"In einem Konzentrationslager ist das nun mal so"

Angeklagter im Lüneburger Auschwitz-Prozess sieht sich nur als pflichtbewusstes "Rädchen im Getriebe"

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Oskar Gröning ist fast 94 Jahre alt. Beheimatet im beschaulichen niedersächsischen Nienburg/Weser lebte er ein ebenso beschauliches Leben als Personalchef einer Glasfabrik und ehrenamtlicher Richter am dortigen Amtsgericht. Aber es gab ein Leben vor diesem beschaulichen Leben, eines als Mitglied der NSDAP und der SS, eines als "Sonderbeauftragter" der SS im Konzentrationslager Auschwitz, wo er über das den inhaftierten und ermordeten KZ-Insassen aus aller Welt geraubte Hab und Gut penibel Buch führte, und es bisweilen in den Tresor des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes (WVHA) in Berlin schaffte. Für dieses Leben steht er nun in Lüneburg vor Gericht. Der Vorwurf: Beihilfe zu 300.000fachem Mord! Im Juli soll das Urteil verkündet werden.

Nein, persönlich gemordet hat Oskar Gröning vermutlich nicht. Aber er hat zugesehen und aktiv daran mitgewirkt, dass die Rädchen in Getriebe der Menschenvernichtungs-Fabrik Auschwitz nicht außer Takt kamen. Was er da sah und erlebte, hat ihm nicht alles gefallen, aber "in einem Konzentrationslager ist das nun mal so", zitiert ihn der Spiegel. Wat mut dat mut.

Und es muss ja schließlich alles seine Ordnung haben. Deshalb, so berichtet er freimütig vor Gericht, wurde in Auschwitz Birkenau auch darauf geachtet, dass bei Ankunft der mit Todeskandidaten überfüllten Waggons alles ruhig und gesittet zuging und sie hübsch der Reihe nach "versorgt" wurden. Für die meisten Betroffenen bedeutete dieses "versorgt" werden, dass sie umstandslos ins Gas geschickt wurden.

Davon ahnten diese allerdings nichts, denn die Ankommenden wurden u.a. mit einem Orchester begrüßt. Die Musikerinnen und Musiker spielten dabei um ihr Leben: Hinter ihnen standen schwer bewaffnete SS-Wachmänner, die alle gnadenlos erschossen hätten, die sich zu spielen geweigert hätten.

Am Bahnsteig stand auch oftmals Gröning. Seine Aufgabe war es dann, die Koffer und Bündel der Inhaftierten zu bewachen, bevor diese zur Kommissionierung ins Lager transportiert wurden. Da fing sein eigentlicher Job dann an: Er sortierte das Diebesgut, dividierte z.B. die unterschiedlichen Währungen auseinander, führte darüber genauestens Buch, was ihm den Beinamen "Buchhalter vom Auschwitz" einbrachte, und manchmal durfte er die Beute persönlich nach Berlin ins Hauptquartier bringen.

Dass er dafür niemals belangt wurde, ist nicht einmal seine Schuld. Im Gegensatz zu vielen anderen, die unerkannt untertauchten und im Ausland oder unter falschem Namen ihre ebenfalls beschaulichen Leben führten, hat Gröning seine Vergangenheit nicht verleugnet. Er wurde sogar in den Nachkriegsjahren in einem Prozess als Zeuge vernommen.

Mitte der 1980er wandte er sich schriftlich an Thies Christophersen, Verfasser der Broschüre "Die Auschwitzlüge", um dem Holocaust-Leugner mitzuteilen, dass er, Gröning, das, was Christophersen als "Lüge" bezeichne, mit eigenen Augen gesehen habe.

1985 gab es ein Verfahren gegen ihn, in dem er ebenfalls seine Mitwirkung nicht leugnete. Aber genau das ist der springende Punkt: Mitwirkung war seinerzeit noch nicht strafbar. Erst seit 2011 ist es möglich, die Mitläufer wegen Beihilfe zu verklagen. Im Falle Grönings wegen Beihilfe zu 300.000-fachem Mord.

Die Gaskammern in Auschwitz arbeiteten 2 Jahre und 10 Monate. Es gibt keine genauen Angaben darüber, wie viele Gefangene in Auschwitz tatsächlich ums Leben gekommen sind, die Schätzungen schwanken zwischen einer und vier Millionen Toten. Das liegt daran, dass die von treuen Beamtenseelen wie Gröning akribisch geführten schriftlichen Nachweise über das Ausmaß der Massenexekutionen verbrannt wurden, als die Rote Armee Ende 1944 vorrückte. Donata Czech, langjährige Leiterin der KZ Gedenkstätte Auschwitz, vermutete allerdings, dass diese Aufzeichnungen sowieso nicht vollständig waren, da die Täter schneller Menschen ermordeten, als sie Akten führen konnten, wie sie sagte. Ihre Zahlenangaben beruhen auf Augenzeugenberichten, Gerichtsakten und Todeslisten, die widerständige Häftlinge heimlich führten und versteckten.

Aber unabhängig von den genauen Zahlen ist Auschwitz zum Synonym für die fabrikmäßige Vernichtung menschlichen Lebens geworden. Esther Bejarano, die als junge Frau an der Rampe, wo Gröning die Koffer der dem Tod Geweihten bewachte, als Mitglied des Frauenorchesters von Auschwitz um ihr Leben spielte, zufolge ist Auschwitz "der größte Friedhof der Welt."