15 Jahre Hatun Sürücü: Mythen und Fakten zu "Ehrenmorden"
Seite 2: Sind Ehrenmorde ein islamisches Phänomen?
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- Sind Ehrenmorde ein islamisches Phänomen?
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In der Medienberichterstattung wird neben dem Migrationshintergrund vor allem ein Charakteristikum der Täter genannt: ihre Religion. Kultur- und Religionswissenschaftlers zufolge sind Ehrenmorde dennoch kein explizit islamisches Phänomen. Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes schreibt in einer Untersuchung zum Thema:
Verbrechen im Namen der Ehre sind kein explizit religiöses Phänomen. (…) Die Wurzeln dieser Taten aber liegen in ländlichen Gegenden mit einer eher archaisch-patriarchalen Sozialstruktur.
Terre des Femmes
Auch Zahlen der Vereinten Nationen zeigen: Ehrenmorde werden nicht nur in mehrheitlich islamischen Ländern begangen. Neben der Türkei oder Pakistan sind Ehrenmorde auch in Indien sowie Süd- und Lateinamerika verbreitet.
Warum werden dann trotzdem die meisten Ehrenmorde in Deutschland von Muslimen begangen? In seiner Untersuchung "Die Gewalt der Ehre" schreibt der Kulturwissenschaftler Werner Schiffauer, dass dies weniger mit der Religion als mit dem Umstand zu tun haben dürfte, dass die meisten Täter aus ländlichen Regionen im Osten der Türkei stammen.
Was die betroffenen Regionen eint, sei nicht ihre Religion. Stattdessen finden sich Ehrenmorde besonders häufig dort, wo bäuerliche Gesellschaften und fehlende staatliche Strukturen aufeinandertreffen. In seinem Buch "Die Gewalt der Ehre" erklärt Schiffauer: Wo es an staatlicher Ordnung mangele, wird die Familie zur wichtigsten politischen Einheit und deren Ehre zum wichtigsten Kapital im sozialen Gefüge. Die Beseitigung einer Ehrverletzung diene damit oftmals der Absicherung der eigenen Position im sozialen Gefüge.
Dass dabei "islamisch" eine nicht übermäßig relevante Variable ist, zeigt gerade der Blick in den Osten der Türkei. Unter den ost-anatolischen Tätern finden sich nicht nur türkische und kurdische Muslime, sondern genauso Jesiden und syrisch-orthodoxe Aramäer. Auch islamische Theologen verweisen darauf, dass sich im islamischen Recht keine Bestimmungen finden, die Ehrenmorde vorsehen oder begünstigen.
Gibt es einen Kultur-Rabatt für Ehrenmörder?
Noch eine Theorie hat sich seit dem Mord an Hatun Sürücü und der Verurteilung ihres Bruders zu einer Jugendstrafe von neun Jahren und drei Morden in der Berichterstattung über Ehrenmorde etabliert: die Annahme eines "Kultur- oder Islam-Rabatts". Demnach würden Richter aus Rücksicht auf vermeintliche kulturellen Gepflogenheiten besonders milde Urteile für Täter mir Wurzeln in islamischen Ländern verhängen. Größere Aufmerksamkeit erregte zum Beispiel ein Fall aus dem Jahr 2014, über den die Bild-Zeitung berichtete.
Ob an der Theorie etwas dran ist, hat ebenfalls die Rechtswissenschaftlerin Julia Kasselt untersucht. Die Kriminologin hat in ihrer Dissertation 63 Fälle von Ehrenmorden und 91 Fälle von klassischen Beziehungstaten ausgewertet. Ihr Ergebnis: Ehrenmörder erhielten im Durchschnitt nicht geringere, sondern höhere Freiheitsstrafen.
38 Prozent der Ehrenmörder erhielten eine lebenslange Freiheitsstrafe. Bei vergleichbaren Partnertötungen waren es nur 23 Prozent. Eine Strafe zwischen 12,5 und 15 Jahren erhielten 17,5 Prozent der Täter bei Ehrenmorden. In der Vergleichsgruppe waren es nur 10 Prozent.
Außerdem stellte Kasselt fest: Seit 2002 verhängen Richter immer höhere Strafen für Ehrenmorde. Bei vergleichbaren Tötungsdelikten fand sich dieser Trend nicht. Gegenüber vergleichbaren Tötungsdelikten gibt es also meist keinen Rabatt für Ehrenmörder, sondern einen Strafaufschlag.