Äthiopien: Was steckt hinter dem Konflikt in Tigray?
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Komplexe Ursachen, weit zurückliegende historische Wurzeln und unabsehbare Auswirkungen auf die ganze Region am Horn von Afrika
Hunderte sind dem militärischen Konflikt zwischen der Zentralregierung Äthiopiens unter Abiy Ahmed Ali und der Regierung des Bundeslandes Tigray unter Führung der TPLF (Tigray Peoples Liberation Front) bereits zum Opfer gefallen. Tausende sind auf der Flucht vor den Kämpfen in den benachbarten Sudan. Eritreische Truppen haben auf Seiten Abiy Ahmed Alis eingegriffen (Gnadenloses Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung.
Die Vereinten Nationen warnen vor einer Destabilisierung der gesamten Region am Horn von Afrika. Informationen aus Tigray sind schwer zu bekommen, da Abiy Ahmed Ali die gesamte Region von jeglicher Kommunikation abgeriegelt hat und weder Journalisten noch Nahrungsmittel oder humanitäre Hilfe nach Tigray lässt.
All dies findet statt, während das Land mit der Corona Pandemie, mit Millionen Binnenflüchtlingen unterschiedlicher Ethnien, mit einer zunehmend desaströsen Wirtschaftslage, Überschwemmungen in Teilen des Landes und obendrein mit einer der schlimmsten Heuschreckenplagen seit Jahrzehnten zu kämpfen hat.
Was treibt einen Friedensnobelpreisträger dazu, einen Krieg gegen einen Teil des eigenen Volkes zu führen?
Kontrolle und Macht
Abiy Ahmed Ali nutzte die Gelegenheit zur Machtergreifung als Oromo-Proteste gegen die regierende Koalition EPRDF (Ethiopian People's Revolutionary Democratic Front) eskalierten. Abiy Ahmed Ali selbst war unter dieser Regierung unter anderem als Geheimdienstchef tätig.
Agierte er anfangs noch unter dem Dach der EPRDF als Übergangsregierungschef löste er bald darauf die EPRDF-Koalition auf und gründete die PP (Prosperity Party). In der Folge konzentrierte er mehr und mehr die Macht auf die PP und auf sich selbst als Person. Die PP dominierte fortan die Politik in allen Bundesländern und in der Zentralregierung.
Widerstand in einigen Regionen Äthiopiens - vor allem seitens der bevölkerungsreichsten Ethnie Oromo - wurden von Abiy Ahmed Ali gewaltsam niedergeschlagen, Führer der Opposition wurden verhaftet, unabhängige Medien wurden gleichgeschaltet und unliebsame Regionalregierungen - wie im Bundesland Somali - kurzerhand abgesetzt und durch Gefolgsleute Abiy Ahmed Alis ersetzt.
Abiy Ahmed Alis zunehmend autokratischer und diktatorischer Kurs kostete ihn letztlich die Unterstützung der Oromos, so dass er sich im Moment vor allem auf die Ethnie der Amharen stützt, die sich historisch immer schon in tiefer Rivalität zu den Tigrayaner befunden haben.
Nach und nach wurden alle Regionalregierungen, die Verwaltungen, der Sicherheitsapparat, die Parlamente, die Medien sowie die Gerichte bis hin zum Verfassungsgericht unter Kontrolle gebracht.
Übrig blieb die TPLF, vormals die dominierende Kraft in der Parteienkoalition EPRDF, die weiterhin im Bundesland Tigray die Regierung stellt. Der Konflikt eskalierte endgültig als Abiy die für 2020 vorgesehenen Wahlen verschob. Die TPLF entschied sich - wie von der Verfassung vorgesehen - zumindest in Tigray Wahlen für die Regionalregierung durchzuführen. Im September wurden in Tigray diese Wahlen durchgeführt. die TPLF bekam die Mehrheit und widersetzte sich somit Abiy Ahmed Ali.
Für Abiy Ahmed Ali war dies einer der Vorwände für die laufende Militäraktion. Er argumentiert damit, dass die Wahlen in Tigray illegal wären und er mit seinem Angriff auf Tigray das Recht wiederherstellen müsse.
Allerdings ist dieses Vorgehen nicht durch die äthiopische Verfassung gedeckt, im Gegenteil: Abiy Ahmed Ali stellt sich damit gegen die Verfassung und somit gegen das Recht. So ist in Artikel 39 der Verfassung festgehalten:
1. Every Nation, Nationality and People in Ethiopia has an unconditional right to self-determination, including the right to secession. … 3. Every Nation, Nationality and People in Ethiopia has the right to a full measure of self-government which includes the right to establish institutions of government in the territory that it inhabits and to equitable representation in state and Federal governments.
Artikel 39 der Verfassung
Der Widerstand der TPLF und die Weigerung die Region Tigray der zentralen Herrschaft bedingungslos zu unterwerfen ist eine Bedrohung für die Bestrebungen Abiy Ahmed Alis die Macht zu zentralisieren und zu konzentrieren. Spätestens seit die Regierung von Tigray Wahlen vorbereitete, begannen die Kriegsvorbereitungen der Zentralregierung.
Zentralisierung und Vereinheitlichung versus Föderalismus
Historisch war Äthiopien ein zentralistisch regierter Vielvölkerstaat. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts war Äthiopien von den Amharen dominiert. Bis 1975 feudalistisch regiert -zuletzt von Kaiser Halle Selassie - und von 1975 bis 1991 durch eine stalinistisch geprägte Militärdiktatur unter dem Amharen Mengistu Hailemariam. Andere Ethnien wurden von diesen zentralistisch geführten Regierungen unterdrückt.
1991 wurde diese Diktatur - auch unter dem Namen Derg-Regime bekannt - durch ein Bündnis von mehreren sozialistisch orientierten Befreiungsbewegungen, der EPRDF, gestürzt. Dominierend in diesem Bündnis war die TPLF. Auch die Befreiungsbewegung Eritreas gehörte zu diesem Bündnis.
Viele Amharen haben diesen Verlust der Vorherrschaft über die anderen Ethnien Äthiopiens bis heute nicht verwunden.
Äthiopien bekam unter der EPRDF erstmals eine Verfassung, in der ein sogenannter multinationaler Föderalismus und Pluralismus als Grundlage der äthiopischen Nation festgelegt wurden. Alle Bundesstaaten bekamen das Recht auf eine gewisse Unabhängigkeit und auf Gleichberechtigung. Das verfassungsmäßige Selbstbestimmungsrecht ging so weit, dass es auch das Recht auf Separation beinhaltete (s.o. Zitat Verfassung, Artikel 39, einer der Artikel, der auch durch Notstandserklärung nicht außer Kraft gesetzt werden kann).
1993 kam es gewissermaßen zur Nagelprobe im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht. Eritrea unter Führung von Isayas Afewerki wollte die Unabhängigkeit von Äthiopien. Meles Zenawi, Premierminister, stimmt der Loslösung unter der Voraussetzung zu, dass die Bevölkerung von Eritrea mehrheitlich zustimmte. Dies führte 1993 zur Gründung Eritreas. Allerdings fanden seitdem keine Wahlen in Eritrea mehr statt, und demokratische Rechte wurden unter dem Diktator Isayas Afewerki - Abiy Ahmed Alis neuem Freund und Lehrmeister - mehr und mehr eingeschränkt.
Bis 2018 wurde die Regierung von der Parteienkoalition EPRDF gestellt. Äthiopien war föderal ausgerichtet, die 9 Bundesstaaten hatten eine weitrechende Autonomie und pflegten ihre eigene Kultur und Sprache. Die Sprache der Amharen (Amharinja) wurde allerdings zur Amtssprache erklärt.
Diese Zeit war von beeindruckender wirtschaftlicher Entwicklung geprägt. Ethnische Spannungen waren zwar vorhanden führten jedoch nicht annährend zu einer Instabilität des Landes wie man es heute beobachten kann. Außenpolitisch versuchte Meles Zenawi eine Unabhängigkeit gegenüber den Blöcken zu bewahren und sah insbesondere wirtschaftliches Dominanzstreben von USA und IWF kritisch.
Unter Abiy Ahmed Ali kam es zu einem radikalen Kurswechsel. Er hielt anfangs - zumindest verbal - noch demokratische Werte hoch, versprach bald möglich freie Wahlen und redete von Liebe und Frieden. Es wurde schnell klar, dass Abiy Ahmed Ali politisch erneut auf einen zentralistischen vereinheitlichten Staat hinauswollte. Die stärksten Bündnispartner fand er unter den Amharen, die den Verlust ihrer Vorherrschaft im Jahre 1991 vor allem der TPLF anlasteten.
Mit nahezu allen anderen Ethnien brachen Konflikte aus und Abiy Ahmed Ali versuchte das über Jahre gewachsene fragile Gleichgewicht mit der Brechstange und unter Einsatz von zunehmender Gewalt und Repression zugunsten eines von ihm und seiner PP dominierten Staatsapparates zu verändern. Insbesondere mit der zahlenmäßig stärksten Bevölkerungsgruppe, den Oromo, hat er es sich verscherzt, so dass er sich heute vor allem auf die Amharen stützt und Tigray und die TPLF als Hauptbedrohung seiner hegemonialen und zentralistischen Bestrebungen ansieht.