100.000 Opfer eines schmutzigen Kriegs

Seite 2: Militarisierung und Leichen ohne Ende

Der Bericht der UN-Delegation gibt konkrete Empfehlungen, die Mexiko als Staat umsetzen könnte, um die gravierende humanitäre Krise im Land zu lösen – oder wenigstens zu lindern.

Ein Kernproblem, dass die Menschenrechtler:innen anführen, ist die stete Militarisierung des Landes. Bewohner:innen der Hauptstadt dürfen sich seit wenigen Monaten wundern, wenn sie am Flughafen einkehren. Denn dort hausieren nun 500 Marinesoldaten. Warum? Offiziell sollen sie "Akte der Korruption" verhindern.

Wie effektiv das sein kann, wenn dieselbe Entität ständig in besagte Akte der Korruption verwickelt ist, bleibt schleierhaft. Dann ist da noch die Schaffung der Guardia Nacional. Das ist eine Art Hybridwesen aus Militär und Polizei. Deren Sinn und Zweck verstehen die meisten Mexikaner:innen, welche der Autor dieses Artikels dazu befragt hat, nicht so richtig. Dennoch: Die Militarisierung des Alltags ist deutlich spürbar.

Dann sind da noch die Leichen. Diese Berge an leblosen Körpern, Männer und Frauen, manchmal ganz, manchmal halb. Der UN-Bericht zählt 52.000 nicht identifizierte Leichen im Land und prangert eine forensische Krise an. Seite sechs des Berichts hält fest: "Nach Angaben mehrerer befragter Experten würde es unter den derzeitigen Bedingungen 120 Jahre dauern, sie zu identifizieren, ohne die täglich neu hinzukommenden Leichen mitzuzählen."

"Es sind jetzt kleine stark verkohlte Fragmente"

Die besondere Grausamkeit des Verschwindenlassens besteht darin, dass es ein "perfektes Verbrechen" ist: Es gibt keine Spur der Person. Der wichtigste Beweis – das Opfer – fehlt. Es ist, als hätte ein Mensch nie existiert.

Die mexikanische Investigativjournalistin Marcela Turati, die mit der Spionagesoftware Pegasus ausgespäht wurde, bringt das Entsetzen auf den Punkt. In einem Interview, das im kürzlich erschienenen Buch "Geografie der Gewalt: Macht und Gegenmacht in Lateinamerika" nachzulesen ist, beschreibt sie die Evolution der Gewalt in Mexiko:

Zuerst haben wir nur über Ermordete geredet, dann haben wir angefangen, über Verschwundene zu reden (…) Jetzt sind wir bei den Gräbern, in denen es nicht einmal mehr Leichen gibt. Es sind jetzt kleine stark verkohlte Fragmente.

Zahlen des Schreckens

  • Über 100.000 Verschwundene zählt Mexiko aktuell
  • Knapp 52.000 Leichen sind unidentifiziert
  • Laut Expert:innen würde es nach dem jetzigen Arbeitsrhythmus der mexikanischen Forensik 120 Jahre dauern, diese zu identifizieren (ohne neu dazugekommene Fälle zu zählen)
  • Nur rund zwei bis sechs Prozent der Fälle des Verschwindenlassens werden strafrechtlich verfolgt
  • In lediglich 36 Fällen auf gesamtstaatlicher Ebene kam es zu Verurteilungen
  • Seit dem "Drogenkrieg" 2006 stiegen Fälle des Verschwindenlassens um 4.086 Prozent an
  • Seit dem Jahr 2000 wurden 156 Journalist:innen in Mexiko aufgrund ihrer Arbeit ermordet
  • In der ersten Jahreshälfte 2022 waren es bereits elf – mehr als im Krieg in der Ukraine
  • Im Durchschnitt verschwinden 25 Menschen täglich in Mexiko