ADHS-Boom: Wenn die Diagnose zum Trend wird
ADHS-Diagnosen steigen seit Jahren stark an. In den USA etwa ist bereits jedes neunte Kind betroffen. Was steckt hinter diesem rätselhaften Boom?
Lange Zeit ging man davon aus, dass etwa fünf bis sechs Prozent der Kinder an Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHD) leiden. Doch in der Praxis sind die Zahlen oft deutlich höher. Die US-Gesundheitsbehörde CDC bezifferte die Verbreitung bei Kindern im Jahr 2022 auf 11,4 Prozent.
Auch in Deutschland gehört ADHS zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Etwa fünf bis sechs Prozent der Drei- bis 17-Jährigen sind betroffen, wobei Jungen viermal häufiger diagnostiziert werden als Mädchen.
Auch bei Erwachsenen (18–69 Jahre) nahm die Diagnosehäufigkeit zu, von 0,2 Prozent (2009) auf 0,4 Prozent (2014). Neuere Studien deuten auf eine Prävalenz von 2,5 Prozent bis 4,7 Prozent bei erwachsenen Deutschen hin.
Etwa 60 Prozent der in der Kindheit Betroffenen zeigen auch im Erwachsenenalter wesentliche ADHS-Symptome. Der Geschlechterunterschied in der Diagnosehäufigkeit wird im Erwachsenenalter geringer.
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Insgesamt nimmt die Diagnosehäufigkeit in allen Altersgruppen zu, bei Erwachsenen steigt die Zahl der Diagnosen besonders stark an. In Bremen beispielsweise hat sich die Zahl der ADHS-Diagnosen bei Erwachsenen seit 2011 mehr als vervierfacht.
Warum steigen die ADHD-Diagnosen?
Aber was könnte hinter diesem erstaunlichen Anstieg stecken? Sven Bölte, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie am schwedischen Karolinska-Institut, führt acht mögliche Ursachen an, die sich oft überschneiden und gegenseitig beeinflussen:
1. Mehrfachdiagnosen: Früher wurden Ärzte angehalten, sich auf die Hauptdiagnose zu beschränken. Heute ist es üblich, mehrere Diagnosen zu stellen, um die Symptome und Herausforderungen einer Person vollständig zu erfassen.
2. Mehr Fachwissen: Eine neue Generation von Fachkräften hat ein höheres Bewusstsein und Wissen über ADHD. Das führt zu früherer Erkennung und Diagnosen bei bisher vernachlässigten Gruppen wie Mädchen, Frauen und Erwachsenen.
3. Weniger Stigmatisierung: ADHD ist heute weit weniger stigmatisiert. Ärzte zögern nicht mehr, die Diagnose zu stellen, und Betroffene fühlen sich weniger gebrandmarkt. Für immer mehr Menschen hat ADHD weniger negative Konnotationen und wird Teil ihrer Identität.
4. Höhere kognitive Anforderungen: ADHD ist keine Krankheit, sondern eine dysfunktionale Zusammensetzung kognitiver Merkmale wie Aufmerksamkeitskontrolle, Organisations- und Selbstregulationsfähigkeiten. Die moderne Gesellschaft stellt hohe Anforderungen an diese Fähigkeiten, so dass Menschen mit unterdurchschnittlichen Leistungen in diesen Bereichen Schwierigkeiten haben, mit den Alltagsanforderungen zurechtzukommen, und eine ADHD-Diagnose erhalten.
5. Höhere Erwartungen: Die Erwartungen an die eigene und fremde Leistung und Gesundheit steigen. Menschen äußern früher und häufiger Bedenken über ihr eigenes und das Funktionieren anderer und vermuten eher ADHD als Erklärung.
6. Änderungen in Schulen: Digitalisierung und selbst gesteuertes Lernen führen zu einer weniger klaren Lernumgebung mit höheren Anforderungen an Motivation und kognitive Fähigkeiten der Schüler. Dadurch haben es selbst Schüler mit nur wenigen ADHD-Merkmalen schwerer, erfolgreich zu sein. Das veranlasst Schulen, mehr Schüler mit Verdacht auf ADHD zu überweisen.
7. Fokus auf Diagnostik: Politiker reagieren oft vorwiegend mit dem Ausbau diagnostischer Kapazitäten auf steigende Diagnosezahlen. Das treibt die Zahl der Diagnosen weiter in die Höhe, statt Maßnahmen zur Vermeidung von Diagnosen zu ergreifen, wie die Verbesserung der Lehrmethoden oder die Unterstützung ohne Diagnose.
8. Diagnose als Zugang zu Hilfe: Meist garantiert nur eine klinische Diagnose den Zugang zu Unterstützung und Ressourcen. Für Menschen ohne Diagnose wird oft wenig getan, da die Leistungserbringer dann nicht bezahlt werden. Daher streben Betroffene aktiv eine Diagnose an, selbst wenn nicht alle ADHD-Kriterien erfüllt sind – ein Phänomen, das als "diagnostisches Upgrading" bezeichnet wird.
Bölte jedenfalls sieht vielfältige Gründe für den Anstieg der ADHD-Diagnosen, zudem hingen sie oft eng zusammen. Es bedarf eines genauen Verständnisses dieser Zusammenhänge, um Kindern und Familien bestmöglich zu helfen. Dabei darf der Fokus nicht nur auf der Diagnostik liegen. Es seien Strategien notwendig, Kinder frühzeitig und ohne Diagnose zu fördern und zu unterstützen.