Sorgenvolle Blicke in den Norden

Nach Beginn des Krieges gegen den Irak wandten sich fast alle Regierungen in Lateinamerika gegen den US-Feldzug

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Schon zu Beginn dieser Woche wurden in der kubanischen Hauptstadt Havanna die Plakatwände aufgestellt. "No a la Guerra!" fordern seither bunte Lettern am Eingang zur Altstadt und an anderen Punkten der Karibikmetropole. Nein zum Krieg, diese Forderung wird in Lateinamerika und der Karibik fast ohne Widerspruch geteilt. Am Tag nach dem Beginn des Angriffes der US-Armee auf den Ölstaat Irak haben sich fast alle Staats- und Regierungschefs der Region gegen den Krieg ausgesprochen. Der brasilianische Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva erklärte, er habe alles in seiner Macht stehende versucht, um diesen Krieg zu verhindern. "Nun fürchte ich um die Leben der Unschuldigen in unseren arabischen Bruderstaaten", wird er von der Tageszeitung "O Globo" zitiert.

Neben Brasilien positionieren sich vor allem Kuba und Venezuela gegen den Krieg. In seiner Rede vor der 59. Versammlung der UN-Menschenrechtskommission in Genf startete der kubanische Außenminister Felipe Perez Roque am Donnerstag einen emotionalen Appell an die internationale Gemeinschaft. "Viele wird es erstaunen, aber in meiner Rede werde ich nicht auf den Konflikt zwischen den USA und meinem Land eingehen", sagte der Diplomat. An diesem Tag gehe es vielmehr darum, die UN-Mitglieder zur Einigkeit "gegen diesen Bruch des Völkerrechtes" aufzurufen. "Lassen Sie uns die Vereinten Nationen retten, lassen Sie uns gemeinsam für den Multilateralismus eintreten."

Auch Pérez venezolanischer Kollege Roy Chaderton stellte die Sorgen seiner Regierung in den Vordergrund: "Die Position der venezolanischen Regierung zum US-Krieg gegen Irak richtete sich immer auf eine friedlichen Lösung. Der Konflikt hätte im Rahmen der Vereinten Nationen gelöst werden müssen. .... Es gibt keine guten Kriege."

Die UN-Resolution 1441, erinnerte Chaderton, habe keine Unterstützung im Sicherheitsrat erhalten, der Krieg habe trotzdem begonnen. Ein Beobachter der Lage könne nun mit Fug und Recht sagen: "Wenn sie sich nicht an die internationalen Normen halten, wieso sollte ich das tun?"

Die Haltung von Kuba und Venezuela erstaunt nicht, handelt es sich hier um Regierungen, die seit jeher im Konflikt mit Washington stehen. Doch stehen ihre Meinungen durchaus im Einklang mit den übrigen Regierungen Lateinamerikas. Auch Mexiko und Chile, beide Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, hatten sich allem Druck aus den USA trotzend bis zuletzt gegen eine militärische Option ohne die Legitimation der UN gewandt. Für beide Staaten steht dabei viel auf dem Spiel, schließlich sind ihre nationalen Wirtschaftssysteme eng auf die Zusammenarbeit mit den USA ausgerichtet. Während Mexiko über drei Viertel seines Außenhandels mit den USA abwickelt, versucht Chile seit geraumer Zeit in das Freihandelsabkommen NAFTA aufgenommen zu werden.

Die breite lateinamerikanische Front gegen den US-Krieg gegen Irak ist in der Sorge um die Konsequenzen des offenen Völkerrechtsbruchs durch Washington begründet. Allen Regierungen in der Region ist die Gefahr eines Bedeutungsverlustes der UN klar, denn die Folgen einer wachsenden Dominanz der USA wird südlich des Rio Bravo zuerst zu spüren sein. Folgerichtig sprachen sich mit der kolumbianischen Regierung und einigen mittelamerikanischen Staaten auch nur von Washington protegierte Regimes für den Krieg aus.

Die politische Analyse ist einfach. Geht es der Bush-Administration bei dem Angriff auf Irak um den Zugriff auf die Ölressourcen, werden die natürlichen Reichtümer im Süden der Großmacht als nächstes ins Visier rücken. Zu nennen sind dabei keineswegs nur die Ölreserven von Kolumbien, Venezuela und Mexiko. Auch die Kontrolle über natürliche Wasserreservoirs, Edelmetalle und schließlich die schlichte Arbeitskraft der Menschen birgt im wahrsten Sinne des Wortes Sprengstoff. Ohne auf diplomatische Empfindsamkeiten achten zu müssen, sprach der ehemalige argentinische Fußballstar Diego Maradona in einem Fernsehinterview aus, was in Lateinamerika viele Menschen bewegt:

"Die Menschen haben es statt, wenn dieser Mörder (US-Präsident George W. Bush) aufsteht, um "Krieg, Krieg, Krieg" zu sagen, und die Menschen haben es satt, sich dagegen hilflos zu fühlen. (...) Nun sind sie im Irak. Morgen intervenieren sie in Kolumbien, übermorgen in Argentinien, dann in Uruguay. Sie machen einfach, was sie wollen."

Mit Spannung sind die politischen Konsequenzen zu erwarten. Aus Venezuela, Mexiko und Brasilien wurde eine Stärkung der "Organisation Amerikanischer Staaten" gefordert, die traditionell unter US-Einfluss steht. Unter dem Druck einer Amok laufenden Großmacht zeichnet sich damit vielleicht eine Einigung des "Restes der Welt" ab. Unabhängig vom Ausgang des Krieges und der Inthronisierung eines Folgeregimes wird die internationale Gemeinschaft sich über neue Mechanismen Gedanken machen müssen, die weitere Kriege gegen das Völkerrecht verhindert oder sie zumindest erschweren.