Was Zikaden mit Primzahlen zu tun haben

In den USA leben Zikaden, die sich nur alle 13 oder 17 Jahre paaren

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Sowohl die 13 als auch die 17 sind Primzahlen, und das ist kein Zufall, wie Biologen meinen. Auch an anderen Stellen in der Biologie kommen Primzahlen vor.

Offensichtlich sind solche Primzahl-Zeitabstände ein Ergebnis der Evolution. Sie sorgen dafür, dass es selten zu Überschneidungen mit den Zyklen von Fressfeinden oder Parasiten kommt. Das kann Tieren und Pflanzen das Überleben sichern. Auch Menschen bedienen sich dieser Gesetzmäßigkeiten.

Eine 17-Jahres-Zikade, wie sie in Teilen der USA anzutreffen ist. Die Evolution hat dafür gesorgt, dass sie für ihre Vermehrung einen Primzahlzyklus angenommen hat.

Alle 17 Jahre erlebt der US-Bundesstaat Tennessee ein seltsames Naturschauspiel. Buchstäblich über Nacht graben sich große Massen von Zikaden-Larven aus der Erde, verwandeln sich in quirlige Insekten und verbreiten sich über Wälder und Wiesen. Innerhalb weniger Wochen paaren sich die Zikaden und legen Eier, aus denen neue Larven schlüpfen. Diese verschwinden im Boden und bleiben dort versteckt, bis 17 Jahre später die nächste Zikadenplage ansteht. Seitdem sich europäische Siedler im Jahr 1634 erstmals über die seltsame Insektenschwemme wunderten, sind mittlerweile 21 weitere Wellen über Tennessee niedergegangen – der Abstand betrug jedes Mal genau 17 Jahre. Das nächste Zikaden-Auftreten wird für das Jahr 2025 erwartet.

Geht man von Tennessee aus etwas nach Süden (etwa nach Alabama), dann findet man ebenfalls einen Zikadenzyklus. Dessen Länge beträgt allerdings nicht 17, sondern nur 13 Jahre. Einige andere Zikadenarten vermehren sich in Sieben-Jahres-Abständen. Mathematikern fällt an dieser Stelle sofort auf, dass 7, 13 und 17 Primzahlen sind – diese Zahlen sind also nur durch sich selbst und durch 1 teilbar. Primzahlen gehören zweifellos zu den interessantesten und schwierigsten Objekten der Mathematik. 2, 3, 5, 7, 11, 13 und 17 sind die kleinsten Vertreter. Der durchschnittliche Abstand zwischen den Primzahlen nimmt mit steigender Größe immer mehr zu, und doch gibt es unendlich viele davon. Primzahlen sind sehr unregelmäßig verteilt, man kennt jedoch mathematische Gesetze, mit denen sich Primzahleigenschaften beschreiben lassen. Interessanterweise gibt es noch immer relativ einfach Fragestellungen zum Thema Primzahlen, die ungelöst sind.

Was aber macht Primzahlen für nordamerikanische Zikaden interessant? Wie man sich leicht klar macht, haben Primzahlzyklen die Eigenschaft, dass sie sich relativ selten mit anderen Zyklen kreuzen. Findet ein Ereignis beispielsweise alle 17 Jahre statt, dann gibt es nur alle 170 Jahre eine Überschneidung mit einem Zehn-Jahres-Rhythmus. Beträgt der Abstand zwischen den Veranstaltungen dagegen 15 Jahre (15 ist keine Primzahl), dann ist schon alle 30 Jahre eine Überschneidung möglich.

Für den 17- und 13-Jahres-Rhythmus der nordamerikanischen Zikaden gibt es daher eine logische Erklärung: Die Evolution hat diese Zyklen eingerichtet, um die Zikaden vor einem regelmäßigen Ereignis zu schützen, das ihnen schadet. Dies könnte beispielsweise das Auftreten eines Fressfeinds oder Parasiten sein, der selbst im Mehrjahres-Rhythmus aktiv ist. Hätte der Zikaden-Zyklus beispielsweise eine Länge von 12 Jahren, dann könnten die Insekten von Räubern gefressen werden, die alle 1, 2, 3, 4, 6 oder 12 Jahre auftauchen. Mutieren die Zikaden jedoch in einen Zyklus von 13 Jahren, so müssen sie nur noch Feinde fürchten, die jedes Jahr oder alle 13 Jahre auftreten – ein eindeutiger Überlebensvorteil.

Im Jahr 2002 präsentierten die beiden Wissenschaftler Mario Markus und Oliver Schulz vom Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie zusammen mit einem chilenischen Kollegen eine Studie, die sich der Zikaden genauer annahm. Sie entwickelten ein mathematisches Modell, das die Zyklen von Räubern und Beutetieren simuliert. Das Modell lässt zu, dass sich diese Zyklen durch einen Zufall (Mutation) ändern. Wenn der Zyklus eines Räubers per Zufall in eine Primzahl übergeht, dann führt dies im Modell zum Aussterben, da der Räuber zu selten auf seine Beutetiere stößt. Für das Beutetier erweist sich der zufällige Übergang in einen Primzahlzyklus dagegen als Glücksfall, da nun seltenere Begegnungen mit dem Fressfeind zu erwarten sind. Offenbar sind die nordamerikanischen Zikaden durch einen genetischen Zufall in einen Primzahlzyklus gerutscht, der sie und behelligt von ihren Gegnern prächtig gedeihen ließ.

Eine Lücke hat die Zikaden-Primzahlthese bisher jedoch noch: Der zyklisch auftretende Gegner, vor dem sich die Zikaden schützen, ist noch nicht gefunden. Einige Experten halten es für möglich, dass eine ausgestorbene Wespenart der Jäger gewesen sein könnte. Andere Wissenschaftler denken an einen Pilz, der die Zikaden befällt. Vielleicht kommen sogar mehrere Feinde gleichzeitig infrage. Der bisherige Misserfolg bei der Suche nach Jäger und Parasiten deutet jedenfalls darauf hin, dass der Wechsel der Zikaden in den Primzahlzyklus erfolgreich war und den Gegner hat aussterben lassen.

Trotz aller Vorteile haben bisher nur wenige Tier- und Pflanzenarten einen Primzahlzyklus angenommen. Zu den wenigen Vertretern gehören einige Fichtenarten. Diese bilden alle elf Jahre massenhaft Zapfen, die für Ihre Vermehrung eine wichtige Rolle spielen – und 11 ist eine Primzahl. Der Primzahlzyklus erschwert es Vögeln und Eichhörnchen, sich auf die Zapfenschwemme einzustellen. Auch Maikäfer nutzen teilweise Primzahlzyklen. Die kleinen Krabbeltiere treten bekanntlich größtenteils alle vier Jahre auf. Es gibt jedoch einige Arten, die sich alle drei oder alle fünf Jahre vermehren – also in Primzahlabständen. Es ist denkbar, dass diese Maikäfer besser vor manchen Feinden geschützt sind.

Primzahlzyklen sind auch in der Technik von Bedeutung. Beispielsweise nutzen die Entwickler von Computer-Programmen den Primzahltrick: Viele Programme verwenden Primzahlabstände, um Daten in den Speicher zu schreiben. Auf diese Weise ist die Wahrscheinlichkeit am geringsten, dass es bei der Speicherbelegung zu Überschneidungen kommt. Neu ist diese Idee allerdings nicht. Schon im zweiten Weltkrieg gab es mit der Siemens & Halske T52 und der Lorenz-Maschine zwei deutsche Verschlüsselungsmaschinen, die mit unterschiedlich gezahnten Zahnrädern arbeiteten. Die Zahl der Zähne an einem Rad entsprach in den meisten Fällen einer Primzahl. Dadurch stellten die Konstrukteure sicher, dass sich identische Zahnradstellungen nur selten wiederholten – eine wichtige Eigenschaft, wenn die Verschlüsselung sicher sein sollte. Obwohl diese Idee zweifellos richtig war, hatte sie am Ende keinen Erfolg: Beide Verschlüsselungsmaschinen wurden von den Kriegsgegnern geknackt.

Klaus Schmeh ist Informatiker und nebenberuflicher Journalist. Er schreibt meist über Verschlüsselung (von diesem Thema handelt auch sein Buch „Codeknacker gegen Codemacher“) und andere populärwissenschaftliche Themen.
Seine persönliche Homepage: www.schmeh.org