Tötung "lebensunwerten" Lebens?

Einspruch gegen die Grundlagen der Ethik von Peter Singer

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Der Neurochirurg und Medizinethiker Detlef Linke sollte mit Peter Singer auf dem Kongreß über "Fundamentalismus und Beliebigkeit in Wissenschaft und Therapie" über seine Vorstellungen zur Euthansie diskutieren. Weil Singer aus Angst vor Gewalttätigkeiten wieder ausgeladen wurde, nimmt auch Linke nicht an der Veranstaltung. Dafür hat er für Telepolis einen Beitrag geschrieben, in dem er erläutert, warum er Singers Thesen für gefährlich hält.

Detlef Linke

Die Grundzüge der Ethik von Peter Singer werden von Florian Rötzer dargestellt.

Die Zukunft des Körpers ist Beitrag über die Veränderung des Körperbildes durch die Möglichkeiten der Biotechnologien und die Virtualisierung des Leibes im Cyberspace.

Peter Singer hebt in seinen bioethischen Theorien die Grenze zwischen Tier und Mensch auf. Unter dem Motto "Befreiung der Tiere" hat er eine Bioethik entwickelt, in welcher die Grenze der Spezies Mensch keine Bedeutung haben soll. Manchem mag dies als "entartete" Ethik erscheinen.

Diese Grenzauflösung muß jedoch noch nicht von vornherein von Übel sein. Es gibt viele gute Gründe, die Rücksichtnahme der Menschen untereinander auch auf die Tiere auszudehnen. Traditionell hat es dafür auch einen großen europäischen Vorläufer gegeben, nämlich Franz von Assisi, der die Liebe auch auf die Tiere erstrecken wollte. Die Probleme beginnen im wesentlichen dann, wenn die Extension der Fürsorge auf die Tiere zu einer Minderung der Fürsorge für die Menschen führt.

Für solch ein Manöver Rechtfertigungen zu geben, kann von vielen Menschen zu Recht als Bedrohung empfunden werden. In diesem Sinne ist die "Singer-Debatte" schlechthin, auch wenn die Argumente zugunsten möglicherweise betroffener Menschen geführt wird, von vornherein eine Belastung für manche Menschen. Dabei geht es nicht so sehr um die Frage einer narzißtischen Kränkung des Menschen hinsichtlich seines Speziesismus, sondern vielmehr darum, daß bestimmte Gruppen der Menschen ausgegliedert werden könnten. Singer versucht zu beschwichtigen und betont, daß diejenigen, die gegen ihn protestierten, für eine Euthanasie (!) ja gar nicht in Frage kämen. Diejenigen, die in erster Linie zur Tötung anstünden, wenn die Gesellschaft kein Interesse an ihnen hätte und wenn sie keine Potentialität zu einem glücklichen Leben besäßen, würden ja als Getötete nicht unter den Kritikern sitzen können. So jedenfalls kann der Satz, wer kritisiert, soll ja gar nicht getötet werden, in seine zynische Version umgeformt werden: Wer getötet worden ist, kritisiert nicht.

Dies erinnert fatal an Zeugenbeseitigung und den Versuch, Teilnehmer an einer Bewegung zu gewinnen, mit dem Argument, wer teilnimmt, dem geschieht nichts. Die zynische Umkehrung des Satzes, wer kritisiert, gehört per se nicht in die Kategorie der zu Tötenden, ist von Singer in dieser Art nicht vorgesehen. Faktisch ergibt sich jedoch aus den Kriterien für die Bestimmung der Menschengruppe ohne Lebensrecht, daß sie mit der Gruppe derjenigen, die mit der Umkehrung des Satzes beschrieben sind, eine große Deckungsgleichheit aufweist: Es sind die Säuglinge, die bis zur vierten Lebenswoche nach Singer kein Lebensrecht haben und der Widerworte unfähig, im Falle mangelnden Interesses der Eltern und anderer möglicher Pflegepersonen und bei schlecht einzuschätzender Lebensglücksprognose, nicht am Leben gehalten werden müssen.

Hinter Singers bioethischen Prinzipien steht eine Vision des friedlichen Miteinanders von Mensch und Tier, gleichsam eine Paradiesvision, die jedoch die Kindestötung mit einschließen will. Die Operation des Einreißens der Grenze zwischen Mensch und Tier wird, wenn sie um sich greift, sicherlich unsere Reserviertheit gegenüber genetischen Mensch-Tier-Hybridbildungen und Chimärenbildungen ohne andauernde Grundlage lassen. Es sieht so aus, als ob diese Grenzeinreißung auch von erheblichem Nachteil für die Jüngsten unter den Menschen sein wird.

Ob die Tiere durch die begrifflich-gedanklichen Operationen einen Vorteil erlangen werden, steht auf einem ganz anderen Blatt. Man kann auch nicht einfach ohne weiteres sagen, daß es sich hier um das rationale Äquivalent einer christlichen Liebesethik handelt, da Singer bei vielen Stellen eine Reflexionsstufe zuwenig einsetzt, um als genügend rational zu erscheinen. Abgesehen davon, hätte Assisi für sein Leitkonzept die Kindestötung auch nicht in Kauf genommen.

Ich will Singer keine bösen Absichten unterstellen. Im Gegenteil, fragwürdige Entwicklungen ergeben sich sicher gerade aus dem Versuch, etwas zu verbessern oder zu sichern. Insofern kann man in dem Versuch, den Speziesismus aufzulösen, auch den Versuch sehen wollen, einem möglichen Rassismus jegliche Grundlage zu nehmen. Wenn es schon keine Artengrenzen gibt, dann ist die Aufrichtung von Rassengrenzen natürlich erst recht unsinnig. Singer kann es jedoch nicht vermeiden, bei diesen Operationen eine Art neuer Gruppenidentität zu schaffen, auch wenn dies nach rechnerischen Prinzipien der Glücksmaximierung beispielsweise unter Berücksichtigung von Mehrheitsregeln erfolgen soll.

Aber Singer strickt an einem neuen Speziesismus, der nicht biologischer, sondern bioethischer Art ist, nämlich einen Intellektspeziesismus. Natürlich gehört es zur Lebenspraxis, daß Photographen einen leichteren Zugang zu Bildern, Banker einen leichteren Zugang zu Finanzspekulationen und Schwestern einen leichteren Zugang zu Medikamenten haben. Wenn Bioethiker einen leichteren Zugang zu sie schützenden Regeln haben, mag das auch zur Lebenspraxis gehören, müßte nach ihren eigenen Idealen aber auch explizit gemacht und geprüft werden.

Meine Kritik richtet sich nicht gegen eine wie auch immer geartete Rationalität bei Singer, sondern gegen den Mechanismus, der sie auch in diesem Falle wieder in erster Linie um sich selber kümmern läßt. Sicherlich bleibt, wenn man die Speziesgrenzen aufgibt, das Überlebensinteresse ein wesentlicher Orientierungspunkt für die Ethik. Wenn man jedoch keinen Personenbegriff benutzt, sondern vom Interesse, Bewußtsein und Selbstbewußtsein ausgeht und das Interesse an der eigenen Zukunft für die Ethik für entscheidend hält, dann darf man nicht darüber hinwegsehen, daß Patienten mit einer Amnesie nach einer Schädel-Hirn-Verletzung oder auch mit einer Altersdemenz durch Singers Ethik in akute Gefahr geraten. Hier wuchert ein Begriffssystem, das auch den zeitweise suizidgefährdeten oder gar den melancholischen Literaten in Gefahr bringen könnte. Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Interesse sind sekundär gegenüber der Persönlichkeit. Die Umkehrung dieser Relation könnte eine Tötungsorgie freisetzen.

Was ist ursprünglicher, das Tötungsverbot oder die Vernunft? Zur Zeit besteht hinsichtlich des Tötungverbotes ein weitgehender Konsens, ja Zurückschaudern gegenüber dem Gedanken des Tötens. Man muß allerdings dazu sagen, daß der Gedanke des Tötens aus diesem Grunde auch oft in verkleideter Gestalt, z.B. unter dem Begriff der "Therapie", zur Beseitigung von Leiden auftritt. Singer ist kein Machiavelli, der seine Absichten verschleiern würde, aber er rechnet Töten zur Therapie.

Existenz und Individualität gelten für Singer wesentlich weniger als das Interesse. Ein Säugling, der kein Lebensrecht hat, hat für ihn wohl noch das Recht der Schmerzbeseitigung. Diese Schmerzbeseitigung darf bei ihm allerdings auch so vorgenommen werden, daß die Existenz ausgelöscht wird. Die Begriffe Identität und Existenz sind verloren gegangen und der Personenbegriff hat seine primäre Bedeutung verloren. Hier wird sehr viel aufgegeben, was bisher eine Sicherungsfunktion im ethischen Bereich hatte, und es ist keineswegs ersichtlich, daß mit den neuen Begriffen in das System bessere Absicherungen eingeführt werden.

Singers Rationalismus weist zwar auch Züge jenes Gruppenbildungscharakters auf, die vielen Rationalismen eigen sind, letzen Endes gelangt jedoch zu wenig in die rationale Reflexion, so auch der Einfluß seiner Theorien auf die Glücksfindung des Menschen selber.

Theorien über das Glück beeinflussen das Glück selber, dies wurde nicht nur von den kognitiven Theorien der Emotionen heraus gearbeitet. Singers Diskurs, der einige Dinge auf verletzende Weise expliziert, zeigt noch keinen Ansatz der Reflexion darüber, inwieweit er in dem Versuch der Glückserzeugung glückszerstörerisch ist.

Auch hinsichtlich des Faktums des Tötens bewegt er sich nicht auf dem Niveau mancher rationaler Denker. Wenn er darauf hinweist, daß das Töten von Kindern in machen Kulturen ohne Schaden für die Beziehung der Eltern mit den verbliebenen Kindern abläuft, dann findet man bei ihm keine Äußerung darüber, daß es sich dabei um gewachsene Mechanismen handelt, die nicht einfach von der Rationalität nachgeahmt werden können. Hier muß auf das Werk von Ernst Cassirer hingewiesen werden, der das Unkontrollierbare des Nationalsozialismus gerade darin sah, daß er eine rationale Verwendung des Mythos durchzuführen glaubte.

Meiner Meinung nach ist die Frage eines Dammbruches bei der Kindstötung aber falsch gestellt und irreführend, da die Freigabe des Infantizides ja selber schon einen Dammbruch darstellt.

Ich glaube nicht, daß unsere Vorväter für die Freiheit gekämpft haben, damit wir über das Töten von Menschen reden können. Freiheit ist die differentia specifikans der Demokratie gegenüber anderen politischen Systemen. Aber das Leben des Menschen ist die Grundlage der Freiheit, und wir sollten uns nicht fälschlich in eine Diskussion verwickeln lassen, in der Pressefreiheit gegen Lebensrecht gesetzt wird. Es könnten ja auch einmal die Lebensrechte eines zeitweise interesselos gewordenen Journalisten tangiert werden.

Es ist ein gefährliches Unterfangen, Diskurse der Glücksmaximierung mit Fragen der Tötung und des Lebensrechtes zu verknüpfen. Die Frage, ob der Mensch im politisch-anthropologischen Sinne ein Wolf, Reh oder Lamm ist, sollte für unsere Gesetze so behandelt werden, daß stets mit dem Schlimmsten gerechnet wird. Darüber hinaus sollten wir aber einen davon völlig unabhängigen Glücksdiskurs entwickeln, zu dem ich vor allem auch die Dichter und Künstler aufrufen möchte, vielleicht auch die Philologen, die dann darauf hinweisen mögen, daß es neben dem Glück auch die Glückseligkeit gibt, nämlich das Erleben des eigenen Glücks und des Glücks im anderen zugleich. Eine Patientin, die als Säugling nach Singers Kriterien hätte getötet werden dürfen, wenn man diese denn starr angewendet hätte, ist zur Zeit schwanger und hat von Singers Theorien nie gehört. Sie erfährt Glück und vielleicht auch bald Glückseligkeit.