"Waldmensch" ohne Stromanschluss muss doch keine Rundfunkgebühr zahlen

ARD und ZDF wollten Geld von einem neoprimitiven Sektengründer - der bot an, mit Falläpfeln zu zahlen

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Nachdem das heutige Tansania 1885 deutsche Kolonie wurde, wollten es die Verwalter in eine Gebiet verwandeln, in dem profitable Exportgüter angebaut und geerntet werden. Dazu brauchte man billige Arbeitskräfte, die es nicht in genügender Zahl gab, weil die Einheimischen es vorzogen, auf ihrem eigenen Land Subsistenzwirtschaft zu betreiben. Dieses Problem versuchte man zu lösen, indem man 1898 eine Hüttensteuer einführte, die einem damaligen Runderlass zufolge " die farbige Bevölkerung zur Arbeit […] erziehen" sollte.

Gestern sah es so aus, als ob die 2013 in Deutschland eingeführte Rundfunk-Haushaltspauschale ebenfalls eine "Hüttensteuer" ist, die nicht nur Hausbesitzer bezahlen müssen: Diesen Rundfunkbeitrag sollte nämlich auch der Theologe Jürgen Wagner begleichen, der nach eigenen Angaben in Jurten und Erdlöchern nicht nur ohne Fernseh- und Radiogeräte, sondern auch ohne Strom lebt. Aussteiger aus seiner "Schenker"-Sekte warfen Wagner allerdings vor, dass er in Wirklichkeit gar nicht in seinen Jurten und Erdhöhlen, sondern in bequemen Betten übernachtet. Außerdem soll die Sekte Anhänger ausbeuten und sie dazu anleiten, teure Scheinmietverträge zu unterzeichnen, damit sie mehr Geld aus den Sozialkassen bekommen.

Der "Waldmensch"bestreitet diese Vorwürfe und ernährt sich nach eigenen Angaben nur von dem, was im Wald wächst, und was ihm andere Leute schenken. Mit dieser Ideologie hat er eine Sekte gegründet, die er und seine Anhänger die "Schenker" nennen. Kontakt mit Massenmedien hat Wagner allerdings trotz seiner Strom- und Geräteabstinenz - und zwar immer dann, wenn ein Fernsehteam bei ihn vorbeikommt und ihn für eine der zahlreichen Freak Shows filmt.

"Öff Öff", wie sich der infantile Fünfzigjährige selbst nennt, bot dem "Beitragsservice" von ARD und ZDF an, eine Rechnung über 196 Euro mit Falläpfeln zu bezahlen, die man dort jedoch nicht akzeptierte. Nachdem sich der durch ungewöhnliche Werbespots bekannte Dresdner Rechtsanwalt Frank Hannig in den Fall einschaltete, um eine Erzwingungshaft für Wagner zu verhindern, meldete der Beitragsservice den Theologen nach eigenen Angaben wieder ab. Als Begründung dafür gibt man an, dass der Sektengründer wahrscheinlich durch einen Dritten über ein Online-Formular angemeldet worden und nicht behördlich gemeldet sei. Deshalb, so der Beitragsservice gegenüber Telepolis, müsse Wagner auch die geforderten 196 Euro nicht bezahlen. [Update: Der Beitragsservice legt Wert auf die Feststellung, dass die Rücknahme angeblich nur aufgrund einer "internen Prüfung" und nicht wegen Hannig erfolgte].

Selbstdarstellung von Sektengründer Wagner

Gegenüber anderen Personen, die ebenfalls nicht behördlich gemeldet waren, zeigte man sich in der Vergangenheit weniger erbittlich: Eine Münchnerin, die sich 2005 ordentlich nach Graz ummeldete, erhielt nach ihrer Rückkehr eine Gebührenrechnung über 1588,05 Euro - obwohl ihr Fernsehgerät sieben Jahre lang in Österreich stand und obwohl sie dort ordnungsgemäß Rundfunkgebühren für ihn bezahlte. Trotz Einschaltung eines Anwalts bestand der Beitragsservice auf eine Ratenzahlung der deutschen Rundfunkgebühren aus den Jahren 2005 bis 2009, weil §4 Absatz 2 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags regelt, dass man sich nicht nur bei der Meldebehörde, sondern auch bei der GEZ-Nachfolgestelle gesondert abmelden muss.

Auch ein Bremer, der nach einer ehelichen Auseinandersetzung seine Wohnung verlor und über ein Jahr lang auf der Straße lebte, musste später zweieinhalb Jahre lang 340,60 Euro in monatlichen Raten von 15 Euro abstottern.

Solche Fälle weisen auf ein Systemproblem hin, das der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland mit der privaten Krankenversicherung gemeinsam hat: In beiden Bereichen werden die Beiträge nicht nach dem Einkommen berechnet. Bei der Rundfunkgebühr soll eine Befreiungsmöglichkeit besonders negative Auswirkungen theoretisch abschwächen. In der Praxis wird diese Möglichkeit allerdings so bürokratisch gehandhabt, dass nur derjenige davon profitiert, der als Bafög- oder klassischer Hartz-IV-Empfänger keine Schwierigkeiten hat, die nötigen amtlichen Dokumente zusammenzubekommen. Alle anderen (zum Beispiel gering verdienende Freiberufler) stehen vor einem aufwendigen Hürdenlauf durch Ämter - mit ungewisser Dauer und ungewissem Ergebnis.

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