Eigentlich waren wir an der Reihe

Ein Gespräch mit Michel Kilo, einem der führenden syrischen Oppositionellen, über den gegenwärtigen Stand der Demokratiebewegung in Syrien und die Zukunft des Nahen Ostens

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Das syrische Regime steht unter Druck, will man der "Achse des Guten" glauben: Terroristenbrutstätte, Wirtschaftssanktionen, Resolution 1559. Da könnte man meinen, nun schlage die Stunde der Opposition. Laut Michel Kilo aber, einem der führenden syrischen Oppositionellen, wirft gerade der US-Druck auf die Region sämtliche Reformanstrengungen über den Haufen.

Herr Kilo, 2003 klangen Sie sehr optimistisch, was die Fortschritte der Demokratiebewegung angeht: Sie planten einen runden Tisch, zu dem die verschiedenen Fraktionen eingeladen werden sollte. Was ist daraus geworden?

Michel Kilo: Ja, Riad al-Turk und ich wollten Vertreter der Opposition, Wirtschaft und Intelligenzia einladen, stellten dann aber alles wieder ein. Insgesamt gab es eine Rückentwicklung in Syrien seit mehreren Monaten. Die Opposition erwies sich als zu langsam, zu unvorbereitet, um mit einer wirklichen Lösung für die zentralen Fragen aufzuwarten - ob Generationen-, Gesundheits-, Umwelt- oder das besonders prekäre Wasserproblem. Grundsatzfragen wie "Was macht die Macht?" und "Was machen wir dagegen?" fanden keinen fruchtbaren Widerhall.

Schlagartig war Schluss

Hatte die US-amerikanische Invasion in den Irak einen Einfluss auf diese Rückentwicklung?

Michel Kilo: Und ob. Sie war ein Schock für sämtliche Oppositionelle. Sie veränderte alle Prioritäten, bei der syrischen Opposition wie beim Regime selbst und verursachte ein ungeheuerliches Chaos. Es genügt der Blick in den Irak, in dem neben einem angeheizten Fundamentalismus noch alle möglichen anderen Strömungen aufleben und sich gegenseitig bekämpfen: Die Regimegegner, die Konfessions- und Clan-Verfechter, die Armee, die Geheimdienste. Unter dem Strich aber heißt es: Amerikaner oder Fundamentalisten?

Egal, was letztlich herausspringt, es bedeutet das Aus für die syrische Demokratiebewegung. Dabei wären wir eigentlich an der Reihe gewesen - gemeinsam mit Islamisten, mit Regime und ohne Amerikaner. Schließlich waren wir, die Demokraten, die einzigen, die zwanzig Jahre lang kämpften. Die Fundamentalisten waren in dieser Zeit in Syrien nicht präsent und gemeinsam mit den Kurden hätten wir schrittweise etwas aufbauen können. Aber schlagartig war wieder Schluss. Plötzlich standen die Amis vor unserer Tür. Plötzlich war die Gefahr eines israelischen Anschlags wieder akut.

Und das bewirkte, dass eine zwanzig Jahre lang verfolgte Linie wieder aus den Augen verloren wurde?

Michel Kilo: Plötzlich kam bei vielen syrischen Oppositionellen wieder der Wunsch auf, dass sich das Regime nicht zum Teufel schert, sondern bleibt, sich nur modifiziert, verbessert. Damit wir an seiner Seite gegen die USA eine Front bilden. Frommer Wunsch!

Tatsächlich kuscht das Regime wie gehabt vor den USA. Also müssen wir, die Oppositionellen, uns fragen, wie lange wir uns noch mit diesem Selbstbetrug ausbremsen wollen. Fakt ist: Wir waren seit jeher gegen die US-Hegemonie - und gingen dafür ins Gefängnis. Das Regime war es nur pro-forma, baute aber die Gefängnisse.

Babylonisches Stimmgewirr aus kurzsichtigen Ängsten

Somit scheuen die Machthaber die USA und die Oppositionellen letztlich die Verantwortung?

Michel Kilo: Was erwarten Sie nach jahrzehntelanger Repression? Nein, es ist nicht einfach. Und es kommt heute hinzu, dass die USA die einzige Weltmacht und Israel die einzige Regionalmacht sind. Fallen Sie doch bitte nicht auf die aktuelle Kampagne gegen den Iran herein. Dieses ganzes Gerede um Raketenreichweiten von zwei-, dreitausend Kilometer ist lächerlich, eine gefährliche Irreführung. Aber weil sich die internationale Öffentlichkeit irreführen lässt, nimmt in der Region die Angst vor weiteren "Präemptiv"-Schlägen zu.

Probleme wie das syrische Erziehungssystem erscheinen daneben plötzlich irrelevant. Auf dem Weg zur Demokratie ist es extrem relevant, aber versuchen Sie einmal das in diesem aufgeheizten Klima zum Tagesordnungspunkt machen zu wollen. Wie im Irak dominiert in Syrien gerade ein babylonisches Stimmgewirr aus kurzsichtigen Ängsten: Von Fundamentalisten über Stammeshitzköpfen bis hin zu weiß-ich-nicht-wem.

Sie meinten einmal, die US-Administration sei völlig austauschbar. Wie sehen Sie das heute? Nach der Resolution 1559, nach Bushs Wiederwahl. Immerhin geben Sie einen Großteil der Schuld an der Rückentwicklung der Demokratiebewegung der Irak-Invasion, die unter einem Gore oder Kerry vermutlich nicht erfolgt wäre. Auch führt jetzt kein Weg mehr an der Erfüllung von 1559 vorbei - das syrische Regime wird stärker denn je mit einer triumphierenden Weltmacht konfrontiert.

Michel Kilo: Es wird konfrontiert, aber es wird seine Truppen nicht aus dem Libanon abziehen, weil weder die USA noch Israel dies wünschen.

Nein?

Michel Kilo: Natürlich nicht! Allein schon, weil die dann einer für sie tatsächlich unkontrollierbaren Hizbollah gegenüberstünden. Würden sie den Truppenabzug wirklich wollen, bräuchte es keine Resolution - es genügte ein Telefonanruf. Das alles ist nur die Politshow einer meines Erachtens austauschbaren US-Administration. Wer ist denn dieser Kerry? Was will er? Nicht einmal die Amerikaner scheinen es verstanden zu haben. Und was für uns zählt: Hat er je vom Rückzug aus der Region gesprochen?!

Man erkennt die Region in zehn Jahren nicht wieder

Worauf steuert der Nahe Osten Ihrer Meinung nach zu?

Michel Kilo: Auf eine Gewaltspirale in unvorstellbarem Ausmaß - und das ist keine persönliche Übersteigerung: Die technisch besten US-Waffen sind im Irak stationiert. Israel ist mittlerweile hundertmal militärisch stärker als es seiner Größe zukommt, es verfügt neben den USA über das weltweit am weitesten entwickelte und am vielseitigsten einsetzbare Nuklearwaffenspektrum. Zehn Jahre, nachdem es Oslo unterzeichnete, konfisziert es in der Westbank wieder Territorien, gemeindet die Jerusalem umgebenden Dörfer ein und weitet seine Siedlungen aus. Ist das zu glauben? Zehn Jahre nachdem es das Gegenteil unterzeichnete! Seit einem Jahr spricht es großartig vom Rückzug aus dem Gaza und dreht vorher jeden einzelnen Stein um... Diese Region muss sich jetzt ihrer Haut wehren, egal wie.

Auch mit den Mitteln der Fundamentalisten?

Michel Kilo: Meinen Sie, ich begrüße sie? Ich, ein Christ und Oppositioneller, der sein Leben lang für mehr Demokratie kämpfte und dafür ins Gefängnis ging? Aber sie scheinen die einzigen, die noch wehrhaft sind. Wenn die Gewalt so weitergeht - wovon ich überzeugt bin - erkennt man diese Region in zehn Jahren nicht wieder. Wir müssen uns wehren.

Aber mit dieser Art von Wehrhaftigkeit entfernt sich die Region weiter denn je von einer Lösung.

Michel Kilo: Weiter denn je.

Michel Kilo, geboren 1940 in Lattakia (Syrien), studierte Publizistik, Geschichte und Volkswirtschaft u.a. an den Universitäten von Münster und München. Der Kommunist und Autor zahlreicher Artikel und Manifeste zu Staatsmacht und Gesellschaftsentwicklung, wurde 1979 über zwei Jahre ohne Gerichtsverfahren inhaftiert: Anlässlich des - gemeinsam mit Riad al-Turk initiierten - ersten national-demokratischen Kongresses machte er den damaligen Staatspräsidenten Hafez al-Assad persönlich für die Wurzel allen Übels verantwortlich. Er warf ihm die Unterdrückung allen demokratischen Gedankengutes und die insgeheime Kollaboration mit den USA vor.