Politische Wende im Baltikum?

Die neue estnische Regierung unter Ministerpräsident Jüri Ratas. Bild: Estnische Regierung

In Litauen und Estland sind russlandfreundlichere Regierungsparteien am Start

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Am Mittwoch wurde in Estland eine neue Regierung vereidigt. Die Koalition zwischen der liberal-konservativen Reformpartei, der konservativen "Vaterlands-Partei" (IRL) und den Sozialdemokraten zerbrach an sozialen und ökonomischen Fragen sowie an dem Einfluss der Reformpartei auf Staatsunternehmen.

Premierminister Taavi Rovas wurde am 9. November mittels Misstrauensvotum seines Amtes enthoben, somit wird die Reformpartei nach 17 Jahren Regierungsbeteiligung erstmals wieder Oppositionspolitik betreiben müssen.

Die verbliebenen beiden Parteien bildeten mit der politisch diffus ausgerichteten Zentrumspartei eine neue Dreierkoalition. Jüris Ratas, der neue Parteichef der Zentrumspartei, wurde Premierminister. Er war lange Zeit der Vertraute von Edgar Savisaar, dem Gründer und Vater der Partei, die dieser von 1991 bis 2016 leitete und dominierte. Sie gilt als Interessensvertretung der russischen Minderheit in Estland, die je nach Quelle zwischen zwanzig und dreißig Prozent der Bevölkerung ausmacht.

Edgar Savisaar, der langjährige Bürgermeister von Tallin, käme als Spitzenpolitiker auf nationaler Ebene nicht mehr in Frage, da seine Partei seit 2004 Gelder von der Putin Partei "Einiges Russland" bekommt. Dass Savisaar auch nach der Krim-Annexion auf der Zusammenarbeit bestand, löste Kritik in Estland aus, hinzu kam ein Bestechungsskandal.

Der 38-jährigen Ratas, der Savisaar 2005 bis 2007 als Bürgermeister "ablöste", ist nicht mit dem Makel der Kreml-Nähe versehen. Russischkenntnisse, so die Auskunft seiner persönlichen Webseite, habe er nur elementare.

Im Parlament wurde er vor seiner Nominierung zur Situation in der Ukraine befragt. Die Annexion der Krim lehne er ab, die Verbindung zu "Einiges Russland" sei eingefroren, was in der Presse Russlands registriert wurde.

Der stellvertretende Vorsitzende der Partei, der in Kasachstan geborene Mikhail Kylvart, versprach bereits in der letzten Woche, die Einbürgerung von Kindern der russischen Minderheiten zu erleichtern. Zudem solle die russische Sprache in Estland aufgewertet werden. Kylvart, bislang stellvertretender Bürgermeister von Tallin, setzt sich auch stark für die Städtebeziehung zwischen St .Petersburg und der estnischen Hauptstadt ein.

Nach Angaben der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt ERR soll Putin vor Freude herumgesprungen sein, als er von der estnischen Regierungskrise hörte.

Die IRL nimmt grundsätzlich eine eher misstrauische Haltung zu ihrem Koalitionspartner ein. Scharfe Kritik kommt von dem Semiotiker Michail Lotman, der selbst russischstämmig ist. Er sagt, dass die Beziehung der Zentrumspartei zu "Einiges Russland" nicht wirklich unterbunden sei und weiterhin Treffen mit Russland stattgefunden hätten. Zudem soll die Putin-Partei die russischstämmige Bevölkerung weiterhin mit Geldern unterstützen, was nicht der Integration diene.

Ratas versucht nun, Distanz zu Savisaar zu halten. Die NATO- und EU-Mitgliedschaft wird als Garant von Estlands Sicherheit und Wohlstand unterstrichen.