstellung darüber, wie eine andere Politik aussehen könnte, hat Ayrault nicht. Das ist auch aus französischen Veröffentlichungen herauszulesen.

Dort wird der Regierungschef als "sehr bewegt" von der Tragödie dargestellt, der von Mitleid und Solidarität spricht und "jenseits der Bekundungen" dazu drängt, dass sich europäische Spitzenvertreter möglichst bald treffen, um sich mit dieser besonders dramatischen Situation zu beschäftigen.

Die Revision des Schengener Abkommens

Dagegen hat es nicht lange gedauert, bis Jean-François Copé, Vorsitzender der Oppositionspartei UMP, zur Zeit durch die steigenden Umfragewerte des rechten Front National noch umtriebiger, eine Idee aus der Schublade holte, mit der sein politischer Freund, Ex-Präsident Sarkozy, schon einmal den Rechten das Wasser in der Flüchtlingsfrage abgraben wollte: die Revision des Schengener Abkommens.

Angesichts der Toten von Lampedusa zog Copé vom Leder. Die Reform des Schengener Abkommens habe jetzt erste Priorität.

Nach seiner Darstellung, die die Wirklichkeit europäischer Grenzsicherung völlig außer Acht lässt, stelle sich Europa für Millionen Männer und Frauen in der ganzen Welt als Kontinent dar, der nach allen Seiten offen für Flüchtlingsströme sei mit Grenzen als bloße Durchgangsstationen. Dies führe unweigerlich zu einer Mafia, die die Flüchtlinge ausbeuten und bereit seien, alles zu versuchen, um europäischen Boden zu erreichen. Dem "Lagebericht" folgt ein beifallheischender Angriff auf Griechenland:

Gewisse Länder, wie Griechenland, fühlen sich nicht betroffen, weil sie wissen, dass die Personen, die in Griechenland ankommen, dort nicht bleiben wollen (…). Wir müssen die Länder, die die äußeren Grenzen von Europa, trotz ihrer Verpflichtung dazu, nicht richtig kontrollieren, bestrafen und sogar auschließen.

"Italien muss es schaffen, in Europa Gehör und Verbündete zu finden", so Regierungschef Enrico Letta gegenüber der Nachrichtenagentur Ansa. Copé ist auf diesem Ohr taub. Und er ist damit nicht der einzige.