11. Nacht: 1408 verbrannte Autos
Die Randalierer, die brennenden Städte und der mediale Erfolg
Ob die Unruhen der Jugendlichen in den französischen Städten durch die Äußerungen des ordnungsfanatischen Innenminister Sarkozy ausgelöst wurden oder durch die wie auch immer begründete Flucht von Jugendlichen vor der Polizei, die mit zwei Toten in einer Transformatorenhäuschen endete, ist nicht egal. Aber es war nicht viel nötig, um den schon seit Jahren schwelenden Konflikt zu entfachen, mit dem einerseits eine auf Angst basierte und fremdenfeindliche Law-and-Order-Politik unter dem Zeichen des Kampfes gegen die Unsicherheit betrieben wurde und andererseits die Aussichtslosigkeit der in den Gettos Eingeschlossenen weiter gewachsen ist.
Vermutlich wissen die meisten Jugendlichen, die sich an den nächtlichen Unruhen beteiligen, abgesehen von den Kriminellen, die auf Plünderungen aus sind, nicht, was sie mit ihren Aktionen wirklich erreichen wollen. Sarkozy bildet nur einen schnellen gemeinsamen Nenner, auch mit dessen Absetzung würde nichts anders werden. Der Vandalismus, die überbordende Destruktivität, ist ein Produkt des Hasses, aber wohl auch der Langeweile und der Verzweiflung, von dem, was andauernd an schönem Leben von den Medien und in den Städten vorgeführt wird, ausgeschlossen zu sein. Immerhin sind dort über 30 Prozent der Jugendlichen arbeitslos, teils auch mit guter Ausbildung. Doch mit diesen Motiven vermengen sich die sozialen Verstärkereffekte durch Politik und vor allem Medien, die eifrig und minutiös die Hitliste der "violences urbaines" erstellen. Gestern beispielsweise: Onzième nuit de violences: 1.408 véhiculés incendiés oder 11e nuit violences : 839 véhicules incendiés, 186 interpellations.
Nachdem die erste Nacht oder die ersten Nächte, zuerst noch am Ausgangsort Clichy-sous-Bois erfolgreich verlaufen waren, steckt das auf allen Medien und in allen Zeitungen buchstäblich entzündete Echo auch weitere Jugendliche an, durch dasselbe Verhalten, dass offenbar relativ sicher im Schutz der Dunkelheit und einer noch relativ vorsichtig agierenden Polizei ausgeführt werden kann, eine ähnliche Aufmerksamkeit zu gewinnen. Inzwischen haben sich die Randalierer landesweit ausgebreitet. Die Medien zeigen auf den Titelblättern und zu Beginn der Nachrichten die in der Nacht lodernden Feuer, die ästhetisch faszinieren, zählen auf, wo wie viele Autos oder Gebäude abgefackelt wurden, und schaffen eine kollektive, nicht mehr nur nationale, sondern internationale Aufmerksamkeit, das dem Abenteuer, mit dem sich nun Nacht für Nacht ein aufregender Sinn des Lebens und für die Wirklichkeit finden lässt, eine Grundlage von Bedeutung und auch Leistung verschafft. Zudem erzeugt das "Leben am Vulkan", bei dem man seinen Mut und sein destruktives Können demonstrieren kann, auch ein neues Gefühl der Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit in den Gettos, in denen sonst die Gewalt nach innen gerichtet wird. All das mag auch dann für eine Weile zufrieden stellend sein, wenn die Randalierer vor allem Autos und Gebäude zerstören, die sich in ihrer Reichweite befinden, sie also gerade auch die Menschen und Institutionen treffen, die mit ihnen leben und auch etwas für sie tun.
Solche Eruptionen haben immer wieder einmal stattgefunden. In Paris gehen solche Aufstände der Armen weit zurück. Auch um sie besser bekämpfen und verhindern zu können, hatte man das alte Paris mit seinen engen und unübersichtlichen, nicht zu kontrollierenden Gassen und Straßen im 19. Jahrhundert durch breite Boulevards geöffnet. Und auch die Siedlungen in den Banlieues wurden angelegt, um die Armen möglichst aus der Stadt zu halten. Aber räumliche Distanz zwischen arm und reicht kann im Medienzeitalter, in dem die Bilder vom anderen Leben permanent in den letzten Winkel vordringen, die Ungerechtigkeit nicht mehr verdrängen. Seit den 80er Jahren nennt man die Gettos in den Banlieues "Zonen der Unsicherheit". Verwunderlich ist oft allerdings auch, wie viel Menschen aushalten, ohne zu rebellieren, ohne in die Destruktivität zu verfallen, die ihnen als gesellschaftlich Überflüssige und Aussätzige entgegenschlägt. Jugendliche neigen am schnellsten dazu, haben am wenigsten Angst vor den Folgen und am stärksten den Wunsch nach Abenteuer, nach einem Ausbruch aus dem ohnmächtigen und grauen Alltagsleben.
Erleichtert wird der Vandalismus, ist er einmal entfacht, nicht nur durch die Dauerbeobachtung der Medien, sondern auch durch die Zurückhaltung der Ordnungskräfte. Auch wenn die Regierung davon spricht, weiterhin mit Härte gegen die Randalierer vorzugehen und zuerst die Ordnung wiederherzustellen, und Sarkozy daran festhält, dass die von ihm Gemeinten Gesindel sind, fürchten alle, dass ein weiterer Toter, der mit den Sicherheitskräften verbunden ist, das Feuer noch stärker entfachen würde. Andersherum wäre es nicht anders. Es wurde bereits mit Schrotgewehren auf Polizisten geschossen. Es gab über 30 Verletzte. Aber vermutlich würde mit dem ersten Toten, egal auf welche Seite, der Konflikt weiter eskalieren und sich verfestigen.
Umschlag in eine permanente Revolte?
Manche sprechen bereits von dem Beginn einer möglichen Intifada, also von jahrelangen Konflikten, die neben Ausbrüchen von Vandalismus und Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und Polizisten auch zu stärker organisierter Gewalt etwa in Form von Anschlägen führt. Mit zunehmender Eskalation, wie das israelisch-palästinensische Beispiel zeigt, gewinnen die Extremisten auf beiden Seiten an Stärke und radikalisieren sich die Gruppen. Dass die Eindämmung und Gettoisierung ebenso wenig langfristige Lösungen sind wie hartes und militärisches Vorgehen, wird im Nahen Osten täglich demonstriert.
Die französische Regierung scheint ratlos vor dem entfesselten Hass. Sie kann eigentlich nur darauf hoffen, dass die Unruhen wieder einschlafen, weil es den Beteiligten zu aufwändig oder das Wetter schlechter wird, und die Trabantenstädte, in die man die sozial Schwierigen, Unerwünschten und Überflüssigen abgeschoben hat, wieder zu ihrer Normalität zurückkehren.
Hinter den Unruhen steht auch, dass die französische Gesellschaft, einst Kolonialstaat und daher auch mit dem Problem der muslimischen Menschen aus dem Maghreb und aus Schwarzafrika besonders konfrontiert, die Einwanderer nicht zu integrieren vermochte. Dazu kommt, dass es zwischen einer - wie auch im Resteuropa - halbwegs aufgeklärten Gesellschaft, obzwar mit viel dumpfer Fremdenfeindlichkeit, ambivalent gespeist aus Angst und vermeintlicher Überlegenheit, und einer religiösen, extrem autoritär und männerdominierten Kultur, die zur Gewalt neigt und mit einer schnellen Integration Schwierigkeiten hat, ohne Bemühungen von beiden Seiten keine Annäherung stattfinden wird, wenn mit steigender Arbeitslosigkeit das Versprechen auf Teilhabe am Wohlstand nicht mehr alles zudecken kann.
Wenn die Unruhen nach dem Wochenende abebben sollten, wird man noch eine Weile über das Problem und Möglichkeiten diskutieren, wie man es beheben könnte. Geschehen wird nicht viel, denn dazu müsste sich die Gesellschaft wandeln und Integration sowie Chancengleichheit schaffen, sowie die sich weitende Kluft zwischen arm und reich schmälern. Danach sieht es nirgendwo aus, es würde auch entschlossene und über viele Jahre gehende Reformarbeit auf allen Ebenen voraussetzen. Wer hat schon diesen langen Atem, wenn immer wieder Wahlen und Rückschläge anstehen und ähnliche Konflikte in vielen Ländern vorhanden sind?
Am einfachsten würden sich die meisten Probleme dann lösen, wenn die Wirtschaft boomt und alle am Wohlstand teilhaben können oder zumindest das Versprechen glaubhaft wäre. Diese Wunderformel, auf die alle Politiker, auch hierzulande, zur Lösung der Probleme hoffen, ist derzeit wohl nicht realistisch und auch keine realistische Zukunftsperspektive. Man wird also die Polizei und die Überwachung verstärken, die Angst vor der Unsicherheit schüren und den Konflikt zumindest schwelen lassen, was der Radikalisierung der Menschen in den Banlieues und außerhalb weiteren Auftrieb geben wird. Und dann wird es wieder einmal platzen.