Im Ghetto

Leben im sozialen Brennpunkt. Eine Reportage

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ein scharfes Klatschen an der Fensterscheibe lässt die Katzen unruhig aufhorchen. An den Fallrohren der Regenrinnen klettert ein Jugendlicher nach oben und wirft gezielt mit kleinen Kieselsteinen und Eicheln. Klack, klack, klack, begleitet vom juchzenden Kichern seines Kompagnons, der diese Aktion in der Dämmerung für einen gelungenen Streich hält. Irgendwie müssen sich die Leute doch provozieren lassen, schließlich sollen Action und Spaß angesagt sein.

Alltag im sozialen Brennpunkt in der Bürgermeister-Kürten-Straße in Bremen-Nord, einem Sozialbauviertel, in dem rund jeder zweite Bewohner keinen deutschen Pass hat. Hier stehen die Jugendlichen auf der Straße, wenn sie sich treffen wollen. Sie tun das jeden Tag bis spät in die Nacht hinein. Meist sind es Cliquen zwischen fünf und zehn jungen Leuten, zu denen Kinder und Jugendliche ebenso gehören wie Erwachsene, die ihre Zeit totschlagen. In diesen Cliquen spielt sich das soziale Leben des Quartiers ab. Die jungen Leute belagern Schaltkästen der Stadtwerke und der Telekom. Sie hängen vor Zigarettenautomaten ab und klettern auf Müllcontainern herum. Fußbälle werden gegen die Fenster und Mauern eines der angrenzenden Häuser geschossen, einem verklinkerten Appartmentblock mit B-Schein-Wohnungen.

Dessen Bewohner haben es mit Jugendlichen zu tun, die praktisch ohne jede Perspektive sind, denn wer in Wohnungen lebt, für die man einen Berechtigungsschein braucht, hat entweder nur ein sehr kleines oder kein Einkommen. Diese Menschen sind arm. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Armut und Perspektivlosigkeit.

Keine Chance für ärmere Kinder

"Also ein Beweis dafür, dass ärmere Kinder in unserem Bildungssystem keine Chance haben, ist maßgeblich die PISA-E-Studie", so Heinz Hilgers, Präsident des deutschen Kinderschutzbundes. Die PISA-E-Studie verglich die Bildungserfolge der einzelnen Bundesländer miteinander und stellte fest, dass Bayern am besten und Bremen am schlechtesten abschnitt, obwohl Bremen pro Schüler das meiste Geld für die Bildung ausgibt und mit 1:14 die beste Lehrer-Schüler-Relation aufweist. Aber Bremen hat eine Sozialhilfequote bei Kindern von über 23 Prozent, in Bayern sind es nur drei Prozent aller Kinder, die vom Sozialamt abhängig sind. Das alleine bestimmt die Bildungschancen.

Hinzu kommt, dass Armut ein bestimmtes Milieu prägt, in dem sie sich tradieren kann. Kinder von Sozialhilfeempfängern werden später selber zu Sozialhilfeempfängern.

Die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre ist erschreckend. Die Zahl der Kinder, die von der Sozialhilfe leben, hat sich trotz zurückgehender Kinderzahlen verdreifacht.

Heinz Hilgers

Die Ursachen dafür liegen auf der Hand. Sozial schwache Eltern sind in der Regel ungebildet und nicht in der Lage, ihre Kinder angemessen zu fördern. Sie verstehen den Unterrichtsstoff selbst nicht und haben, sofern es sich um Einwanderer handelt, zum Teil erhebliche Probleme mit der deutschen Sprache. Zweitens haben Kinder in sozialen Brennpunkten oft Probleme zu bewältigen, die sie ganz beschäftigen und ihnen keinen Raum mehr lassen, in dem die Schule und ihre Anforderungen zur Geltung kommen. Die Kinder leben in sozial und kulturell meist unterversorgten Stadtteilen. Zuhause werden sie gerne alleine gelassen und haben niemanden, der sich ernsthaft um sie kümmert. Soziale Brennpunkte sind meist multikulturell, mit Dutzenden verschiedener Nationen, zwischen denen die Konflikte brodeln. Damit gewaltfrei umzugehen, wird nicht gelernt.

Gewalt als Möglichkeit

Kraft und körperliche Gewalt gelten anstelle von Wissen und Bildung als Quelle der Macht. Die traditionelle Bildungsfeindlichkeit der Unterschicht macht es ihren Kindern immer schwerer, an der Gesellschaft eigenverantwortlich teilzunehmen. Man kann durchaus zu hören bekommen, dass mit dem Ende der Schule der Ernst des Lebens vorbei sei. Dann legt man die Beine hoch und lebt vom Sozialamt. Als Ungelernter mit schlechten Schulnoten wird man sicher nirgendwo eine Anstellung bekommen und Geld verdienen können. Für so manchen Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten ist der Weg in die Kleinkriminalität daher nicht weit. Hier ein Geschäft mit Cannabis, dort ein Ladendiebstahl, manchmal auch ein Einbruch, eine Schlägerei. Im wesentlichen sind es Bagatelldelikte, mit denen sich die Polizei hier beschäftigen muss.

Es sind arme Würstchen, wenn wir die auf unserem Stuhl haben und wenn wir eine Vernehmung mit ihnen machen und sie aufklären, dass sie, wie gesagt, ja, nach ihrem Recht nichts sagen brauchen. Aber sie erzählen uns was. Sie erzählen auch ihre ganzen Probleme, dass eben ihre Eltern keine Zeit haben für sie. Das sie auch in der Schule große Probleme haben und oder in der Clique. Und dann kommt das schon angesprochene auf den Tisch. Das es eben, ja, es ist eine Verwahrlosung da. Und das ist eigentlich unser Hauptproblem.

Das sagt Frank Kunze, Jugendbeauftragter der Bremer Polizei. Seine Statistik wies allein für das Jahr 2003 rund 7000 Straftaten aus, die von seinen "armen Würstchen" begangen wurden. Das Vorgehen der Polizei ist immer wieder dasselbe. Nach der Strafanzeige erfolgt die Vernehmung durch die Kriminalpolizei. Die Staatsanwaltschaft bekommt die Akten nach Abschluss der Ermittlungen. In Bremen werden rund 90 Prozent aller Jugendstrafsachen eingestellt. Nur besonders dreisten Tätern droht die Jugendstrafe. Frank Kunze sieht hier eine pädagogische Aufgabe.

Mein Job ist es, auf die Statistik zu gucken, wie sich die Jugendkriminalität entwickelt, ob wir gegensteuern müssen, ob wir Präventionsprojekte anschieben müssen. Ja, und überhaupt Präventionsprojekte, was wir eigentlich den Jugendlichen angedeihen lassen können.

Erstaunten Schülern wird klargemacht, dass es bereits ein Raub ist, jemandem seine Fanjacke abzuziehen. Die polizeiliche Aufklärungsarbeit hat für Frank Kunze das Ziel, Zivilcourage zu fördern. Sie will die Jugendlichen dazu bringen, vom Klima des Wegsehens abzukommen. Doch die Milieus sozialer Brennpunkte haben ihre eigenen Regeln. Die dort lebenden Jugendlichen unterliegen den Gruppenzwängen ihrer Cliquen, die ihren Mitgliedern die für das Leben im Viertel so wichtige Rückendeckung gibt.

Zum Beispiel Sie kommen jetzt mit zehn Leuten auf mich und dreschen mich zusammen. Dann bin ich nächsten Tag mit mehreren Leuten auf Sie und dann dresch ich Sie zusammen und Ihre Kumpels auch. Und dann kommen Sie nie wieder.

Wagenburgmentalität

Wer eigenbrötlerisch aus der Clique ausschert, setzt sich der Gefahr aus, als Einzelgänger schlicht verprügelt zu werden, ohne das Hilfe zu erwarten ist. Also ist es notwendig, sich als einzelner Jugendlicher den Gewohnheiten seiner Clique zu unterwerfen. Doch die Clique ist ein Ort des Scheiterns. Die Jugendlichen stehen an ihren Treffpunkten meist lange herum und hängen ab, wie sie sagen. Sie entwickeln weder besondere Hobbys, noch kümmern sie sich intensiv genug um die Schule, die sie ohnehin für sterbenslangweilig halten. Und in den Cliquen entwickeln die Jugendlichen manchmal eine regelrechte Wagenburgmentalität, die es sie glauben macht, von bösen Feinden umstellt zu sein.

Früher, früher gab es hier Russen gegen Türken. Das war hier ziemlich groß. Und da sind ja auch paar Leute gestorben. Und Sri Lanka gegen Russen. Haben sich selber gegenseitig verbrannt. Haben die Sri Lankaner Molotowcocktails auf die Russen geschmissen. Dass die abgefackelt sind. Ja, ist so. Die sind echt verbrannt, manche Menschen hier, wegen Schlägereien.

Ein Glück, dass diese Schilderung nur als Gerücht existiert. Die Polizei kann die Darstellung der jugendlichen Türken jedenfalls nicht bestätigen. Aber hinter solchen Schilderungen steckt ein Konzept. Die Diffamierung von Einwanderern aus Russland und Sri Lanka macht diese Leute antastbar. Wer ihnen mit der Faust ins Gesicht schlägt, hat seinen guten Grund dafür schon in der Tasche. Schließlich ist Gewalt die einfachste Möglichkeit, anderen gegenüber etwas zu bewirken. Sie ist im Ghetto eine Form der Kommunikation. Bewohner gepflegter Wohnviertel werden sich das kaum vorstellen können, im Treppenhaus mit vollen Bierdosen beworfen und anschließend mit Faustschlägen traktiert zu werden. Auch Stereoanlagen, die zu jeder Tages- und Nachtzeit bis zum Rechtsanschlag aufgerissen werden, sind in normalen Wohnlagen nicht üblich. Wer im sozialen Brennpunkt lebt, bekommt von seinen Nachbarn gerne den Nimbus eines Schwerverbrechers und wird zum Beispiel zum Kannibalen ernannt, über den grausige Geschichten erzählt werden, der aber andererseits auch die seltsamsten Angebote bekommt; von Frauen etwa, die sich selbst als essbares Hühnerfleisch anbieten. In sozialen Brennpunkten muss man sich also mit Gewalt in vielen Schattierungen auseinandersetzen. In Bremen-Nord war längere Zeit der Kontaktbus unterwegs, ein Projekt der aufsuchenden Jugendarbeit.

Das ist so eine Art Wohnmobil. Man kann sich in den Bus reinsetzen. Man kann Getränke bekommen. Man kann Spiele spielen drin und draußen. Wir nutzen dann die Gelegenheit, um mit den Jugendlichen in Kontakt zu kommen, mit ihnen also eine Beziehung aufzubauen, weil aufsuchende Jugendarbeit oder überhaupt Jugendarbeit ist eben Beziehungsarbeit. Und über diese Beziehung läuft ganz viel an, nämlich dass die Jugendlichen auch Vertrauen zu uns gewinnen und ihre Probleme uns anvertrauen.

Die Jugendlichen beklagten sich. Sie könnten nirgendwo ungestört ihre Freizeit verbringen und würden gerne Musik hören, Karten spielen und kickern. Kerstin Petrusch suchte also nach einem Raum für diese Jugendlichen, fand auch einen und verhandelte mit der zuständigen Wohnungsbaugenossenschaft Gewosie. Deren Vorstand entschied die Angelegenheit negativ. Die Jugendlichen bleiben auf der Straße. Sie stehen grüppchenweise vor Zigarettenautomaten und Schaltkästen. Sie streiten sich mit Nachbarn, die gezielt genervt werden. Sie werfen mit kleinen Gegenständen und schrecken keinesfalls vor Schlägereien zurück, an denen sich dann auch erwachsene Nachbarn beteiligen. Forderungen nach abgeschlagenen Köpfen sind zu hören, und einem Brillenträger wird zugerufen, dass man ihm demnächst die Brille zertrümmert, damit der mal sieht, wozu ein Alkoholiker heute noch in der Lage ist.

Die Wohnungsbaugesellschaften, die sich auf ihren Webseiten gerne als die Mentoren urbanen Lebens präsentieren, interessiert das alles nicht. Wer als Schläger seinen Mitmietern die Zähne rausprügelt, pflegt allenfalls persönliche Auseinandersetzungen, die akzeptiert werden müssen. Ähnliche Reaktionen liefern Kontaktpolizisten. "Gegen Sie liegen ja auch Anzeigen vor, Sie sind ja genauso einer", bekommt zu hören, wer sich beklagt. Im Ghetto sind sie eben alle gleich. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.

Klammergriff des Armgemachtwerdens

Leider steht dieses special feature des ruhigen Wohnens nirgendwo im Mietvertrag. Wer als Heimarbeiter, zum Beispiel als Webseitendesigner mit häuslichem Internetanschluss oder als freier Journalist mit kleinem Büro in den eigenen vier Wänden tatsächlich ungestört leben und arbeiten will, sollte Wohnungsbaugesellschaften trotz ihrer günstigeren Mieten meiden und lieber auf den privaten Wohnungsmarkt ausweichen, auf dem die Hütten im Schnitt rund 150 Euro pro Monat teurer sind. Für dieses Geld kauft man sich nämlich eine menschlich angenehmere Nachbarschaft, auch wenn die privat vermieteten Wohnungen technische Mängel aufweisen können, die bei Baugesellschaften sofort behoben werden würden.

Für Jugendliche ist es noch schwerer als für erwachsene Bewohner des Ghettos, aus dem Klammergriff des Armgemachtwerdens auszubrechen. Sie können keine Interessen entwickeln, die Geduld, Zeit und Hingabe erfordern. Täten sie es trotzdem, hätten sie es doppelt schwer. Sie würden sich ihrer Clique entfremden, die mit Sicherheit nicht wissen will, wie man in Delphi programmiert (es gibt auf Bremer Gymnasien durchaus elfjährige Delphiprogrammierer, aber nicht in den Bremer Ghettos) und auch wohl nicht, wie man den Arbeitspunkt eines Transistors in der Emitterschaltung stabilisiert. Diese Kinder und Jugendlichen werden nach kurzer Zeit regelrecht ausgeguckt und als leichtes Opfer angesehen, an dem man ungestraft seine Fäuste ausprobiert. Sie werden genervt und terrorisiert. Es kann ja nicht angehen, dass aus denen noch was wird, dass die noch Zeit für etwas anderes als für Schlägereien und das stundenlange Abhängen an Straßenecken haben.

Die Kommunalpolitik unterstützt diese Zustände zum Beispiel durch Sparmaßnahmen. So gibt es in ganz Bremen-Blumenthal mit seinen vielen sozialen Brennpunkten nicht eine einzige Kinder- und Jugendbibliothek. Das sei ihm bekannt und würde ihn nicht interessieren, sagt dazu Wolfgang Dettmer, Sprecher des zuständigen Stadtteilparlaments, das die Bremer verwirrend als Ortsamtsbeirat bezeichnen. Die Jugendlichen sind der Politik gleichgültig. Für ihre Probleme gäbe es Fachpersonal. Eine Sozialarbeiterin setzt hier das Projekt "Wohnen in Nachbarschaften" um. Es ist ein Projekt, das von neu gestalteten Grünanlagen handelt oder von der Kolorierung des Kinderhorts in den Farben des Malers Friedensreich Hundertwasser. Aber es ist kein Projekt, das Perspektiven entwickelt, um der Armut zu entkommen.

Die Zukunft ist ein ganz wichtiges Element in unserem Verhalten. Und man muss den Leuten das Gefühl geben, dass sie eine Perspektive haben und dass sie wissen, wofür es sich zu leben lohnt.

Das sagt der Soziologe Uwe Engel, Professor an der Bremer Universität. Seine Worte sind im Ghetto wie Posaunenschall aus einer fremden Welt. Unten am Haus klappern die Briefkästen. Jemand wirft Prospekte und Anzeigenblätter in die Postkästen. Es ist der private Versuch, der Armut zu entkommen. Aber dieser Versuch ändert nichts am Milieu. Er ist vielmehr ein Teil davon. Ausbrechen könnte man nur, wenn es eine gesellschaftliche Anstrengung gäbe, Armut zu unterbinden. Dieser Anstrengung fehlt der politische Wille. Doch die Drittelgesellschaft fordert ihre Opfer. Jeder Sozialhilfeempfänger kostet monatlich rund 700 Euro und mehr. Wenn eine Million Kinder, die in Deutschland leider von der Sozialhilfe leben, den Rest ihrer Tage dem Amt auf der Tasche liegen und nicht am Erwerbsleben teilnehmen, bilden sie ein teueres Milliardengrab, das die Kommunen zu bezahlen haben. Soziale Brennpunkte kann sich eigentlich niemand leisten. Aber diese Erkenntnis muss sich erstmal durchsetzen.