8. Mai 1945: "Konsens, dass es auch ein Tag der Befreiung war"
Seite 2: Krieg als Erinnerungsort
In Ihrem Buch weisen Sie wiederholt auf die Singularität des Holocausts hin. Im Ukraine-Krieg gibt es viele Vergleiche mit den damaligen Verbrechen, Angefangen von Putins Darstellung einer "Entnazifizierung" bis hin zu Selenskyjs These, Putin gehe es – gleich den Nazis – um die "Endlösung". Warum solche Vergleiche?
Ernst Piper: Putin geht es nicht um den Holocaust, der interessiert ihn nicht, sondern um den Großen Vaterländischen Krieg, in dem Hitler-Deutschland besiegt worden ist. Und da dieser Krieg nach wie vor ein Erinnerungsort von überragender Bedeutung für die Russen ist, spielt er darauf an.
Ob Selenskyj von Endlösung gesprochen hat, weiß ich nicht. Ich glaube, er sprach von Auslöschung, und das ist es ja, was Putin will.
Werden wir also Zeugen eines Kampfes um die Deutungshoheit des Holocausts und des Sieges über Hitler-Deutschland, bei dem jeder beansprucht, auf der Seite der Guten zu stehen?
Ernst Piper: Diskussionen über die Genese, den Charakter und die Bedeutung des Holocaust gab es in den letzten Jahrzehnten immer wieder, vom Historikerstreit des Jahres 1986 bis hin zu den Angriffen der Postkolonialisten. Um Gut und Böse ging es dabei meist nicht, eher um die Deutung des Geschehens und die Instrumentalisierung der jeweiligen Interpretation.
Was macht das mit dem historischen Gedächtnis?
Ernst Piper: Das kulturelle Gedächtnis der Nachfahren der Opfer, der Täter ist im Laufe der Zeit immer wieder Veränderungen unterworfen. Dabei spielen neue Narrative wie das der Postkolonialisten eine Rolle, die einen israelbezogenen Antisemitismus propagieren, aber auch die wachsende zeitliche Distanz, neue Forschungsergebnisse, neue mediale Darstellungsformen und anderes mehr.
Präsident Selenskyj hat den russischen Angriffskrieg in einer Videobotschaft an die Knesset mit dem Vernichtungsfeldzug der Wehrmacht verglichen, Russlands Außenminister Lawrow hat mit antisemitischen Verbalattacken auf Selenskyj reagiert. In Deutschland zumindest wurde politisch und medial nur Lawrows Fauxpas wahrgenommen. Warum?
Ernst Piper: Da Putin die Ukraine erklärtermaßen von der Landkarte tilgen will und behauptet, dass es ein ukrainisches Volk gar nicht gibt, war Selenskyjs Vergleich durchaus nachvollziehbar. In Tschetschenien haben die Russen nach dem gewonnenen Krieg große Teile der Bevölkerung durch Prüf- und Filtrationslager des NKWD geschleust, viele Menschen ermordet und den Rest zwangsrussifiziert. In den russisch besetzten Gebieten der Ukraine geschieht dasselbe. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Ukraine bei ihrem Widerstand gegen die russische Aggression entschlossen unterstützen.
Auf Demonstrationen gegen den Krieg in der Ukraine werden in Wort und Schrift häufig Nazi-Vergleiche vorgenommen. Wenn das ukrainische Teilnehmer machen, ist das ja nachvollziehbar. Aber bei Deutschen?
Ernst Piper: Welche Nazi-Vergleiche meinen Sie? Dass Putin mit Hitler verglichen wird? Auf Demonstrationen mag das vorkommen, da kann ja jeder auf sein Plakat malen, was ihm gerade durch den Sinn geht. Aber in der seriösen Debatte spielt das eigentlich, soweit ich sie wahrnehme, keine Rolle. Putin muss man in der Tradition des russischen Imperialismus sehen.
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