360.000 Erden in der Milchstraße unterwegs
Wie chinesische Astronomen die Anthropologie aufmischen
Die Suche nach extraterristischem und zugleich erdähnlichem Leben erschien bisher als eine Frage der Entschlüsselung von Codes: Könnten ferne Fremdlinge unsere Zeichen deuten? Wir jedenfalls, das steht fest, können die von ihnen möglicherweise aus der Ferne des Weltalls gesendeten Informationen garantiert nicht lesen. Sie verglühen sozusagen ungelesen in der Erdatmosphäre. Die SETI- und SETA-Projekte bewegten auch Telepolis-Autoren und Leser. Seitdem ist es ruhiger geworden in den beliebten Disziplinen Raumfahrt, Zeitschleusenjogging und und um die Suche nach einem regelmäßigen Signal von Andromeda & Co.
Nun haben Forscher aus der Volksrepublik China einen völlig anderen Link auf ./36832_1.pdf gewählt: Anhand von Schätzungen über die Anzahl von Planeten mit erdähnlichen Lebensbedingungen, die die Entwicklung intelligenten Lebens, also eine Evolution zulassen, können sie die Zahl von Planeten mit erdähnlichen Lebensformen beziffern. Das Ergebnis vorweg: Allein in der Milchstraße treiben mindestens 360.000 Erden mit intelligenten, höheren Lebensformen um ihre Sonnen.
Jianpo Guo, Fenghui Zang, Xuefei Chen und Zhanwen Han, die Autoren dieser provokativen Berechnung, sind Astronomen am Yunan Observatorium, das zur Chinesischen Akademie der Wissenschaften gehört. Dass die Wahrscheinlichkeitsrechnung eine unterbewertete philosophische, soziologische und anthropologische Disziplin ist, wissen bisher nur wenige Insider. Der Wissenschaftsjournalist Stefan Klein legte mit Alles Zufall ein bemerkenswertes Sachbuch zum Thema Wahrscheinlichkeit vor. Zufall und Wahrscheinlichkeit beeinflussen unsere Hoffnungen und die Chance auf deren Erfüllung und Enttäuschung. Sie sind damit psychosoziale Faktoren, nicht mathematische.
Martin Heideggers legendäre Frage, warum es überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts gäbe - eine Frage, die derberen Gemütern noch immer unsinnig erscheint -, kann mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsrechnung beantwortet werden. Die Wahrscheinlichkeit der eigenen Existenz entzieht sich trotz ihrer metaphysischen Dimension nicht der Möglichkeit einer Quantifizierung. Und so sehen die Parameter eine mögliche Berechnung aus:
Die Beantwortung der Frage nach der eigenen Existenz durch eine mathematische Formel der Wahrscheinlichkeit hat nicht nur Charme, sie bringt auch eine wesentliche Entlastung von der Sorge, in einer Masse seine Einzigartigkeit zu verlieren. Diese Sorge führt in der Regel zum Versuch, sich als Individualist und Selbstverwirklicher von einem vermeintlichen Mainstream abzusetzen.
Aus der Perspektive der Wahrscheinlichkeitsrechnung ist dieser Versuch lächerlich, weil er sich auf die hinteren Stellen nach dem Komma bezieht, denn nach den vorliegenden Schätzungen der Biologen, Astronomen und Bevölkerungsstatistiker beträgt die Wahrscheinlichkeit dafür, genau als "ich selbst" auf die - gar diese - Erde zu kommen etwa eins zu 800 Trillionen. Mathematiker aufgemerkt: Jetzt bitte anhand der Parameter eine Berechnung vorlegen.
Wenn aber meine Existenz bereits Ausdruck eines derartig unwahrscheinlichen Falls ist, der deshalb in einem christlichen Sinne mit Recht als Wunder bezeichnet werden darf, dann sind weitere Abgrenzungen gegenüber meinen 7 Milliarden Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern entbehrlich. Der größtmögliche Erfolg und Gewinn im kosmischen Existenzlotto ist nämlich in Gestalt der eigenen Existenz bereits in bar ausbezahlt worden.
Die chinesischen Anthropologen beziffern übrigens die Zahl der erdähnlichen Planeten zwischen 360.000 und 3,7 Millionen, was unsere Rechnung noch einmal verändern könnte.
Die Nüchternheit von Naturforschern von Darwin bis Hawking bietet Anthropologen die Möglichkeit, über Quantitäten philosophische Sichtweisen zu revidieren. So bemerkte etwa Peter Sloterdijk in seinem überaus unterhaltsamem und weitgehend unbeachteten Magnum Oeuvre Sphären 3, dass heute in einer Generation mehr Menschen lebten als in 100.000 Jahren zuvor insgesamt. Er begründet damit seine Absage an die verbreitete, von ihm als Miserabilismus verhöhnte Lebensphilosophie des Ich-bin-also-beklage-ich-mich.
Die chinesischen Astronomen haben mit ihrer Berechnung auch den monotheistischen Religionen ein unlösbares Rätsel auferlegt: Wenn es Gott gibt, so hat er natürlich nicht nur unsere, sondern auch die übrigen 359.999 Erden geschaffen. Dies wirft die Frage auf, ob er sich dort auch durch Paradiesvertreibungen und Kreuzigungen, Auferstehungen und Sintfluten offenbart. Sollte er dies versäumt haben, so könnten die Missionare dies nun nachholen. Das quantitative Potential an neuen Gläubigen ist dann doch trotz nicht zu vernachlässigender Akquisitionskosten beträchtlich.
Auf jeden Fall ist die Nachricht der 360.000 Erden für die Theologie nicht nur negativ. Anders sieht es mit den Human-, Sozial- und Gesellschaftswissenschaften aus. Diese rechtfertigen bisher ihre Existenz als Rettungsschirm der Menschheit in ihrer sozialen und ethnologischen Vielfalt.
Die Lebenserwartung ist in vielen Kulturen bereits an eine Grenze gestoßen. Millionen 80-Jährige besuchen Volkshochschulen und Universitäten und erhalten monatliche Pensionen von 3500 Euro zuzüglich Krankenversorgung.
Mit ihrer Berechnung deuten die chinesischen Astronomen an, was wir in unserem Wissen über die chinesische Zivilisation bereits seit langem ahnen: In ihr ist die individuelle Existenz bereits seit Jahrhunderten in Konfuzianismus und Taoismus in einer Form relativiert, die die Gesellschaft davon entlastet, ihren einzigen Zweck als Erfüllerin individueller Wünsche, als ewig säugende Allomutter, wie Peter Sloterdiijk sie in Spähren 3 nennt, zu sehen.
Dass das chinesische Primat des Kollektivs erstaunlich friedlich verläuft, während in anderen Kulturen ein Obama, Bin Laden, Lieberman oder Breivik ihre soziopathischen Individualphobien zur staatstragenden Politik der "gezielten Tötungen" erklären, lässt es auch für uns verwöhnte Europäer nicht als großen Schrecken erscheinen.
Schließlich konnten unsere Eltern und Großeltern seit 1914 beobachten, wie die Gemeinschaft langsam zur Vernunft kam, indem sie sich die Zustimmung der fauleren wie der gewaltanfälligeren unter ihren Mitgliedern durch schuldenfinanzierten Wohlstand erkaufte.
Diesen Kapitalismus genannten Weg geht längst auch die Volksrepublik China. Die gesellschaftsphilosophische Interpretation der astronomischen Forschung der chinesischen Akademie der Wissenschaften könnte vielleicht darin bestehen, den chinesischen Kommunismus nicht für überholt zu halten.
Der einzelne Chinese ist nämlich auch eine Erde unter 1,5 Milliarden.