Abschlussparty
Die Palästinenser im Gazastreifen feiern das Ende der israelischen Besatzung
Nach 38 Jahren und drei Monaten ging am Montag Morgen um exakt 7.04 Uhr die israelische Besatzung des palästinensischen Gazastreifens zu Ende" rund zwei Wochen früher als eigentlich geplant. Denn die Räumung von 21 Siedlungen in dem Küstenlandstrich und von vier jüdischen Ortschaften im nördlichen Westjordanland war unerwartet schnell voran gegangen; der Widerstand der Abzugsgegner blieb relativ gering. Erste Probleme gab es erst, als in Israel ein heftiger Streit um den Abriss der ehemaligen Siedlungssynagogen entbrannte: Erst wollte Regierungschef Ariel Scharon die Zerstörung, aber der Oberste Gerichtshof nicht; dann waren die Richter dafür, aber plötzlich Scharon nicht mehr. Also blieben die leeren Gebetshäuser stehen, und gingen in Flammen auf, nachdem Hunderte Palästinenser nach dem Abzug der Armee die Überreste der Gazasiedlungen gestürmt hatten" der Beginn tagelanger, oft freudiger, manchmal aggressiver Feiern, die mittlerweile den Regierungen in Jerusalem, Kairo und Ramallah große Sorgen bereiten. Tausende sind über die nun fast unbewachte Grenze nach Ägypten gestürmt; die Sicherheitsorgane befürchten Unruhen, wenn die Grenze wieder geschlossen werden wird.
Die Uhr zeigte genau 23.57 Uhr, als in den israelischen Armeecamps im Gazastreifen die Funkgeräte zu krächzen begannen: "Letzte Wache, ich wiederhole Letzte Wache", sagte eine Männerstimme auf Hebräisch" die beiden Codeworte, die binnen Minuten Hunderte von Panzern, Lastwagen, gepanzerten Truppentransportern und Jeeps zum Leben erweckten. Schier endlos schienen die vier Konvois, die sich unter ohrenbetäubendem Lärm in Richtung des israelischen Kernlands bewegten.
Um exakt 7.04 Uhr am Montag Morgen war dann das offizielle Ende gekommen: Zwei Soldaten der Eliteeinheit Givati verschlossen das Tor am ehemaligen Kontrollpunkt Kissufim" von außen: "Die Mission ist beendet; eine neue Ära hat begonnen", sagte Brigade-General Aviv Kochawi in einer kurzen Ansprache an die versammelten Soldaten und Journalisten: "Von diesem Moment an, die Verantwortung für alles was in Gaza geschieht, liegt in der Hand der Palästinenser." Kurz darauf erklärte Schimon Peres, dessen Arbeiterpartei einst das Siedlungsprojekt im Gazastreifen geplant hatte, im Armeeradio: "Die Präsenz in Gaza war ein historischer Fehler, vom Anfang bis zum Ende."
In einem Dorf westlich des ehemaligen Siedlungsblocks Gusch Katif war kurz zuvor der 16jährige Mohammed vom Lärm der abziehenden Soldaten geweckt worden. Obwohl die Küste nur wenige Kilometer weit entfernt war, hatte er nie zuvor das Meer gesehen: Eine schier unüberwindbare Phalanx aus stacheldrahtbewehrten und streng bewachten israelischen Siedlungen versperrte ihm Zeit seines Lebens den Weg zu einem der schönsten Strände weit und breit. "Meine Freunde und ich sind zum Strand gelaufen, sobald die Soldaten weg waren", berichtet er. "Das war Wahnsinn. Soviel Wasser auf einmal."
"Wir können ja wohl keinen Bürgerkrieg hier beginnen"
Während die Jugendlichen am Montag Nachmittag immer wieder in die Wellen springen, ausgediente Kühlschranktüren zu Surfbrettern umdienen und lernen, dass man Meerwasser besser nicht in die Augen bekommen sollte, sind nur ein paar Steinwürfe weit entfernt Hunderte damit beschäftigt, die Überreste der israelischen Siedlungen zu durchwühlen. Sogar scheinbar unbrauchbarer Müll hat hier noch einen Wert: ein paar Ziegelsteine zum Beispiel. Oder Kabel. Die israelische Armee hat die meisten Gebäude zwar abgerissen und gefährliche Stoffe so gut es ging entsorgt. Doch den Schutt sollen, so ist es ausgemacht, palästinensische sowie ägyptische Unternehmen abtransportieren und in zentralen Sammelstellen recyceln" ein kleiner Anschub für die marode Gaza-Wirtschaft; eine winzige Finanzspritze für die finanzschwache palästinensische Autonomiebehörde.
Doch in der Festtagslaune zählen solche Dinge nicht: Immer wieder schlägt die eigentlich ausgelassene Stimmung in Aggression gegen alles um, was für die Menschen ein Symbol der verhassten Besatzung ist. Die letzten Soldaten hatten den Gazastreifen am Montag morgen noch nicht verlassen, als in Gusch Katif vier ehemalige Synagogen lichterloh in Flammen aufgingen. Die Armee hatte insgesamt 19 Gebetshäuser zurück gelassen, nachdem das israelische Kabinett am Sonntag gegen ihren Abriss gestimmt hatte: "Für die Menschen sind diese Gebäude Symbole der Besatzung", hatte der palästinensische Verhandlungsführer Saeb Erekat am Sonntag erklärt und fügte hinzu: "Wir werden die ehemaligen Synagogen auf jeden Fall abreißen."
Am Montag Nachmittag begannen palästinensische Arbeiter in der Tat mit dem Abriss der Gebetshäuser" auch um weiteren Schaden abzuwenden: Die Brände hatten für heftige Kritik auch im arabischen Ausland gesorgt: "Wir Araber haben eine Geschichte der Toleranz gegenüber Andersgläubigen", kommentierte der Nachrichtensender al-Dschasira: "Die Schändung religiöser Gebäude ist eine Schande." Und selbst Machmud Zahar, Gaza-Chef der fundamentalistischen Hamas, rief die Menschen zur Mäßigung auf: "Wir respektieren das Judentum, den Glauben, aber nicht die Politik", sagte er, während er gemeinsam mit bewaffneten Kämpfern am Montag mittag die Synagoge von Kfar Darom betrat, um dort ein muslimisches Gebet abzuhalten: "Dieses Haus wird auch weiterhin ein Haus des Gebets bleiben." Doch seine Worte verhallten, diesmal, fast ungehört: Überall in der ehemaligen Siedlung machten die Menschen weiter, als sei nichts geschehen, sammelten Dachziegel, Kabel, altes Metall ein, um etwas entweder zu verkaufen oder für sich selbst zu verwenden.
Selbst einige der hochmodernen Gewächshäuser wurden verwüstet, die die Weltbank angekauft hat, damit sie von palästinensischen Landwirten genutzt werden können" obwohl der palästinensische Präsident Machmud Abbas die Hightech-Anlagen bei einer Ortsbegehung am Montag als "Grundstock für den Wideraufbau Gazas" bezeichnet hatte. Kurz darauf wurden die ehemaligen Siedlungen zu militärischen Sperrgebieten erklärt" völlig vergeblich.
"Lasst das sein," ruft ein palästinensischer Polizist, als eine Gruppe Jugendlicher am Dienstag die Elektroinstallation eines der Treibhäuser auseinander zu nehmen: "Ihr stehlt den Besitz des palästinensischen Volkes." Doch viel tun können er und seine Kollegen nicht. Die wenigen Waffen, die sie haben, sind gegen die Menschenmassen sinnlos: "Wir können ja wohl keinen Bürgerkrieg hier beginnen," sagt einer der wenigen Polizisten, die mit wenig Überzeugung die ehemaligen Siedlungen bewachen: "Diese Beamten haben die gleichen Entbehrungen hinnehmen müssen wie alle anderen auch", sagt Abu Khaled Toameh von der Zeitung Jerusalem Post: "Die können die Plünderer vermutlich besser verstehen als die Führung der Autonomieverwaltung im fernen Ramallah."
Bizarrer Streit um die Synagogen
In der Tat: In diesen Tagen hat die Autonomiebehörde hier, in einem der am dichtesten bevölkerten Landstriche der Welt noch weniger zu sagen, als es sonst schon der Fall ist. "Jeder ist sich selbst der Nächste", sagt Khaled, ein Gemischtwarenhändler aus Gaza-Stadt. Zur Feier des Tages hat er seinen Laden ein paar Tage zugesperrt:
Wenn das hier der Besitz des palästinensischen Volkes ist, nehme ich mir schon mal meinen Anteil, bevor er wieder in den Taschen von irgendjemandem verschwindet.
So werden am Montag, nachdem sich der siegesbewusste Mob an ihnen ausgetobt hat, auch aus den ehemaligen Synagogen vor allem Ersatzteillager. Warum sie überhaupt noch stehen, kann hier ohnehin niemand wirklich erklären. Nur das es keine Juden mehr gibt, die darin beten könnten. "Ich habe Respekt für andere Religionen", sagt Hischam, der in der Synagoge von Newe Dekalim gerade mit einem Hammer mehrere Fliesen gelöst hat: "Aber dieses Haus hat doch jetzt keine Verwendung mehr." Dann trägt er zusammen mit seinem Bruder die Fliesen fort: Sie sollen künftig auf dem Wohnzimmerboden der Familie liegen.
Es war ein ausgesprochen bizarrer Streit, der sich rund um die Gebäude entzündet hatte, aus denen schon vor Wochen sämtliche religiösen Symbole und Gegenstände entfernt worden waren: Mehrere rechte Parlamentsabgeordnete und Rabbiner vor dem Obersten Gerichtshof hatten nach dem Ende der Siedlungsräumungen gegen den Abriss der Synagogen geklagt: Ein solcher Schritt würde einen Vorwand für Antisemiten weltweit schaffen, ungenutzte Synagogen zu zerstören" nach Ansicht von Innenminister Ofir Pines-Pas ein reiner Vorwand: "Offensichtlich haben die Kläger gehofft, die Räumung aufzuhalten oder zumindest die Palästinenser schlecht aussehen zu lassen."
So nahmen die Dinge ihren Lauf: Das Gericht setzte der Regierung eine Frist herauszufinden, ob entweder eine Verlegung der Gebäude oder ein Fortbestand unter internationalem oder palästinensischem Schutz möglich sei. Die Antwort lautete in beiden Fällen: Nein: Die meisten der Synagogen waren aus Beton; nur sechs Fertigbauten wurden komplett nach Israel transportiert. Und Palästinenser, Amerikaner und Europäer winkten dankend ab: Niemand wollte leere Gebäude möglicherweise auf Jahre bewachen müssen. So beschloss das israelische Kabinett formell den Abriss, bevor dann wenige Tage später auch der Oberste Gerichtshof grünes Licht gab. Und Regierungschef Ariel Scharon urplötzlich eine Kehrtwende machte: Das Kabinett solle noch einmal darüber beraten, sagte der Premierminister drei Tage vor dem geplanten Abzug der letzten Soldaten.
In der Sitzung am Sonntag waren es dann plötzlich nur noch zwei Minister, die für den Abriss stimmten" ein nach Ansicht von Analysten gelungener Schachzug Scharons: "Israels Gesellschaft ist durch die Räumungen stark gespalten", sagt Dr. David Grienberg, Experte für politische Kommunikation bei der PR-Agentur Kescherim: "Indem die Regierung jetzt vorgibt, dass die Argumente der Räumungsgegner ihre Meinung geändert haben, und ihnen damit einen kleinen Sieg verschafft, werden neue Brücken geschlagen." In der Tat priesen rechte Parteien und religiöse Organisationen die Regierung für ihre Einsicht; Kritik am Abriss durch die palästinensische Autonomiebehörde war auch in der Rechten rar" aus gutem Grund, wie Grienbergs Kollege Juval Barak von der Agentur A+B sagt:
Synagogen sind Versammlungsorte, keine geweihten Orte wie Kirchen. Ohne religiöse Symbole und Gegenstände sind es nur Gebäude.
Doch der palästinensischen Führung ging daraufhin der Hut hoch: Eine für Sonntag Nachmittag geplante gemeinsame Übergabezeremonie wurde in letzter Minute abgesagt. "Das ist zuviel," sagte der sichtlich erregte Chefverhandler Saeb Erekat:
Wir werden in eine Situation gedrängt, die wir nicht gewinnen können. Der israelische Abzug war von Anfang bis zum Ende eine einseitige Sache, bei der wir nicht gefragt wurden. Warum sollten wir jetzt gute Miene zum bösen Spiel machen?
Die Grenze zu Ägypten ist das Problem
In Jerusalem und Kairo beobachtet man die Entwicklungen in Gaza allerdings vor allem aus anderen Gründen mit Sorge: Sowohl die israelische als auch die ägyptische Regierung befürchten, dass es der palästinensischen Autonomiebehörde nicht gelingen wird, wieder die Oberhand zu gewinnen: "Die Lage darf nicht auch nur einen einzigen Tag so weiter gehen", warnte Israels Verteidigungsminister Schaul Mofas am Donnerstag.
Das größte Problem der beiden Regierungen ist die Grenze zu Ägypten: Seit Montag sind Zehntausende über die nun nahezu unbewachte Grenzmauer gestiegen, um im benachbarten Rafiach einzukaufen, oder einfach nur Verwandte zu sehen. In Kairo sorgte dies für massiven Unmut: Denn die ägyptische Regierung hat sich dazu verpflichtet, die Grenze zu bewachen und zieht nun den geballten Zorn der israelischen Außen- und Verteidigungsministerien auf sich. "Es ist alles sehr schnell gegangen", sagt ein Sprecher des ägyptischen Innenministeriums: "Doch wir sind jetzt bereit, unsere Rolle zu übernehmen." Erst im Laufe des Wochenendes begannen ägyptische und palästinensische Sicherheitskräfte damit, die Löcher in der Grenzmauer zu reparieren und für Ordnung zu sorgen.
Jerusalem befürchtet vor allem, dass Extremisten die Gunst der Stunde nutzen könnten, um Waffen und Kämpfer in den Gazastreifen zu schmuggeln" eine Sorge, die auch in der umgekehrten Richtung existiert: Ägyptens Regierung, gebeutelt von mehreren schweren Anschlägen auf der Sinai-Halbinsel, befürchtet, dass Extremisten aus dem Gazastreifen für zusätzliche Unsicherheit im Land sorgen könnten. Die Hamas hat enge Verbindungen zur Moslembruderschaft, die in Ägypten weit verbreitet ist" eine unheilige Allianz, die auf der einen Seite Angst macht, und auf der Anderen verhindert, dass Kairo die Grenze sofort abriegelt:
"Eine zu rigide Politik könnte dafür sorgen, dass die Euphorie in Wut gegen die ägyptische Regierung umschlägt," sagt Abdul Hassan, Gaza-Korrespondent der ägyptischen Zeitung al-Ahram: "Deshalb scheint man warten zu wollen, bis die Palästinenser wieder zur Tagesordnung überzugehen." In der Tat mussten sich palästinensische Polizisten am Samstag mehrmals mit wütenden Menschenmengen auseinander setzen, die nicht verstehen wollten, dass die Freizügigkeit jetzt erst einmal vorbei ist: Die Grenze, so ein Sprecher der Autonomiebehörde am Montag, solle erst einmal geschlossen bleiben, bis sich alle Seiten auf ein akzeptables Protokoll geeinigt haben; dazu seien Verhandlungen erforderlich (Palästinenser fordern Verhandlungen mit Israel): Mit großer Wahrscheinlichkeit werden künftig Grenzbeamte der Europäischen Union den geregelten Ablauf überwachen.
Die Stunde der zornigen Jugendlichen
Doch für Juval Steinitz, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses der Knesseth und erbitterter Räumungsgegner, ist das "Experiment Trennungsplan" schon jetzt gescheitet: "Ich habe immer gewarnt, dass Ägypten seinen Verpflichtungen nicht nachkommen wird." Im Büro des Premierministers herrscht derweil relative Gelassenheit: "Uns war immer klar, dass ein solches Szenario eintreten könnte, und haben uns darauf vorbereitet", sagt ein Mitarbeiter: "Tragfähige Schlüsse über Erfolg und Misserfolg werden erst in einigen Tagen möglich sein."
Denn die Räumung als solche wird von Israels Politik und Medien schon jetzt als Erfolg gewertet: "Die Evakuierungen waren schneller und gewaltfreier, als wir uns zuvor in unseren kühnsten Träumen ausgemalt hatten", sagt Israels Vize-Premierminister Schimon Peres: Statt in, wie ursprünglich geplant, vier waren die Siedlungen schon nach zehn Tagen geräumt: Bereits lange vor dem Beginn der zweitägigen Wegzugsfrist (Vor dem Aus) für die Siedler am 15. August um Mitternacht waren Ganim und Kaddim im nördlichen Westjordanland unbewohnt gewesen; die erste Gazasiedlung hörte schon um 15. August um 8.58 Uhr auf zu existieren.
Zwei Tage später, nach Ablauf der letzten Frist, ging dann alles ganz schnell: Im Morgengrauen umstellten rund 14000 Soldaten und Polizisten die an diesem Tag zu räumenden Siedlungen, in denen sich zu diesem Zeitpunkt immer noch schätzungsweise 900 Familien und bis 3.500 Demonstranten von außerhalb aufhielten. "Wir werden mit Respekt und Geduld vorgehen", sagte Generalmajor Dan Harel, Kommandeur der Räumungstruppen: "Wir werden versuchen, durch Verhandlungen zwangsweise Räumungen zu verhindern: Aber sollten wir auf gewaltsamen Widerstand stoßen, werden mit voller Härte reagieren."
Es waren vor allem Jugendliche, die sich den Sicherheitsbeamten in den Weg stellten: Schon in der Montag Nacht waren die Soldaten am Kontrollpunkt Kissufim, dem Übergang in den Gusch Katif, beschimpft und mit Steinen beworfen worden. In den folgenden Tagen versuchten sie die Räumung immer wieder durch Straßensperren aus brennendem Stroh, Reifen und Nagelbrettern aufzuhalten" trotz aller Aufrufe von Rabbinern und Vertretern des Siedlerrates Jescha, sich zu mäßigen und die Proteste gewaltfrei zu halten.
In Momenten wie diesen wurde deutlich, dass der Einfluss Jeschas, dieser einst mächtigen Organisation, die Regierungen nahezu unbegrenzte Finanzmittel für den Siedlungsbau abringen und Premierminister manchmal auch zu Fall bringen konnte, mittlerweile begrenzt ist: Monate des erfolglosen Kampfes gegen die Räumungen hatten ihre Spuren hinterlassen.
Es war die Stunde der zornigen Jugendlichen: Sie stammten vor allem aus den ideologischen Siedlungen im Westjordanland und kampierten zu diesem Zeitpunkt schon seit Wochen in den zu räumenden Siedlungen. Hören wollten sie auf niemanden: Als in der Montag Nacht am Kontrollpunkt Kissufim Rabbiner Mosche Aviner aus Gusch Katif versuchte, die Jugendlichen zum Abzug zu bewegen, wurde er angegriffen und als "Verräter" beschimpft: "Geh’ nach Hauser, alter Mann", riefen einige. "Viele dieser Kids sind mit ideologischer Indoktrinierung groß geworden," sagte die Psychologin Judith Barak, die sich mit der Siedlungsjugend befasst: "Sie glauben, dass der Jescha-Rat versagt hat und wollen jetzt die Dinge in die eigene Hand nehmen."
Die eigentlichen Gazasiedler beschränkten sich derweil darauf, den Räumungstruppen das Leben so schwer wie möglich zu machen: So versammelten sich immer wieder die Männer mit Gebetsschal" und riemen bekleidet in den Synagogen, während Frauen und Kinder versuchten, die Soldaten und Polizisten davon zu überzeugen, nicht an der Räumung teilnehmen. Immer wieder wurden auch Allegorien zum Holocaust erzeugt: Zum Beispiel als in Konzentrationslageruniformen gekleidete Mädchen mit erhobenen Händen in den Bus stiegen, der sie nach Israel bringen sollte. Dass derweil Jugendliche Barrikaden errichteten und sich von Zeit zu Zeit Straßenschlachten mit der Polizei lieferten, war den Siedlern, die sich bei allem Widerstand zur Gewaltfreiheit verpflichtet hatten, ziemlich peinlich: "Ja, wir haben ein Problem," gestand Ratssprecherin Miriam Rosen ein: "Wir unternehmen alles, um es in den Griff zu bekommen. Wir werden den Kampf gewinnen."
Doch die Räumung ging in rasendem Tempo vor sich: Sechs, manchmal sieben Siedlungen evakuierten die Truppen am Tag; daran konnte auch die psychologische Kriegsführung nichts ändern, die selbst Generalmajor Dan Harel von Zeit zu Zeit die Tränen in die Augen trieb: "Das ist hart, sehr hart", sagte er am zweiten Tag der Räumung: "Letzten Endes scheinen sich die meisten mit der Tatsache abgefunden zu haben, dass es vorbei ist, und bemühen sich, den Sicherheitskräften das Leben so schwer wie möglich zu machen."
Der Effekt von Holocaust-Symbolik und weinenden Jugendlichen verpuffte allerdings relativ schnell: "Spätestens am dritten Tag wusste ich, worauf ich mich einstellen muss", erinnerte sich einer der beteiligten Offiziere in der vergangenen Woche: "Ich wurde regelrecht immun." So wurde die Gangart der Sicherheitskräfte schnell deutlich härter, nachdem am vierten Tag Polizisten vom Dach der Synagoge in Katif aus mit Säure begossen worden waren: Ein letztes Ultimatum, ein schneller Sturm, wer sich wehrte, wurde festgenommen" dass war die neue Strategie.
Die sich auch bei der Räumung der beiden Siedlungen Sanur und Chomesch im Westjordanland auszahlte, die eigentlich als schwierigste Phase galt: Mehrere hundert ultranationalistische Jugendliche hatten sich dort verbarrikadiert; in den Tagen vor dem Anrücken der Räumungskräfte waren immer wieder Armeefahrzeuge außerhalb der Siedlungen sabotiert und außerdem versucht worden, eine von Palästinensern betriebene Tankstelle in der Nähe anzuzünden: "Wir werden für unsere Heimat kämpfen bis zum Umfallen", hatten die Verschanzten immer wieder erklärt. "Unsere Informationen deuten daraufhin, dass viele der Demonstranten bewaffnet sind", sagt Polizeisprecher Dr. Avi Zelba vor der Räumung.
Doch am Ende war der Widerstand auch hier gering: In Windeseile stürmten Sondereinsatzkommandos gleichzeitig die beiden Siedlungen, hoben Soldaten Demonstranten mit Hilfe von Baggerschaufeln von Dächern, durchsuchten in einem Regen von Farbbeuteln, Eiern, Mehltüten und Tomaten ein Haus nach dem anderen. "Die Räumungsgegner sind müde", bemerkte Joel Marciano von der Zeitung Jedioth Ahronoth: "Nachdem sie Wochen in der Sommerhitze ausgeharrt haben, sind sie zu kaum noch etwas fähig."
Am letzten Tag der Räumungen sei es ohnehin nicht mehr darum gegangen, dass Menschen ihre Häuser verlieren, sagte der Demoskop Professor Ascher Arian von der Universität Haifa: "Hier wird nur noch um Ideologie und öffentliche Meinung gekämpft." Die Demonstranten aus den Hebron- und Nablus-Siedlungen wüssten sehr genau, dass sie die Nächsten auf der Räumungsliste sein könnten, die gerüchteweise schon auf dem Schreibtisch von Regierungschef Ariel Scharon liegt. Arian: "Die Siedler müssen die öffentliche Meinung dauerhaft auf ihre Seite bringen."
Doch die hat sich, fast einen Monat nach dem Ende der Räumungen, fest gegen die Siedler eingependelt: Bei der Regierung stapeln sich die Glückwünsche ausländischer Staatschefs, auch aus der arabischen Welt. In den Hotels des Landes harren derweil jene Siedler aus, die bis zuletzt geglaubt haben, dass die Räumungen doch noch aufgehalten werden könnten und sich deshalb weder um die Entschädigungszahlungen noch um eine alternative Unterkunft gekümmert haben.
Gaza feiert, und Scharon beim UN-Gipfel in New York einer der Stars war, stoßen die ehemaligen Siedler mit einem nicht enden wollenden Strom von Beschwerden auf immer größeres Unverständnis: Die Regierung solle eigens für sie neue Städte bauen, damit sie ihre Gemeinschaften erhalten können, verlangen sie, die Räumungsbehörde Sela, zuständig für die Betreuung der Siedler, habe versagt. Doch Sela-Chef Jonathan Bassi will sich diesen Schuh nicht anziehen: "Wir haben Monate lang versucht, mit den Menschen zu reden, ihre Wünsche herauszufinden und für jeden eine Lösung zu finden," sagt er. "Doch 300 Familien haben sich bis heute nicht bei uns gemeldet."