9. Mai: Übertriebene Angstmacherei?
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Generalmobilisierung in Russland? "Wild stuff"? Einig sind wir uns, dass man einfach nicht wissen oder sagen kann, was passieren wird. Telefonate nach Moskau aus Berlin
Flucht: Substantiv, feminin
1a. das Fliehen (vor einer Gefahr o. Ä.)
1b. das unerlaubte und heimliche Verlassen eines Ortes oder Landes
2. das Ausweichen aus einer (Lebens)situation, die als unangenehm oder nicht bewältigbar empfunden wird.
(frei nach Googles deutschem Wörterbuch)
Es ist der 2. Mai, S. steigt am BER ins Flugzeug und fliegt nach Istanbul, wo er am frühen Nachmittag einen Anschlussflug nach Moskau haben wird. Am liebsten würde er in Berlin bleiben, aber in wenigen Tagen läuft sein Touristenvisum ab und er muss zurück.
In seinem Koffer transportiert er Camper-Schuhe für eine Freundin, Decathlon Quickdraws, Medikamente, Kreditkarten und ein Verbindungskabel für eine Ikea-Küchenlampe: alles Dinge, die S.' Freunde ihm aufgetragen haben, mitzubringen, weil man sie in Russland nicht mehr kriegen kann. Wenn man wollte, könnte man daraus ein richtiges Geschäft machen, denkt er, aber dafür sind wohl die Flüge zu teuer.
Um 9 Uhr kommt er in Istanbul an, gerade als ich aufstehe, einen Kaffee aufsetze und durch die Nachrichten scrolle. Darin eine Mitteilung nach der anderen zur möglichen Generalmobilisierung am 9. Mai. Übertriebene Angstmacherei?
Die letzten Tage haben S. und ich ununterbrochen hin- und her überlegt, haben mit Leuten gesprochen, uns abgestimmt, mit der deutschen Botschaft in Moskau telefoniert. Alle waren sich einig: Die Mobilisierung von militärisch nicht ausgebildeten Männern wurde für sehr unwahrscheinlich gehalten. Also haben wir uns schließlich dafür entschieden, dass S. fahren sollte, das Risiko empfanden wir als beherrschbar. Als wir beide noch zusammen in meiner 1-Zimmerwohnung in Berlin am Küchentisch saßen.
Aber S. in Istanbul und raus aus dem Schengenraum fühlt sich das Risiko plötzlich überhaupt nicht mehr beherrschbar an. Einig sind sich nämlich auch alle, dass man einfach nicht wissen oder sagen kann, was passieren wird. Und in unseren Köpfen das nächste Schnittbild: S. in Militäruniform an der Front.
Nach Izmir
Anstatt nach Moskau zu fliegen, fliegt S. also kurzerhand nach Izmir, wo Freund:innen von ihm seit ein paar Wochen in dem Haus eines in Amerika lebenden, russischen Künstlers ausharren, das er für genau zu diesem Zweck angemietet hat. Hier sind Leute gestrandet, weil sie Angst haben, wegen regimekritischer Äußerungen Probleme zu bekommen oder einfach, weil sie nicht mehr in Russland leben wollen.
Abends bekomme ich ein Foto, das den Blick aus S.' Zimmer zeigt: Hinter ein paar Satelliten-bestückten Blechdächern sieht man Hochhäuser und dahinter das Meer. Am Horizont geht die Sonne unter. Plötzlich fühlt sich unsere Reaktion völlig übertrieben an. Und trotzdem, man weiß ja nie.
In Moskau
Am nächsten Tag telefoniere ich mit einem Freund in Moskau, um seine Einschätzung zum 9. Mai zu hören. In Russland lässt der Frühling noch auf sich warten: I. trägt eine Wollmütze und seine Freundin N. einen dicken Rollkragenpullover. Die beiden freuen sich von mir zu hören, gerade jetzt sei es wichtig zu spüren, dass man nicht vergessen wird. Dabei hat sich seit Kriegsbeginn eigentlich nicht viel verändert, meinen sie.
Klar, viele Softwares wie Miro oder Jira, die man für's Arbeiten braucht, haben sich zurückgezogen, bestimmte Kleidermarken wie Uniqlo oder Weekday kann man nicht mehr kaufen, Kosmetika werden teurer, ebenso bestimmte Lebensmittel, aber was macht das schon? Alles Luxusprobleme, sagen sie. Ihre Jobs sind nicht gefährdet, N. macht seit einigen Wochen ihren Führerschein, das Leben geht weiter. Sie wollen Russland nicht verlassen und das nicht nur, weil sie außer Russisch keine weitere Sprache sprechen. Auch in einem anderen Land einen Job zu finden, stellen sie sich schwierig vor und angespartes Geld haben sie nicht. Gleichzeitig können sie sich in Russland keine Zukunft vorstellen.
Wenn man um sich herum seine Freund:innen nacheinander gehen sieht, löst das ein Gefühl der Unsicherheit aus, sagt N., weil man selbst zu den Personen gehört, die bleiben. Als ob die Freund:innen um einen herum ein Sicherheitsnetz ausspannen würden – auch wenn es nur ein psychologisches ist. Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, was sie meint, bis ich mir vorstelle, dass um mich herum meine Freund:innen Deutschland verlassen würden und nach Chile auswandern oder Neuseeland, aus Angst vor einem nuklearen Angriff, dem dritten Weltkrieg oder weil sie mit der deutschen Politik nicht mehr einverstanden sind. Ohne Frage würde das mein Gefühl von Sicherheit und mein Verhältnis zu meinem Zuhause verändern.
Ob I. und N. einen Backup-Plan haben, falls es demnächst zur Generalmobilisierung kommen sollte? I. lacht. Wie soll ihn das Militär schon finden, wenn er sich nicht an seiner Meldeadresse aufhält? Die können ja nicht einfach alle Männer auf der Straße festnehmen. Russland ist groß, es gibt viele Möglichkeiten, sich zu verstecken. Vorerst würde er wahrscheinlich in die Datscha seiner Eltern. Aber so richtig kann er es sich nicht vorstellen, das alles ist so weit weg von seiner gefühlten Lebensrealität, dass diese Theorien eher nach dem Plot eines dystopischen Films klingen, nach "wild stuff" eben. Und trotzdem bleibt ein Geschmack von Angst.
Das fängt schon bei Kleinigkeiten an: Abends in einer Bar, auf dem Weg zur Arbeit in der Metro, im Taxi oder bei der Arbeit – unter Fremden kriegt man den Gedanken nicht aus dem Kopf, dass der Nebensitzer oder die Nebensitzerin die "Spezialoperation" in der Ukraine unterstützen könnte. Und auch wenn davon keine direkte tatsächliche Bedrohung ausgeht, bleibt das Gefühl, in einem Wespennest zu sitzen.
Seitdem ich I. und N. kenne, habe ich die beiden als extrem sicherheitsbedürftige Menschen kennengelernt, als Menschen, die gerne planen und wissen, was der nächste Tag und das nächste Jahr bringen werden, als Menschen, die nur allzu ungern ihre Comfort-Zone verlassen. Der jetzige Zustand lässt sich nicht anders beschreiben als die absolute Unsicherheit, da sind wir uns alle einig.
Deswegen überrascht es mich, dass sie sagen, dass sich an ihrem Alltag eigentlich nicht viel verändert hat. Als ob sie in einem ständigen Widerspruch leben. Ich kann es mir nur so erklären, dass sie das Außen abspalten, dass sie in zwei Realitäten leben. Und das wahrscheinlich nicht erst seit dem 24. Februar. Innere Emigration nennt das eine Freundin.
"Und was wünscht ihr euch?"
"Und was wünscht ihr euch?", frage ich. Einen Moment wissen sie nicht, was sie sagen sollen. Natürlich, dass der Krieg aufhört. Und auf Russland bezogen? Sie können sich kein neues Russland mit Zukunftsperspektive vorstellen, ohne, dass der komplette Polizeiapparat ausgetauscht wird. Und das, das liegt außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Also doch emigrieren? N. und I. schauen sich an. Wahrscheinlich sollten sie endlich anfangen, Englisch zu lernen. Wenn sie nämlich ganz ehrlich sind, können sie sich auch nicht ausmalen, langfristig in Russland zu bleiben. Aber wenn sie sich weder vorstellen können zu emigrieren noch zu bleiben, was bleibt dann noch?
Ein utopischer Ort ohne Grenzen, Angst und Sprachbarrieren? Ist das Haus in Izmir ein solcher Ort?