Älteste Demokratie der Welt vor Abwicklung?
Am 3. November stehen in den USA die Überreste bürgerlicher Gewaltenteilung zur Wahl
If we win on Tuesday or — thank you very much, Supreme Court — shortly thereafter …
Donald Trump, Pennsylvania, 31.10.2020
Nichts Genaues weiß man nicht. Die Präsidentschafts- und Kongresswahlen in den Vereinigten Staaten stehen bevor, die Umfragen sehen den greisen demokratischen Herausforderer Joe Biden klar vorne - und dennoch scheint die Unsicherheit bezüglich des Wahlausgangs mit dem Näherrücken des offiziellen Wahltermins noch zuzunehmen. Neben dem Präsidentenamt stehen am 3. November ein Drittel des Senats, sowie das Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten zur Wahl.
Für das bekannte Umfrageportal FiveThirtyEight, bei dem alle aktuellen Umfragen zu Durchschnittswerten zusammengefasst werden, steht der Sieger praktisch fest. Es gebe keine Anzeichen für eine Aufholjagd des rechtspopulistischen Amtsinhabers, der Vorsprung Joe Bidens bleibe stabil bei rund neun Prozent, hieß es in Ende Oktober. In einem aktuellen Update heißt es, dass Trump zwar immer noch theoretisch gewinnen könnte, doch müssten hierfür die Umfragen noch stärker daneben liegen als 2016, als der einhellig prognostizierte Wahlsieg der Demokratin Hillary Clinton nicht eintrat.
Und genau diese Konstellation wird in einem Beitrag in The Hill unter Verweis auf Umfragen zum stark polarisierten politischen Klima in den USA diskutiert. Demnach führen die zunehmenden Auseinandersetzungen dazu, dass ein großer Teil der Umfrageteilnehmer nicht bereit sei, seine wahren Wahlabsichten zu enthüllen. Acht Prozent der Wähler, die die Trump-Präsidentschaft "strikt ablehnen", würden ihre Meinung für sich behalten. Bei den Anhängern des rechtspopulistischen Präsidenten, die ein starkes Misstrauen gegenüber Umfrageinstituten hegen, wären aber 17 Prozent nicht bereit, zu ihrer Meinung zu stehen. Die Folge sei eine strukturelle Verschiebung der Meinungsumfragen zugunsten von Joe Biden, die sich durch alle Wählerbefragungen ziehe. Ergo verlaufe das Rennen um die Präsidentschaft weitaus knapper, als es den Anschein habe.
Ähnlich argumentierte der bekannte progressive Filmemacher Michael Moore, der zu einer breiten Mobilisierung in der Endphase des Wahlkampfs aufrief, um 2016 zu verhindern. Gegenüber dem britischen Guardian haben auch demokratische Funktionäre eingestanden, dass die Umfragen zum Teil ein "Trugbild" aufbauten, das die Demokraten in einer falschen Sicherheit wiegen könnte.
Die Battleground-States
Der US-Präsident wird nicht direkt gewählt, sondern durch sogenannte Wahlmänner, die rund ein Monat nach der Wahl in einem Wahlleutekollegium (Electoral College) zusammentraten, um den Präsidenten zu wählen. Da die meisten Bundesstaaten der USA dem Wahlsieger auch bei einem knappen Wahlausgang alle Wahlmänner für das Electoral College zusprechen (mit Ausnahme von Nebraska und Maine), können bei den Präsidentschaftswahlen auch Kandidaten gewinnen, die von einer Minderheit der Wähler gewählt worden sind. Dies war beim umstrittenen Sieg von George W. Bush gegen Al Gore im Jahr 2000 der Fall, wie auch bei dem Überraschungssieg Trumps gegen Clinton 2016.
Der Wahlkampf konzentriert sich folglich auf die Bundesstaaten, in denen das Wahlergebnis besonders knapp scheint, auf die sogenannten "Battleground-States". Beim letzten Wahlkampf schaffte es Trump, sich gerade in den umkämpften Bundesstaaten Wisconsin, Michigan und Pennsylvania knapp gegen Clinton durchzusetzen, um so die Wahl mit einem Vorsprung von 306 zu 232 Wahlmännern zu gewinnen, obwohl er knapp drei Millionen Wählerstimmen weniger erhielt als seine demokratische Konkurrentin.
Neben den genannten drei Bundesstaaten, wo 2016 Trumps protektionistische und xenophobe Parolen in der vom sozialen Abstieg betroffenen weißen Arbeiterklasse verfingen, sind diesmal noch weitere Kampfschauplätze hinzugekommen, die Wahlprognosen zusätzlich erschweren. Auf Messers Schneide stehen etwa die Ergebnisse in Florida, Texas, Iowa, Georgia, North Carolina und Ohio, umstritten sind aber auch New Hampshire, Arizona oder Nevada. Somit könnten etliche frühere Bastionen der Republikaner kippen, wie auch einige demokratische Bundesstaaten.
Unterdrückung von Wählerstimmern
Aufgrund der Pandemie haben sich auch die Methoden der Unterdrückung von Wählerstimmen gewandelt, auf die insbesondere die Republikanische Partei in ihren Bastionen gerne zurückgreift. Hierbei werden zusätzliche organisatorische oder rechtliche Hürden aufgestellt, um Wählergruppen oder Wahlbezirke von der Wahl abzuhalten, die vorwiegend die Demokraten präferieren. Im Zentrum der diesjährigen Auseinandersetzungen steht die Briefwahl, auf die viele US-Bürger zurückgreifen wollen, die die Pandemie ernst nehmen und somit eher die Demokraten wählen.
Die Trump-Administration ist in vielen Fällen rechtlich gegen die Ausgabe von Briefwahlbögen vorgegangen, zudem haben die Republikaner sich darauf konzentriert, die Anzahl der Einwurfkästen bei den Briefwahlen stark zu reduzieren. In Harris County, Texas, steht nun fünf Millionen Einwohnern ein einziger Briefwahleinwurfkasten zu Verfügung - zuvor waren es 12. In den umkämpften Bundesstaaten Wisconsin und North Carolina fordern Regelungen nun, dass Briefwahlbögen von einem "Zeugen" unterschrieben werden, was aufgrund der Pandemie sich oftmals schwer gestalten dürfte. In Alabama sind sogar zwei Zeugen oder eine notarielle Beglaubigung notwendig. Überdies bemühen sich die Republikaner, die Post der Vereinigten Staaten durch Kürzungen zu sabotieren, um den reibungslosen Ablauf der Briefwahl zu erschweren.
Schließlich ist auch die Ausgabe der Briefwahlbögen umkämpft. In 44 Bundesstaaten können Wähler die entsprechenden Unterlagen zur Briefwahl anfordern, doch sechs republikanisch regierte US-Staaten verlangen von den Wählern die Angabe von Gründen zur Briefwahl. In Texas, wo erstmals seit langer Zeit die Demokraten die Mehrheit holen könnten, reicht sogar ein Verweis auf die Pandemie nicht aus, um an der Briefwahl teilnehmen zu können. Die Wähler unter 65 Jahren müssen eine Teilnahme an der Briefwahl anders begründen.
Hinzu kommen die üblichen Methoden der "Voter Suppression", wie die Reduzierung der Wahllokale in migrantisch geprägten Wahlbezirken, um Wähler durch lange Wartezeiten abzuschrecken, oder die strikten Registrierungsverfahren zum Wahlverfahren, bei denen US-Bürger aus der rasch wachsenden Unterschicht strukturell benachteiligt sind. Es wäre aber verkehrt, diese Taktiken als ein genuin republikanisches Mittel der Wahlmanipulation anzusehen. Das neoliberale Establishment der Demokraten benutzt ähnliche Methoden, um progressive Kräfte in der Partei zu marginalisieren, wie CNN schon 2018 vor dem Hintergrund der Vorwahlen 2016 berichtete.
Auch die diesjährigen demokratischen Vorwahlen, bei denen sich der Establishment-Kandidat Joe Biden gegen seinen linken Herausforderer Bernie Sanders durchsetzen konnte, wurden durch lange Wählerschlangen in den Wahlbezirken überschattet, in denen Sanders gute Chancen hatte. CNN sprach noch im März von klarer Wählerunterdrückung, die sich im "Zentrum" des demokratischen Vorwahlkampfes befinde. Wartezeiten von bis zu sechs Stunden haben Minderheiten und vor allem jugendliche Wähler der Linken abgeschreckt.
Somit lässt sich konstatieren, dass Strategien zur Abschreckung potenzieller Wähler inzwischen zum Repertoire der zunehmend verwildernden politischen Auseinandersetzung in den Vereinigten Staaten gehören. Der Abstieg in eine oligarchische, postdemokratische Herrschaftsform, bei der die brüchige demokratische Fassade den Kampf mächtiger oligarchischer Gruppen nur notdürftig verdeckt, scheint nahezu abgeschlossen. Es stellt sich nur die Frage, ob die Rudimente bürgerlicher Demokratie in den Vereinigten Staaten den 3. November noch irgendwie überdauern, oder ob der krisenbedingte gesellschaftliche Barbarisierungsprozess mit der Wiederwahl Trumps nahtlos ins faschistische Stadium übergeht.
Die Stunde der Milizen?
Einen weiteren Faktor, der den Verlauf der Präsidentschaftswahl noch nachhaltig beeinflussen könnte, bilden nämlich die bewaffneten rechtsextremen Milizen, die derzeit mobil machen. Die Mitglieder dieser faschistischen Milizen und Banden bilden den militanten Kern der Anhängerschaft Trumps - und sie haben angekündigt, eine Abwahl "ihres" Präsidenten nicht zu akzeptieren. Der Rechtspopulist im Weißen Haus hat wiederholt diese militanten Gruppierungen verbal unterstützt oder deren Aktionen gerechtfertigt.
Schon Anfang Oktober hat der Präsident, der die Legitimität der Präsidentschaftswahl bereits anzweifelt, die US-Rechte dazu aufgerufen, am Wahltag aufzumarschieren und den Urnengang genau zu überwachen.
Informationen über konkrete Vorbereitungen zu gewalttätigen Kampagnen und Terrorakten nach einer eventuellen Wahlniederlage Trumps sind vor allem aus der militanten rassistischen Rechten durchgesickert, die den Wahlakt als solchen ablehnt und für einen rassisch homogenen US-Staat kämpfen will. Dies sind keine hohlen Drohungen: Ende Oktober musste eine Wahlkampfveranstaltung der Demokraten in Texas absagt werden, nachdem diese durch "bewaffnete Trump-Unterstützer" bedroht worden seien.
Bei einer knappen Wahlniederlage scheint möglich, dass Trump nicht einfach zurücktreten, sondern rechtlich und institutionell um eine zweite Amtszeit kämpfen würde. Die maßgeblich von den Republikanern besetzte Justiz könnte hierbei ausschlaggebend sein. Am 31. Oktober erklärte der rechtspopulistische Präsident unter Verweis auf den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, man werde entweder am 3. November oder kurz danach gewinnen. Die Republikaner haben es unter Trump geschafft, die politische Mehrheit beim Obersten Gerichtshof der USA an sich zu reißen, sodass die Ermittlung des Wahlsiegers auf dem Gerichtswege als eine gangbare Option erscheint. Drei der neun Richter des "Supreme Court" wurden von Trump ernannt.
Solche institutionellen Kämpfe um den Wahlausgang in Washington würden der militanten, extremen Rechten der USA in die Hände spielen, die ohnehin - ähnlich der Bundesrepublik - auf starke Sympathien im Staatsapparat bauen kann. Eine Mitte Oktober veröffentlichte Studie nannte fünf Bundesstaaten, die eine "hohe Wahrscheinlichkeit" von "wahlkampfbedingter Gewalt" aufwiesen. Konkret sind dies Pennsylvania, Georgia, Michigan, Wisconsin und Oregon. Des Weiteren besteht eine "moderate Gefahr" bewaffneter Auseinandersetzungen in North Carolina, Texas, Virginia, Kalifornien und New Mexiko.
Aufgrund der allgegenwärtigen Angst vor Gewalt würde das öffentliche Leben des Landes zunehmen vom "Misstrauen" geprägt, so fassten Dallas Morning News die Stimmung in den USA in der heißen Wahlkampfphase zusammen. In Washington habe die Polizei eine Urlaubssperre verhängt, während die Lager mit Aufstandsbekämpfungsmitteln aufgefüllt würden. In Texas sei die Nationalgarde in Alarmbereitschaft versetzt worden. Angefacht würden diese Spannungen durch Präsident Trump, der sich wiederholt geweigert habe, eine "friedliche Machtübergabe" zu garantieren, da er gegen die Demokraten nur verlieren könne, "wenn diese betrügen".
Hinzu kommt der Reflex zur Selbstbewaffnung, der Aufgrund zunehmender sozialer und ökologischer Krisentendenzen und ausbleibender Transformationsperspektiven überhandnimmt: US-Bürger hätten bisher in dem Wahl- und Katastrophenjahr 2020 17 Millionen neuer Feuerwaffen erworben - und es seien nicht nur konservative Waffennarren und rechte Verschwörungsspinner, die jetzt aufgrund zunehmender "sozialer Instabilität" aufrüsteten (USA vor der Wahl: "Be ready for anything").
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