Antisemitismus und die Verkehrung der Welt

Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Bild: Pim Zeekoers / CC-BY-SA-3.0

Das Gedenken an die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden ist gekapert. Die Neue Rechte weidet das Thema für sich aus. Impressionen und Reflexionen einer Tagung im Haus der Kulturen der Welt

Fair is foul, and foul is fair
Shakespeare, Macbeth

Gutgemachte Werbebotschaften zehren von der Ununterscheidbarkeit1 mit ihrem Gegenteil. Das Negative wird in die positive Aussage integriert. Das Zielpublikum wird auf einen Schlag vergrößert, und Widerspruch gegen die Message wird zwecklos. Ein altes Beispiel ist der heute weitgehend verschwundene Marlboro Man. Markig mit Lasso daherkommend, sieht er aus, als würde er den Männern das Versprechen auf mehr Männlichkeit geben. Falsch. Er sollte die Frauen zum Rauchen verführen.

Weniger harmlos ist ein heute wirksames Beispiel. Der Vorwurf des "Antisemitismus" ist derart abgedroschen, dass jede Bedeutungsverschiebung in ihn hineingelesen werden kann. Zunächst gilt das "Haltet den Dieb-Spiel": Antisemiten oder Nazis sind im öffentlichen Raum immer die anderen. Doch wenn die Bezichtigung reihum gegangen ist, bleibt folglich an jedem ein Stück Antisemitismus hängen. Ein Schimpfwort ist universell geworden, bis zum Ukraine-Krieg.

Das Wort ist auslegungsoffen, ist ambivalent. Der Vortrag, den der renommierte Vorurteilsforscher Sander L. Gilman ("Die jüdische Nase") auf der Tagung hielt, gipfelte in der Frage: Wer ist der Nazi, wer ist der Jude? So provokativ die Frage ist, kann sie doch durch das Phänomen des jüdischen Selbsthasses untermauert werden, dessen bekanntester Apologet, der Jude Otto Weininger, durchaus antisemitische Stereotypen abspulte.

Doch spätestens, wenn die Quidproquos dazu führen, die Unterschiede zwischen Täter und Opfer zu verwischen, sollte gegengesteuert werden. Das schließt nicht aus, dass im Zuge der Erinnerungsarbeit der oder die jeweils Andere mitgedacht wird, wenn es darum geht, die eigene Identität – wieder – zu gewinnen. Jeder kann sich selbst die Frage stellen, wie er gehandelt hätte, wenn er in der gleichen Situation wie der/die Andere gestanden hätte.

Aber der Umgang mit dem Opfer-Begriff ist inflationär. Das Gedenken ist zum hohlen Ritual geworden. Mit allen anderen verschwindet das Thema in der Medienmaschine. Der Hype ist vorbei. Die Fernsehbilder von Kranzschleifen zupfenden Honoratioren ermüden. Es rächt sich, dass die Vergangenheitsbewältigung an staatliche und halbstaatliche Instanzen delegiert worden war. Die Gedenkkultur von oben wird von Jüngeren als autoritär empfunden. Den Wächtern über die Vergangenheit kommt ihr Erinnerungsportefeuille abhanden.

Eine Änderung brachten die Zweitausenderjahre mit sich. Deutschland heimste im Ausland – seltenes – Lob für seine Erinnerungskultur ein. Selbstzufriedenheit machte sich breit. Hatte man in den Jahrzehnten nach 1945 den Holocaust so weit wie möglich beschwiegen – man hatte ja von nichts etwas gewusst – wird er heute durch deklamatorisches Bekennen erledigt.

Mit dem Schuldkult lässt sich gut leben. Die sachliche Beschäftigung mit der Geschichte vor '45 wird von der Erinnerungskultur erstickt. Das ist kein Argument gegen Gedenkstätten, aber ihre Funktionen und Rezeptionsweisen sind zwiespältig und sollten reflektiert werden.

"Gedenkphrasen werden von genau jenen Akteuren aufgesagt, die antidemokratische, xenophobe und oft antisemitische Politiken verfolgen."2 Die Bedeutungsverschiebung ist nun komplett. Das Wort Antisemitismus wird von seinem xenophoben und rassistischen Inhalt abgezogen und dem Gegenteil, den demokratischen, liberalen Kräften untergeschoben, um ungehindert und gleichsam namenlos den Rassismus und die Xenophobie walten zu lassen, die man bewusst ausgeblendet und überspielt hat.

Die Neue Rechte inszeniert ein Schattenboxen: Die bürgerlichen Parteien tun auf einmal nicht genug gegen den Antisemitismus, wie an einem Beispiel3 gezeigt werden wird.

Dieses zeichentheoretische Kabinettstück macht die AfD zur "Anti-Antisemitismus-Partei". Sehr griffig dazu ein Slogan der Partei von 2019: "Antisemitismus bekämpfen – AfD wählen." In diesem Kontext wird auf Juden in der AfD verwiesen.

Die Rechte positioniert sich demnach gegen den Antisemitismus, um die Rede vom christlich-jüdischen Abendland zu schwingen und abgesichert zu sein gegen den Vorwurf der Diskriminierung von Minderheiten. Dafür bleiben noch genug andere Ethnien übrig. Die logischen Winkelzüge sollen ein Ticket zu Übergriffen etwa gegen Geflüchtete liefern.

Verkannt wird jedoch, dass die Antisemitismusforschung im Verbund mit der Vorurteilsforschung von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen hat, dass die Grundmuster der Diskriminierung und Verfolgung die gleichen sind unabhängig von der Ethnie auf die sie sich beziehen. Die Objekte der Verfolgung sind austauschbar. Jedes passt in das Framing.

Ein Höhepunkt der Camouflage, des Überspielens des eigenen Antisemitismus, wird auf der symbolischen Ebene erreicht, wenn Impfgegner sich die Nachbildung eines Judensterns anheften und demonstrativ in die Opferrolle schlüpfen. Zynisch wird ihre Anmaßung geradezu, wenn sie den Impfzwang mit den Experimenten des KZ-Arztes Mengele in eins setzen. Dieser Zynismus zerstört durch Aneignung das Gedenken an die wahren Opfer.