17-Jähriger macht 72 Millionen Dollar an der Börse
Wenn eine mediale Wirklichkeitskonstruktion zerbricht
Bilden Medien die Wirklichkeit ab oder erzeugen sie Wirklichkeit? Die Frage ist alt und viel diskutiert, doch immer wieder, wenn bekannt wird, dass eine Nachricht sich als falsch herausstellt, wird klar, welche Bedeutung der Frage zukommt.
Am Montag ging eine Meldung um den Globus. Ein 17-jähriger New Yorker Schüler soll 72 Millionen US-Dollar an der Börse verdient haben. Nachdem ein US-amerikanisches Medium die Geschichte brachte, gab es in der Medienwelt kein Halten mehr: Mohammed Islam ist ein "US-Teenager und Börsenmillionär", ein "Finanz-Wunderkind", ein "Handelsexperte", ein "junger Mulitmillionär" oder ein "junger Wolf of Wall Street."
Das sind einige der Bezeichnungen, die Medien dem Schüler zuschrieben - was verständlich ist, so denn die Geschichte stimmen würde. Doch die Geschichte stimmt nicht. Gestern stellte sich heraus, dem 17-Jährigen ist eine Reporterin des New York Magazines auf den Leim gegangen. Das Geld, das er angeblich verdient haben wollte, war nur das Ergebnis einer Börsensimulation, also ein fiktiver Gewinn.
Doch offensichtlich muss die Nachricht, dass ein junger Schüler so viel Geld an der Börse gemacht haben soll, einen medialen Nerv getroffen haben. Medien auf der ganzen Welt stürzten sich auf die angebliche Sensation. Das Interessante an der Berichterstattung ist, wie Medien die "Flunkergeschichte" des jungen mit einem Wahrheitswert versehen, der eigentlich in der Geschichte nicht enthalten ist.
"Ein Schüler der New Yorker Stuyvesant High School hat alle Börsenprofis blamiert: In seinen Mittagspausen zockte Mohammed Islam mit Aktien. Dabei hat er richtig abgesahnt: Angeblich liegen umgerechnet gut 50 Millionen Euro auf seinem Konto. Ganz Amerika staunt über den 17-jährigen New Yorker", schrieb ein großes deutsches Online Medium, das auch heute keinen Hinweis darauf gab, dass die Geschichte nicht stimmt.
Bei Bild.de heißt es: "Das Finanz-Wunderkind Mohammed Islam (17) hat unter anderem mit dem Handel von Öl- und Goldwerten - sogenannten Futures - an der amerikanischen Börse rund 72 Millionen Dollar (rund 58 Millionen Euro) verdient. Jetzt führt der Teenager aus dem New Yorker Stadtteil Queens ein wahres Luxusleben..." Daily Mail wird als Quelle angegeben.
Auch das Manager Magazin griff die Geschichte auf und schrieb neben einem Foto von Islam: "Dieser Schüler zockt in den Pausen an der Börse - und hat bereits Millionen verdient."
Und Yahoo! Nachrichten wissen sogar, was im Kopf des Schülers vorgeht: "Früh übt sich, wer ein Meister werden will. Das dachte sich auch der Teenager Mohammed Islam aus New York und begann im zarten Alter von neun Jahren sich der Börse zu widmen."
Mediale Konstruktion der Wirklichkeit
An diesen Beispielen lässt sich gut ablesen, wie eine mediale Konstruktion der Wirklichkeit aussieht und abläuft. Irgendwo auf der Welt sickert eine Information in das Mediensystem ein. Je nachdem, wie groß der Wert der Information eingeschätzt wird, verbreitet sich die Nachricht. Wenn ein Medium die Nachricht gebracht hat, ziehen andere Medien nach, ohne die Geschichte zu recherchieren. Und dann kommt, was kommen muss: Mehr und mehr Medien "berichten" (schließlich will man sich die scheinbaren Sensation nicht durch die Lappen gehen lassen).
Um sich von anderen Medien abzusetzen und nicht einen identischen Text zu übernehmen, bedient man sich einer breitgefächerten Sprache und etwas Phantasie. Ein Medium bezeichnet den Teenager, wie oben angeführt, als "Finanz-Wunderkind", das nächste Medium weiß schon, dass der junge "alle Börsenprofis blamiert" hat, und ein anderes Nachrichtenportal ist quasi in der Lage die Gedanken von Islam zu lesen, als dieser erst 9 Jahre alt war.
Die Mediennutzer übernehmen zumindest zum Teil diese medial konstruierte Wirklichkeit und laden diese nun weiter auf mit ihren eigenen Gedanken. Ein Leser schreibt etwa unter der Überschrift "Tolles Vorbild": "Nur, da wird eines vergessen: Was er gewinnt, haben andere verloren. Die wundersame Geldvermehrung (zumindest in größerem Umfang) findet nicht statt. Aber ein Trost für alle, die Geld investiert haben: Wenn nichts dabei rauskommt, keine Sorge, das Geld ist nicht weg, es gehört nur jemand anderem!" Ein anderer Leser meint: "Klasse der Junge. Er macht es vor wie es geht." Und wieder ein anderer Leser schreibt: "klar, bloss ja nichts arbeiten. zocken reicht ja."
Andere Leser bekunden ihr Misstrauen und belehren schließlich die Redaktion: "Die Story ist ein Fake. googelt mal nach "Leaders Investment Club" "Statement Regarding Mohammed Islam" Zitat aus dem Statement: "After performing due diligence and talking with Mohammed Islam himself, we have determined that these claims are false and simply been blown up by the media in the interests of sensationalism." Die Redaktion antwortet prompt: "Anm. der Redaktion: Vielen Dank für Ihren Hinweis! Die Richtigstellung finden Sie hier."
Nun handelt es sich bei dieser Geschichte um eine, die "nur" im Boulevardjournalismus verwurzelt ist, aber es bedarf keiner Phantasie, um zu erkennen, das verzerrte oder schlicht falsche mediale Wirklichkeitskonstruktionen immer wieder von dem Medien transportiert werden. Ob Brutkastenlüge, die Berichterstattung zu dem angeblichen Chatroom-Eintrag von Tim K. (Stichwort: Winnenden Amoklauf) oder etwa die Verdrehungen einer Rede von Walden Bello, dem Träger des Alternativen Nobelpreises in Rostock 2007: Beispiele wie diese zeigen, dass Medien nicht nur Wirklichkeit abbilden, sondern Scheinwirklichkeiten schaffen, von denen immerhin einige als solche von den Medien auch erkannt und als falsch kenntlich gemacht werden.
40 Jahre vor der vielzitierten Aussage des Systemtheoretikers Niklas Luhman, wonach wir das, was wir über unsere Gesellschaft und die Welt, in der wir leben, nur durch die Massenmedien wissen, kam der US-amerikanische Soziologe Charles Wright Mills bereits zu der Erkenntnis:
Nur sehr wenig von unserem Wissen über die gesellschaftlichen Gegebenheiten der Welt haben wir durch eigene Erfahrung gelernt. Die meisten unserer bildhaften Vorstellungen haben wir eben von diesen Informationsorganen empfangen. Das führt oftmals so weit, daß wir nicht einmal das glauben, was wir mit eigenen Augen gesehen haben, bevor wir es nicht in der Zeitung gelesen oder im Radio gehört haben. Die Informationsorgane versorgen uns nicht nur mit Nachrichten, sie beeinflussen und leiten sogar unsere Erfahrungen.
Über die Geschichte, mit dem jungen "Börsenprofi" und den Medien kann man schmunzeln, man kann sie aber auch als Lehrstück für eine Auseinandersetzung dafür heranziehen, wie Medien Wirklichkeiten zu erschaffen in der Lage sind.