Technologie als Weiterführung des Körpers

Ein Gespräch mit dem australischen Medienkünstler Stelarc

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der australische Medienkünstler Stelarc beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Maschine. In aufsehenerregenden Aktionen - dazu gehörte etwa eine im Magen versenkte Skulptur oder eine Performance mit einem Industrieroboter - hat er immer wieder zum Nachdenken über diese Schnittstelle angeregt. In den letzten Jahren experimentierte Stelarc auch mit dem Internet. Das erste Mal übrigens, als 1995 die Ausstellung Telepolis in Luxemburg stattfand, aus der dieses Online-Magazin hervorgegangen ist.

Stelarc in Luxemburg

"Was uns einzigartig macht, ist die Technologie. Wir haben zwei Hände, um damit Artefakte, Instrumente und Maschinen zu bauen. Technologie ist nichts Fremdes oder Anderes. Man kann Technologie und Körper nicht trennen. Technologie ist ein Teil des Menschen."

Sie gelten als Maschinenkünstler. Verstehen Sie sich auch so?

Stelarc: Nein, das Wort Maschinenkünstler empfinde nicht ich als zutreffend. Ich sehe mich eher als Performance Künstler. Technologie ist für mich ein Mittel, um die Möglichkeiten des Körpers zu erweitern. Technologie ist damit einerseits ein Implantat, andererseits eine Möglichkeit zur Definition des Cyborgs.

Was meinen Sie genau mit Cyborg?

Stelarc: Traditionell, also in der SF-Literatur, ist ein Cyborg eine Kreatur wie Robocop oder Terminator II oder ein Hybrid Mensch-Maschine. Das Medizinische wird bei diesen traditionellen Cyborgs mit etwas Militärischem vermischt. Generell kann man sagen, ein Cyborg ist ein Geschöpf, dessen Organe durch technologische Komponenten ersetzt worden sind. Mit dem Muskel-Stimulations-System, das ich geschaffen habe, oder mit der Installation "Fractal Flesh", welche das Internet als eine Art externes Nervensystem benutzt, habe ich die Cyborg-Idee verändert. Der Cyborg ist nun nicht mehr ein Körper, sondern ein System aus einer Vielzahl von Körpern, die via Internet verbunden sind.

Ist die Schaffung von Cyborgs für Sie ein philosophisches und ästhetisches Programm?

Stelarc: Diese Ideen sind bei mir keine reine Spekulationen, wie in der SF-Literatur, sondern umgesetzte und erlebbare Realität. Wir reden nicht von Symbolen und Metaphern für den Körper, sondern vom Körper selbst. Ich bin auch bereit, die physischen Konsequenzen für die Umsetzung dieser Ideen zu tragen. Wenn ich meinen Körper an Seilen und Haken aufhänge, dann ist das nicht ein Bild, sondern Realität. Dasselbe ist bei meiner Skulptur für das Körperinnere der Fall. Meine Philosophie ist, wenn Sie wollen, bestimmt von meiner Physiologie.

Sie haben einige Ihrer Aktionen erwähnt. Ich möchte etwas mehr zum Weg erfahren, der hinter Ihnen liegt.

Foto S. Hunter

Stelarc: Ich habe in den Jahren 1976 bis 1989, während 13 Jahren also, Aufhänge-Aktionen ("Suspensions") durchgeführt: ich habe mir Haken ins Fleisch getrieben und meinen Körper dann daran aufgehängt - in verschiedenen Positionen: vertikal, horizontal, umgekehrt usf. Es gab zwei große öffentliche Performances, eine in New York und eine in Kopenhagen. Bei der Performance in New York, wo wir Seile zwischen zwei Häusern über eine Straße gespannt hatten, kam die Polizei dazwischen und hinderte uns daran, weiter zu machen. Anders in Kopenhagen: dort hat mich ein Kran rund 60 Meter nach oben gezogen. Man kann das ja auch auf dem Video gut sehen. Aber die meisten dieser Aktionen führten wir ohne Publikum oder in ganz kleinen Galerien durch. Es geht mir nicht darum, ein Spektakel zu machen oder die Leute zu schockieren. Natürlich, wenn es jeweils eine öffentliche Aktion gab, dann kamen auch viele Leute, weil diese Aktionen spektakulär sind.

Ich habe mir einige Mal das Video mit der Aktion von Kopenhagen angesehen. Es ist paradox, wie schön es wirkt, wenn Ihr Körper horizontal vom Kran gehoben durch die Luft schwebt und plötzlich selbst zum Artefakt wird.

Stelarc: Es war auch eine einzigartige Erfahrung. Schon nach 10 oder 20 Metern konnte ich nichts mehr hören von der Stadt und vernahm nur noch die Geräusche des Windes und diese komischen Töne von der gespannten Haut mit den Haken im Fleisch.

Waren Sie sich immer sicher, daß nichts passieren würde?

Stelarc: Ja, natürlich. Wir haben ja viele Male solche Aktionen durchgeführt. Dabei benutzten wir jeweils 18 Haken. Die Haut ist extrem zäh, schon drei Haken würden reichen. Aber das wäre natürlich extrem schmerzhaft. Die Gefahr war eher beim Kran. Ich brauchte auch kein Funkgerät zu benutzen - die Organisatoren beobachteten mich mit Ferngläsern sehr genau und wußten jederzeit Bescheid, ob mir noch wohl bei der Sache war.

Davor habe ich ja auch andere ähnliche Aktionen gemacht. Für das Goethe Institut in Tokio beispielsweise organisierte ich eine Performance mit einem Ballon. Weil es relativ viel Wind gab, wurde ich seekrank dabei und mußte mich fast übergeben. Eine sehr unangenehme Vorstellung, wenn man an all die Leute denkt, die unten standen und schauten.

Wo liegt die philosophische Bedeutung dieser Experimente?

Stelarc: Ich habe diese Aktionen nach einer Reihe von extremen Experimenten mit sensorischer Deprivation gemacht. Bei diesen Experimenten waren meine Lippen zugenäht und ich war zwischen zwei Brettern eingeklemmt. Diese Aktionen dauerten jeweils lange - drei Tage, einmal sogar eine ganze Woche. Ich konnte in dieser Zeit nicht essen und trinken und auch nichts sehen. Ich habe so die physischen Grenzen meines Körpers erkundet. Auch die Begrenzungen des Körpers durch die Schwerkraft gehört dazu - das ist der Aspekt, der bei meinen Aufhäng-Experimenten sehr wichtig war. Der Mensch lebt ja eigentlich nur in zwei Dimensionen. Alles, was er tut, auch sein eigener Körper, ist durch die Gesetze der Schwerkraft determiniert. Ich habe mit diesen Hänge-Aktionen versucht, die Gesetze der Schwerkraft aufzuheben. Nur visuell, natürlich galten die Gesetze der Schwerkraft immer noch. Wenn man die Haut ansieht, die von den Haken gehoben wird, dann kann man darin eine Art Landkarte erkennen - mit Hügeln und Tälern. Man könnte diese Landkarte als einen visuellen Ausdruck für die Gesetze der Schwerkraft ansehen.

Auch bei der Aktion mit der Skulptur im Körperinneren geht es um die Grenzen. Ist sie eine Weiterentwicklung Ihrer früheren Aktionen?

Stelarc: Es ist bestimmt dieselbe Philosophie dahinter. Aber es gibt keine chronologische Entwicklung, wie Sie vielleicht meinen. Viele meiner Aktionen geschahen parallel, zeitlich gesehen. Ich habe auch schon sehr früh mit Bildern aus meinem Körperinneren experimentiert. Das Projekt mit der dritten Hand begann ein Jahr vor der ersten Aufhäng-Aktion.

Ich möchte etwas mehr über diese "Internal Body Sculpture", diese Skulptur für das Körperinnere, erfahren.

Stelarc: Ich kam auf diese Idee im Zusammenhang mit der dritten Skultpur-Triennale in Australien. Das Thema hieß damals "Site Specific Sculptures". Gefragt waren also Skulpturen, die für ganz bestimmte Orte geschaffen wurden. Das gilt, wenn auch in einem extremen Sinn, auch für meine Skulptur. Ich habe eine Kapsel gebaut, die sich im Magen öffnen kann, die blinkt und Töne von sich gibt. Von aussen konnte man aber nichts sehen und hören, man mußte dafür mit einem Endoskop den Magen untersuchen. Rein körperlich war das für mich die schwierigste Performance. Danach mußte ich für eine Nacht zur Beobachtung in ein Krankenhaus. Das war die einzige Performance, bei der ich medizinische Hilfe benötigte.

Welche Idee steckt hinter der "Dritten Hand"

Stelarc: Die "Dritte Hand" ist auch eine Erweiterung des Körpers. Sie kann - so wie die anderen beiden natürlichen Hände - unabhängig funktionieren. Ich kann sie über Muskelimpulse steuern, die ich zum Beispiel am Bein abgreife. Die "Dritte Hand" hat ein taktiles Feedback-System. Man könnte sie auch als eine Art Prothese bezeichnen.

Wie haben Sie diese "Dritte Hand" eingesetzt?

Stelarc: Ich habe zum Beispiel für die Ausstellung Telepolis in Luxemburg eine Installation gemacht: via Internet waren wir mit dem Centre Pompidou in Paris, mit dem Media Lab in Helsinki und mit der Konferenz "Doors of Perception" in Amsterdam verbunden. Über einen Touch Screen konnten die Menschen meinen Körper steuern. Ich selber hatte nur die Kontrolle über meine "Dritte Hand", die ich mit meinen Beinmuskel steuerte.

Die Performance war für mich wieder eine extreme Erfahrung. Man sieht die Bewegungen des eigenen Körpers, ohne daß man sie selber veranlaßt hätte, ohne daß man sie kontrollieren könnte. Ich konnte das Gesicht der Personen sehen, die meine Bewegungen steuerten. Das erzeugt eine intime Beziehung. Es entsteht eine Bewegung ohne Erinnerung und ohne Wunsch.

Das Dritte Ohr

Dies wiederum führte mich zur Idee, der Körper könnte zum Gastgeber für verschiedene Agenten werden, die räumlich verteilt, aber doch miteinander verbunden sind. Man kann dann noch weiter gehen. Ich habe eine Performance mit dem Ping-Protokoll gemacht, das benutzt wird, um die Antwortzeiten des Computers gegenüber verschiedenen Internet-Knoten zu messen. Wir haben aus diesen Antwortzeiten ein Signal generiert, durch das mein Körper gesteuert wurde. Schließlich haben wir etwas Ähnliches auch mit Bildern aus dem Internet versucht. Das Internet wird dabei zu einer Art externem Nervensystem, das den Körper steuert.

Sie werden im nächsten halben Jahr in Hamburg arbeiten. Welche Pläne verfolgen Sie dort?

Stelarc: Ich habe drei Projekte, aber ich weiß noch nicht, welches sich letztlich wirklich realisieren läßt: Ich möchte - das ist die erste Idee - eine neue "Dritte Hand" bauen, die statt drei Freiheitsgraden wie bisher elf hat. Sie sollte die Fingerbeugung, die Drehung des Handgelenks und die Daumenrotation ermöglichen. Jeder Finger sollte sich öffnen und schließen können und mit einem Vakuum-Greifer ausgerüstet sein.

Dann arbeite ich zur Zeit auch an etwas, das ich Motivar nenne. Es ist ein Avatar, der mit künstlicher Intelligenz ausgestattet ist. Dieser Agent kann auf den Körper zugreifen. Normalerweise ist das ja umgekehrt: der physische Körper definiert den imaginären, virtuellen Körper, eben den Avatar. Beim Motivar wird der Körper zum Agenten des Avatar. Der Avatar wird sich nicht nur bewegen, sondern auch Gefühle ausdrücken können.

Und schließlich möchte ich ein drittes Ohr machen, das Teil meines Kopfes sein wird. Es wird nicht eine Prothese sein, sondern soll aus Fleisch und Blut bestehen. Man müßte dazu einen Ballon unter meine Kopfhaut einpflanzen und ihn über eine gewisse Zeitspanne langsam dehnen. In den so entstehenden Raum müßte man eine knorpelartiges Implantat einfügen. Dann müßte ein plastischer Chirurg das Ohr formen. Dieses Ohr könnte nicht wirklich hören. Wir würden einen Sound Chip und einen Sensor einbauen. Jeder, der sich ihm nähert, könnte etwas hören. Am Schluß würde das künstliche Ohr dem natürlichen Ohr Nonsens einflüstern ...

Vermutlich führt ihre Arbeit auch zu Mißverständnissen - gerade in einer Zeit wie heute, in der S/M-Erfahrungen geradezu eine Mode geworden sind.

Stelarc: : Ja, diese Mißverständnisse passieren tatsächlich. Merkwürdigerweise habe ich gerade unter den S/M Leuten an der amerikanischen Westkünste viele Anhänger, vor allem natürlich in San Francisco selbst. Aber mir geht es wirklich nicht um eine S/M-Erfahrung, sondern darum herauszufinden, was der Körper und was die Idee des Geistes ist. Wenn wir die Haut durchstoßen, dann ist die Haut nicht mehr einfach die Grenze des Selbst oder der Anfang der äußeren Welt. Der Körper erfährt eine Erweiterung.

Mit Hilfe der Nanotechnologie wird es in Zukunft miniaturisierte Maschinen geben, die sich frei im Körperinneren bewegen können. Wir können den Körper so mit kleinen Robotern kolonialisieren. Diese Roboter würden zum Beispiel krankhafte Veränderungen aufspüren - seien es krebsartige Wucherungen oder verstopfte Gefäße. Heute gibt es ja einen riesigen Graben zwischen dem Wissen, das wir über den Körper besitzen, und den effektiven Möglichkeiten. Das zeigt sich zum Beispiel beim Krebs. Ein internes Warnsystem könnte Veränderungen im Körper frühzeitig entdecken und viele dieser Störungen sogar selber beheben.

Es gibt bei Ihnen diese extrem enge Verbindung zwischen Kunst und Technologie. Das merkte man auch bei ihrem Aufenthalt in Zürich, als Sie von den Forschern des Artificial Intelligence Laboratories an der Universität Zürich zu einer Gastvorlesung eingeladen wurden.

Stelarc: Ich habe immer Prothesen und Roboter benutzt. Ich weiß, wo die Wissenschaft genau steht, was "state of the art" ist. Darum sind die Wissenschafter auch so fasziniert. Ich konnte beispielsweise vor Jahren einmal meine "Dritte Hand" am Jet Propulsion Laboratory am Johnson Space Center in Houston/Texas vorstellen. Heute ist meine Dritte Hand natürlich nicht mehr sehr modern ... Ich möchte sie übrigens gerne verkaufen.

Man würde ja meinen, die Wissenschafter hätten all die Dinge, die Sie als Künstler benutzen, längst ausgereizt.

Stelarc: Einige davon haben tatsächlich richtige Erfahrungen mit Dingen, die ich benutze. Aber die meisten haben keine Erfahrungen aus erster Hand. Dann sind sie oft auf einzelne, sehr spezifische Fragen fixiert. Interessant ist, daß viele Wissenschafter meine philosophischen Ansichten in Bezug auf den menschlichen Körper teilen. Auch in der Wissenschaft kommt man immer mehr davon weg, den menschlichen Körper als platonisches, cartesianischen oder freudianisches Konstrukt zu sehen. Diese Konzepte gehen davon aus, daß es im Inneren des Menschen etwas gibt, das ihn steuert. Das kann eine Art Homunculus sein - bei Freud wird dann der Homunculus ersetzt durch die Idee vom Über-Ich, von unterdrückten Gefühlen usw. Wir müssen uns von diesen Ideen verabschieden, ohne gleich der Horrorvision eines Frankensteinhaften Körpers zu verfallen.

...und stattdessen welche Idee akzeptieren?

Stelarc: Ich kann das mit einer Geschichte aus der Roboterforschung erklären. Heute glaubt niemand mehr, man könne Roboter mit großen Hirnen bauen, denen gewissermaßen ein Weltmodell eingebaut ist. Stattdessen verfolgt man einen ganz anderen Weg und baut viele kleine Roboter mit relativ geringem technologischen Aufwand. Diese Roboter bilden Systeme, die sich selber steuern. Die Roboter erfahren ihre Außenwelt mit Sensoren. Die Sensoren sind damit ein Teil des Systems. Auf diese Weise können mit einem relativ einfachen Setup schon recht komplizierte Systeme und Verhaltensmuster entstehen. Auf den Menschen übertragen heißt das: alles was wir sind, ist letztlich das Resultat von Interaktionen mit anderen Individuen. Das Geheimnis dahinter liegt im System als Ganzem, nicht im Individuum.

Das führt zur Frage: was ist das Spezifische am Menschen?

Stelarc: Ideen wie Seele, Geist etc. sind kulturelle Konstrukte. Man kann die Ideen eines Geistes in der Welt durch Interaktionen erklären. Wir haben einfach die Tendenz, unsere Ideen nach außen zu projizieren. Geist ist ein kulturelles Konstrukt, nicht etwas, das per se schon existiert.

... und die Seele?

Stelarc: Ich glaube nicht, daß wir eine Seele haben!

... was macht also den Menschen aus?

Stelarc: Es ist nicht nur die Kodierung der Information in unseren Zellen oder unsere Chemie. Was uns einzigartig macht, ist die Technologie. Wir haben zwei Hände, um damit Artefakte, Instrumente und Maschinen zu bauen. Technologie ist nichts Fremdes oder Anderes. Man kann Technologie und Körper nicht trennen. Technologie ist ein Teil des Menschen.