ARD: TV-Desaster "Die 100"
Unbezahlte Parteiwerbung und Infantilismus: Ingo Zamperoni überschreitet Grenzen und verschafft der AfD Sendezeit zur Primetime. Eine Kritik.
Wenn es 1933 schon Talkshows gegeben hätte, wie oft wäre Adolf Hitler dann bei "Caren Miosga" aufgetreten?
Das muss der ARD jedenfalls erst mal einer nachmachen: Wie gelingt es, der AfD eine ganze Stunde unbezahlte Sendezeit und Aufmerksamkeit zu verschaffen? Wie gelingt es, die AfD gleichzeitig zu dämonisieren und zu verharmlosen? Genau das gelang der ARD jetzt mit ihrem zum zweiten Mal ausgestrahlten Format "Die 100".
Wie gelingt es, dass sie sich als Opfer – nämlich von Framing, vorgefassten Meinungen und dummer Vereinfachung – darstellen kann, obwohl sie genau darum tatsächlich Gewinner ist?
Wie bekommt Björn Höcke minutenlange Sendezeit, ohne dass seinen Sätzen irgendetwas Inhaltliches entgegengesetzt wird?
Setzkasten statt Gesellschaft
Bei dieser neu entwickelten Sendung handelt es sich um eine latent verzweifelte Mischung aus "Spiel ohne Grenzen" und "Wie würden Sie entscheiden?", der Rest der Zutaten wurde leicht kopiert und aufgewärmt vom Konkurrenzformat "13 Fragen" vom ZDF übernommen.
Dort kommt man allerdings ohne eine dreistellige Zahl von Schlecht-Gekleideten aus – die den vermeintlichen Durchschnitt an Mustermännern und Ottilie-Normalverbraucherinnen als Vertreter von Volkes Stimme präsentieren?
Sondern sechs genügen hier, und diese werden zuvor sorgfältig durch mehrere Vorgesprächs-Fragesiebe gerieben, bis am Ende eine Art Setzkasten herauskommt. Dieses Setzkasten-Prinzip – für jede Haltung eine klar umrissene Box – dominiert auch in "Die 100" – die Menschen setzen sich selbst in Kästchen.
Zu Beginn sollen sich die eingeladenen hundert Gäste sich zu dieser Frage "verhalten". Danach spricht Tagesthemen-Moderator und Medien-Honorarprofessor Ingo Zamperoni, der das Format offenbar mitentwickelt hat, dann mit zwei Pro- und zwei Contra-Vertretern, also gibt er den drei Prozent, die sich im Fernsehen für die AfD positionieren, genauso viel Raum wie den 97 Prozent dagegen.
Bullshit-Bingo mit Checker Tobi
Das Thema hieß: "Die 100 – Ist die AfD eigentlich ein Problem?" Die ARD fragt, ob der Erfolg einer in Teilen rechtsextremen Partei unsere Demokratie gefährdet oder ob diese stark genug ist, sich auch den Feinden der Demokratie entgegenzustellen?
Die Journalistin Anna Planken und "Checker Tobi" Tobias Krell labern sich neben Zamperoni durch die Sendung. Während Krell einigermaßen die Würde des Seriösen bewahrte, sorgte Planken für die Tiefpunkte der Sendung.
Ihre Versuche, das Scheitern der Weimarer Republik zu erklären und verzweifelt darzulegen, warum auf keinen Fall das Jahr 1933 mit dem Jahr 2025 vergleichbar sein soll, warum also der Satz der Anti-AfD-Demonstrationen "AfD wählen ist so 1933" übertrieben und unangemessen ist, waren eine Fülle von platten, simplizistischen Aussagen, die jeder Volkshochschulgeschichtslehrerinnen und jedem -lehrern den Job kosten würden.
Wir zitieren: "'AfD wählen ist so 1933' – es stimmt einfach nicht, denn wir leben im Jahr 2024. Und auch wenn die AfD wirklich eine Nazi-Partei wäre, wie Ministerpräsident Wüst sie immer nennt, dann ist unsere Gesellschaft im Jahr 2024 eine komplett andere."
Kinderfernsehen für Erwachsene
Und weiter: "Föderalismus heißt, dass wir starke Länder haben, und Macht nicht mehr wie früher konzentriert werden kann auf eine Partei oder eine starke Person."
Und dann: "Wir sind Teil der EU, nicht ganz unwesentlich: die Nato! Deutschland ist verflochten mit ganz vielen anderen Partnern. In vielen unserer Nachbarländer – in Italien, Niederlande, Polen – hat es rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien gegeben, die haben versucht, an so einem Fundament zu rütteln und die Demokratien, die stehen immer noch, oder die Parteien sind wie in Polen zum Beispiel wieder rausgewählt worden."
Man könnte gegen diesen Fertigsalat so viel einwenden, dass man drei Tage an dem Text schreiben würde.
Daraufhin wurden riesige Legosteinchen zusammengesetzt, auf denen "Grundgesetz" steht, "Bundesverfassungsgericht", "Föderalismus" und "Bunte Gesellschaft" und das Ganze ergab dann ein rot-graues "Haus der Demokratie".
Infantilismus für eine infantile Gesellschaft, Kinderfernsehen für Erwachsene zur Hauptsendezeit.
Meinung statt Fakten
Zamperoni moderiert sich durch das alles durch mit Sätzen wie "Warten wir, mal sehen, wie die kommenden Argumente sie bewegen." Bei Argumenten geht es aber, Mr. Tagesthemen, nicht darum, ob sie mich bewegen, sondern es geht darum, ob sie zutreffen und ob sie überzeugen.
Im Ergebnis geht es nur um Meinung und um Meinungen. Und um Argumente, die Meinungen verändern können, aber keinesfalls etwas komplizierter machen. Es geht also nicht um die Sache, nicht um Fakten, nicht um Differenzierung Pro und Contra und es ist ganz klar, wo Deutschland zu stehen hat.
Bloß, dass da große Teile Deutschlands eben nicht stehen, und dass auch von den 100 Ausgewählten, genauso wie wenn sie Tausend ausgewählt hätten oder nur zehn, nicht alle im öffentlichen Fernsehen dabei gesehen werden wollen, wie sie sich in eines der AfD-Kästchen stellen.
Show oder Politik?
Was aber soll "Die 100" überhaupt?
Auf der Homepage der Sendung sieht man Zamperoni, leicht unrasiert mit nachdenklichen Gesichtsfalten und einem noch nachdenklicheren bequem-lässigen azurri-blauen Pulli mit Rundkragen – Typ "Posthistoire" der Marke "Home of Real Men" – und kann den Selbstdarstellungstext der Sendung lesen:
In jeder Folge von 'Die 100' geht es um eine kontroverse Frage. Einhundert Menschen auf dem Spielfeld stimmen ab: sind sie eher dafür oder dagegen? Zwei Journalist*innen liefern ganz unterschiedliche Argumente für Pro und Contra.
Die 100 stimmen mit ihren Füßen ab: überzeugt sie das Argument oder nicht? Tagesthemen Moderator Ingo Zamperoni befragt die 100 zu ihren persönlichen Erfahrungen mit dem Thema. Wer ändert seine Meinung und warum? Es ist die erste große Show mit einem beweglichen Publikum, das uns so seine Meinung zeigt.
Homepage der Sendung "Die 100"
Das ist schon das Grundproblem: Ist es nun eine Show oder ist es Politik? Und was bringt es, oder besser: Was bewirkt es, wenn man Politik in eine Show verwandelt? Kann man der AfD, kann man überhaupt komplexen Fragen und Herausforderungen mit dem Show-Prinzip gerecht werden?
Das sind natürlich alles rhetorische Fragen. Die Antworten lauten: Es verwandelt die Politik, es entpolitisiert sie in etwas Diffuses, Unpolitisches, wenn man sie in eine Show verwandelt. Und man wird einer gesichert rechtsextremen, in vielem faschistischen Partei wie der AfD damit auf geradezu dämonische Weise gerecht.
Denn, wenn man Politik in eine Show verwandelt, spielt man das Spiel der AfD, die genau das andauernd tut. In der AfD-Polit-Show ist man für oder gegen etwas. Anstatt zu differenzieren, zeigt man der Politik mal die Meinung.
Zamperoni hält offenbar viel von solchen Fernsehshow-Formaten, die dadurch einfache Lösungen und klare Antworten suggerieren, indem dort Politiker und Politik mit kurzen Ja-Nein-Checks bewertet werden, so ein wenig wie die Feedback-Fragebögen mit denen an den Universitäten neuerdings Studienanfänger ihre 40-Jahre älteren Lehrkräfte beurteilen zu können glauben.
So arbeitete er mit Katrin Bauernfeind an der Politshow "Überzeugt uns! Der Politiker Check" – deren Titel sofort die Frage aufwirft, warum eigentlich die Politiker das Fernsehpublikum überzeugen müssen? Und ob es nicht auch so etwas wie eine Bringschuld der Bürger gegenüber den Politikern gibt?
Danach kam dann das Zamperoni-Format "Das Bürgerparlament" – auch hier wird wieder suggeriert, dass das von den Bürgern ja längst gewählte Bürgerparlament namens Bundestag sich irgendwie in einer alternativen Welt befindet und deswegen die Bürger mal selbst ihre Meinung sagen sollen, damit dann alles besser wird. Weil sie es ja sonst nicht können – warum eigentlich?
Am Ende gibt es fünf Menschen mehr, die die AfD für "ein Problem" halten: 68 statt 63 von hundert. Ein Zuschauer erklärte seinen Sinneswandel: "Die AfD ist ein Wolf im Schafspelz. Man weiß nicht, was sie vorhat. Durch die Sendung, wenn man alles nachverfolgt, kommt man dann auf andere Gedanken."
Das war offenbar das Ziel. Trotzdem ist die Idee missglückt: kurz vor der Wahl in Brandenburg treibt man der AfD auf diese Weise Wähler zu. Das Mitmachfernsehen halten die ARD-Verantwortlichen bestimmt für ultra-progressiv.
Die Reaktionen waren erwartbar negativ: "Ob die AfD ein Problem (!) für die Demokratie sei, als Pro- und Contra-Frage? Ernsthaft, liebe Kolleginnen und Kollegen?", fragte sich der Monitor-Moderator Georg Restle (WDR) öffentlich in den sozialen Medien und dürfte damit nicht allein gewesen sein.
Die SZ versucht die Ausgangsfrage "Ist die AfD eigentlich ein Problem?" zu analysieren: "Kann sie (die AfD) vielleicht doch weg, wenn sie ihren Zweck erfüllt hat? Und könnten diejenigen, die sie mit den Mitteln der Demokratie an die Macht gewählt hätten, das dann noch verhindern? Ist das wirklich nur ein Spiel? Und wie definiert man in dieser Fragestellung dann überhaupt 'Problem', konkret oder abstrakt? Und warum eigentlich 'eigentlich'?"
Die Hauptillusion des Formats ist der Selbstbetrug, dass es "die Menschen" gebe, und dass man nur ein bisschen "reden" müsse und schon wird aus jedem AfD-Wähler ein Demokrat.
Im Ergebnis reden diese Menschen unwidersprochen von "Sozialschmarotzern" und "Ausländern, die hier nicht hingehören.", vom "Rassismus" gegen AfD und "Ausgrenzung einer demokratisch gewählten Partei."
Es ist ein Desaster von geradezu groteskem Ausmaß.