Rußlands korrupter Attraktor: die Schattenwirtschaft

Kampf zwischen den alten und neuen Strukturen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Trotz der großen, unlängst vom IWF versprochenen Kredite von 22 Milliarden Dollar sind Rußlands Finanzmärkte am Donnerstag wieder einmal durchgesackt. Kurzzeitig wurde die Börse geschlossen. Ein Auslöser für die Nervosität der Investoren war sicherlich George Soros, der in einem Brief an die Financial Times gewarnt hatte, daß sich die Finanzkrise Rußlands einem kritischen Punkt nähere, und die G7-Staaten dazu aufforderte, einen weiteren Kredit über 15 Milliarden Dollar in das marode Finanzsystem des Landes zu stecken. Soros sprach sich für eine Abwertung des Rubels aus.

Eine der Hauptschwierigkeiten der russischen Regierung ist die Erhebung von Steuern, um den Schuldenberg abtragen zu können. Der von Yeltsin favorisierte Ministerpräsident Sergei Kiriyenko mahnte zwar, man müsse die eingeschlagene Richtung der Haushaltskonsolidierung und der Steuererhebung weiter verfolgen, aber es ist unsicher, ob er damit Erfolg haben wird. Der russische Wirtschaftsminister Oleg Vyugin hob zwar hervor, daß in den ersten 11 Tagen des August mehr Steuern eingezogen wurden als im selben Zeitraum ein Jahr zuvor, aber er gab keine exakten Zahlen an. Artur Schmidt erörtert einige der Gründe für die wirtschaftliche und politische Krise Rußlands.

Bei wirtschaftlichen Transformationsprozessen gibt es einen Kampf darum, wer die größte Macht anhäufen kann, um diese in Kapital zu verwandeln. Bestechung, Korruption und Morde sind heute in Russland Ausdruck dieses Kampfes zwischen alten und neuen Strukturen. Hierbei wird die alte Symbiose zwischen der staatssozialistischen Planwirtschaft und dem Untergrundkapitalismus in Osteuropa abgelöst durch den Kampf zwischen der sich gerade formierenden Marktwirtschaft und der mafiamäßig organisierten Schattenwirtschaft.

Die östlich-kriminelle Unterwelt übernahm innerhalb kürzester Zeit all diejenigen Geschäfte, für die die sizilianische Mafia über ein Jahrhundert gebraucht hatte. So umfaßt der russische Untergrund-Kapitalismus heute ein vernetztes System von Schutzgebern, Zwischenhändlern, mafiosen Unternehmern, Schiebern, Geldwäschern, Spekulanten, Waffenhändlern, Drogenproduzenten, Menschenhändlern und korrupten Bankiers. Über Rußlands Grenzen floriert der Schmuggel sämtlicher Ressourcen, einschließlich Computerprogrammen. Das Geld aus diesen Transaktionen wird in ausländischen Großbanken reingewaschen.

Aufgeweichter Totalitarismus

Die alte Abhängigkeit der Bevölkerung von den Bürokraten ist auch in der Marktwirtschaft nicht untergegangen. Für den russischen Sozialanthropologen Anton Koslov läßt sich das russische System deshalb als ein aufgeweichter Totalitarismus beschreiben. Es gibt nahezu kein gewinnbringendes Geschäft oder einen Krisenherd, der nicht von der russischen Mafia bedient würde.

Interessant an diesen Netzwerksystemen ist, daß sie ein hohes Maß an Effizienz aufweisen, wie es normalerweise nur bei hervorragend geführten Unternehmen anzutreffen ist. Korrupte Beamte, halblegale Geschäftspraktiken und der Transfer der mächtigen Gewinne in Geldwaschanlagen schließen jedoch einen Großteil der Bevölkerung vom Wohlstand aus und führen zu einer Ressourcenkonzentration in den Händen weniger, die sich auch nach Abschluß der Transformationsphase zur Marktwirtschaft nicht sofort beseitigen lassen wird.

Es wird Jahrzehnte in Anspruch nehmen, bis die Zweigleisigkeit der russischen Ökonomie, der Dualismus zwischen Schattenwirtschaft und Marktwirtschaft, wie auch das Beispiel Italien zeigt, abgebaut werden kann. Weder der Kapitalismus noch der Kommunismus haben in Rußland momentan gesiegt, sondern die Schattenwirtschaft, die von Yeltsin toleriert wird, um die Macht zu sichern.

Vom Kasernensozialismus zum Yeltsinismus

Russlands überlebenswichtige Frage wird sein, wie die heute vorherrschende quasi-demokratische Oligarchie, die von einigen wenigen Politikern, Industrie- und Mafiabossen beherrscht wird, in eine demokratische und soziale Marktwirtschaft transformiert werden kann. In Rußland werden die Märkte nicht von den Kunden getrieben, sondern von den Attraktoren der Machtanhäufung und der Korruption. Daß die 7 größten Banken etwa die Hälfte der russischen Wirtschaft kontrollieren ist nicht weiter verwunderlich, da es nahezu keine mittelständischen Unternehmer gibt.

In nur etwa 10 Jahren hat die Vermögensdisparität in Rußland ebenso stark zugenommen wie in den westlichen Industriestaaten, wofür diese immerhin 50 Jahre benötigten. Die Realeinkommen sind auf ein Drittel der 80er Jahre und der Lebensstandard in den meisten Regionen ist auf Niveaus gesunken, wie sie vor Jahrzehnten in Rußland anzutreffen waren. Da dem russischen Volk systematisch die Vermögenswerte entzogen werden, ist es kein Wunder, daß die Wirtschaft auf der Hälfte des Niveaus von 1989 stagniert. Renten und Gehälter wurden auf 40 % oder weniger ihres ursprünglichen Wertes zurückgestuft.

Die Auslandsschulden sowie die Inlandsverschuldung Rußlands sind in den letzten Jahren geradezu explodiert. Zusammen mit der Korruptionsproblematik lassen sich die gleichen Krisenerscheinungen ausmachen, wie sie in Lateinamerika in den 70er und 80er Jahren anzutreffen waren. Für die "European Bank of Reconstruction and Development" hat Rußland die korrupteste Ökonomie der Welt, bei der nur Spieler und Lebensmüde kurzfristig Gewinne einfahren können.

Yeltsin, der einst die Demokratie rettete und heute nur noch um seinen Machterhalt bemüht ist, avanciert immer mehr zum größten Gefahrenherd für Rußland. Der Mann, der 1996 etwa fünf mal so viel für seinen Wahlkampf ausgab wie Bill Clinton in den USA, ist immer weniger in der Lage für Rußland die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen. Seine Machtfülle wird immer mehr zu einem unkontrollierbaren Risiko, da sie jedem potentiellen Nachfolger Instrumente in die Hand gibt, das Land in noch schlimmerer Weise zu manipulieren. Nicht nur berichten die Medien äußerst präsidentenlastig, auch das gesamte System der Gewaltenteilung in Rußland ist unterentwickelt, was im Falle einer Krise zu ernsthaften Auswirkungen führen könnte. Hierbei ist vor allem die Frage zu stellen, wer im Falle einer ernsthaften Krise die Arsenale nuklearer, biologischer und chemischer Waffen kontrolliert.

Auch Rußlands Behörden wollen lauschen

Was ist zu tun?

Rußland benötigt einschneidende Reformen. Sämtliche Kredithilfen werden ergebnislos verpuffen, wenn nicht neue Spielregeln eingeführt werden, die eine klare Trennung zwischen der Ökonomie und der politischen Macht erlauben. Es kann keine soziale Marktwirtschaft geben, wenn der Bürokratismus über den Gesetzen steht und das Bruttosozialprodukt von einigen wenigen kontrolliert wird.

Per Gesetz muß die Macht der großen Öl- und Gas-Imperien umgehend eingeschränkt werden. Hierbei gilt es, deren Aktivitäten transparent zu machen und einer Kontrolle durch die Öffentlichkeit zu unterstellen. Das gegenwärtige ökonomische System, das von korrupten Insidern gelenkt wird, die die Rechte der Bürger mißachten, muß radikal reformiert werden. Es müssen Rechtsgrundlagen geschaffen werden, die helfen, korrupte Manager aus verantwortlichen Positionen zu entfernen. Marode Staatsunternehmen müssen geschlossen bzw. aufgelöst werden, bürokratisch geführte Staatsunternehmen benötigen eine umgehende Privatisierung. Daneben sind die sogenannten Monopolunternehmen in kleinere Einheiten aufzuspalten, um den Wettbewerb innerhalb der Wirtschaft zu forcieren. In Rußland ist auch dringend eine Landreform nötig, da momentan oligarchische Großgrundbesitzer auch einen Aufschwung im landwirtschaftlichen Sektor verhindern.

Ohne lokale Initiativen und die Förderung von Entrepreneurship kann kein tragfähiger Mittelstand aufgebaut werden, der zu Eigentum und freiem Wettbewerb, und in der Folge zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, führt. Rußland braucht dringend unregulierte Preise, eine stabile Währung und geringe Inflationsraten, um für internationale Investoren von Interesse zu sein. Ohne die Rahmenbedingungen: geringe Steuern, Venture Capital, eine freie Presse sowie unabhängige Gerichte wird es nicht gelingen, den aktuellen Attraktor Schattenwirtschaft zu überwinden und eine soziale Marktwirtschaft zu etablieren.