Afghanistan: "Auf der anderen Seite gab es nur Gier, Geldgier"
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Interview mit Emran Feroz über Unterschiede zum Abzug der russischen Armee, das Erbe der zwanzig Nato-Jahre und woher die Taliban Geld bekommen
Kann man das, was vergangene Woche in Afghanistan passiert ist, mit früheren Geschehnissen vergleichen. Ist es ein déjà vue?
Emran Feroz: Ich hatte in den letzten Wochen oft von einem möglichen Déja vue geschrieben. Dabei habe ich die Eroberung von Kabul 1992 durch die Mudschahidin, als sie das politische Regime dort gestürzt haben, mit 2021 verglichen, aber eher in einem positiveren Licht.
Der letzte sowjetische Soldat ist 1989 abgezogen und die installierte Regierung von den Kommunisten hat sich dann noch drei Jahre halten können. Vielleicht haben wir dann ein ähnliches Szenario vor uns, war der Gedanke. Im Idealfall: Ohne Bürgerkrieg, mit möglichst wenig Blutvergießen. Weil die innerafghanischen Gespräche weiterlaufen könnten und die internationale Gemeinschaft dort Druck ausüben muss.
Jetzt haben wir komplett eine andere Situation. Kabul wurde erobert, aber die vom Westen installierte Regierung ist nicht nach drei Jahren weg, sondern schon während des Abzugs, obwohl der Westen dort doppelt so lange war wie die Sowjets. Das macht auch deutlich, dass die Fundamente, die hier errichtet wurden, sehr viel schwächer waren als das, was die Sowjets gemacht haben. Obwohl die Sowjets zehn Jahre dort waren und die Nato zwanzig.
Was meinst du mit den Fundamenten?
Emran Feroz: Den strukturellen Aufbau des ganzen Staatsapparates. Zum Beispiel das Militär, aber auch andere Sektoren. Vor allem den Sicherheitssektor, der von den Sowjets aufgebaut wurde, der war sehr brutal und hat viele Afghanen unterdrückt - das gilt auch für den "War on Terror"-Sicherheitsapparat, der in den letzten zwanzig Jahren errichtet wurde. Aber die zuvor errichtete Struktur ging tiefer.
Auch wurde der Sicherheitssektor zuvor nicht von einer derart krassen Korruption heimgesucht, wie sie in den letzten zwanzig Jahren passiert ist. Viele afghanische Kommunisten und Staatsbedienstete, mit denen ich geredet habe, wie auch viele, die nicht für das Regime waren, haben hervorgehoben, dass Korruption damals eigentlich kein Thema war, so wie es in den letzten Jahren der Fall war. Das ist eine Seite.
Andererseits kommt noch ideologische Komponente dazu. Man muss bedenken, dass die Sowjets etliche stramme Kommunisten in Kabul erzogen hatten. Schon bevor sie einmarschiert sind. Das zeigte sich 1978 beim Putsch der afghanischen Kommunisten und schon zuvor. Die Kommunisten waren ein Teil der politischen Landschaft in den urbanen Gebieten Afghanistans.
Viele junge Afghanen wurden in Moskau ausgebildet und zurückgeschickt, also wirklich mit einer ideologischen Gehirnwäsche. So gab es auch dieses ideologische Fundament. So dass man am Ende zwei Seiten mit einer eindeutigen Ideologie in Afghanistan hatte. Einmal die Kommunisten und auf der anderen Seite die Islamisten, die zwar heterogen waren, aber trotzdem vereinfacht heruntergebrochen: Die einen glaubten an Allah und die anderen an Marx und Lenin.
Das war in den letzten zwanzig Jahren so nicht gegeben. Die eine Seite war weiterhin islamistisch geprägt, islamistisch oder dschihadistisch, je nachdem, wie man das bezeichnen mag, und die Taliban. Und auf der anderen Seite gab es eigentlich keine Ideologie. Es gab nur Gier. Geldgier. Persönliche Bereicherung. Und das hat dazu geführt, dass das ganze Konstrukt zusammengebrochen ist.
Auf welche Einheit können die Taliban in Afghanistan mit sehr unterschiedlichen lokalen Gegebenheiten, mit unterschiedlichen Ethnien, Stämmen, Clans bauen?
Emran Feroz: Es handelt sich um eine Gruppierung, die strukturell einheitlich agieren kann. Das hat man gesehen, zum Beispiel an den Eid-Feiertagen, als Waffenstillstände auch ausgerufen wurden, und dann tagelang kein Angriff im Land stattfand. Da haben dann viele Afghanen gesehen: Die sind also doch gut organisiert. Also diese Einheit ist gegeben.
Wobei ich sagen würde, ideologisch sind die Taliban etwas vielfältiger, als viele meinen. Es kann sein, dass in einer Provinz ein Taliban-Gouverneur das Sagen hat und nicht will, dass Mädchen in die Schule gehen und sehr strikt fundamentalistisch vorgeht und gleichzeitig kann es sein, dass in einer anderen Provinz ein Pragmatiker herrscht, der total anders vorgeht und dessen Truppen dort sogar mit Mädchenschulen zusammenarbeiten und die Sicherheit garantieren.
Solche ideologischen Unterschiede zwischen den Taliban gibt es. Der frühere Chef des Haqqani-Netzwerkes, das, auch wenn es Medien manchmal anders und falsch darstellen, ein Teil der Taliban ist, Dschalaluddin Haqqani (gestorben 3. September 2018, Anm. der Red.) hatte sich oft über andere Taliban-Führer beschwert, weil sie nicht flexibel und pragmatisch genug waren, wenn es um Mädchenschulen geht. Der superböse Extremist, wie er dargestellt wurde, war dann facettenreicher, als man das oft dargestellt bekam.
Die Geldbeschaffung der Taliban
Wie werden die Taliban mit dem Drogenhandel umgehen? Wo kriegen sie ihr Geld her?
Emran Feroz: Die Taliban haben in den letzten Jahren, was die Geldbeschaffung angeht, eine sehr eigene Dynamik entwickelt. Natürlich haben sie Zölle kassiert. Wichtige Straßen werden nicht erst seit einer Woche von ihnen kontrolliert, sondern seit Längerem. Sie kontrollieren Grenzposten. Da kommt auch Geld rein über Drogenhandel.
Soweit ich weiß, haben die Taliban im Gegensatz zu den späten 1990-ern, Anfang 2000-er Jahre den Drogenhandel nicht verbieten lassen, weil sie Opium-Händler weiter anbauen lassen. Sie selbst haben diese Regionen erobert und Opium-Händler weiter anbauen lassen und dann Steuern kassiert für die Einnahmen. Soweit ich es bei meinen Recherchen erfahren habe, sind die Taliban keine Drogenhändler, aber sie lassen die Drogenhändler machen.
Jetzt haben sie aber wiederum verkündet, dass das alles aufhören soll, weil, wie es ein Taliban-Sprecher verkündete, ihm die Drogenabhängigen in Afghanistan das Herz brechen. Es werde nichts mehr angebaut. Mal schauen, ob sie sich daran halten, ob sie sich das leisten können. Das ist die Frage.
Was hinzukommt, ist, dass die Taliban mittlerweile seit Jahren Geschäftsmänner, Millionäre, die international agieren, in ihren Reihen haben. Dadurch haben sie auch durch den privaten Handel, etwa von Edelsteinen, noch ein wirtschaftliches Standbein aufgebaut, das man nicht unterschätzen sollte.
Ein Beispiel dafür ist der Nachfolger von Mullah Omar, Akhtar Mohammed Mansur, genannt Mullah Mansur, der 2016 getötet wurde. Mansur war jahrelang undercover unterwegs. In seinem Pass waren Stempel aus den Emiraten und Ländern des Nahen Ostens. Er war überall unterwegs, auch im Iran. Und jeder dachte, das sei ein Geschäftsmann.
In meinem Buch erwähne ich einen Taliban-Offiziellen in Katar, die genaue Position, die er bei den Taliban innehat, kenne ich nicht. Er hat in Deutschland studiert, ist ein Architekt mit einem sehr bekannten Architekturbüro in Katar. Wenn man sich das Portfolio von ihm anschaut, wird man zum Schluss kommen, dass seine Firma eigentlich eine halbe Stadt errichtet hat.
Das hat mich auch sehr überrascht. Er hat auch das Taliban-Büro in Katar entworfen. Das ist ein erfolgreicher Unternehmer. Ich kann es nicht beweisen, dass er der Gruppierung Geld zugeschanzt hat, aber das wäre meiner Meinung nach naheliegend, als einer von vielen, vielen privaten Geldgebern.
Die Geografie, das Land wurde vergessen
Wie ist die Stimmung jetzt? Glaubt man den diplomatisch neu aufgestellten Taliban, die so viel Wert auf Beschwichtigungen legen, oder ist viel Angst da?
Emran Feroz: Nein, man kann es nicht so herunterbrechen. Natürlich gibt es in Kabul viel Angst viele wollen raus. Ich denke, dass auch wieder zu einem Exodus kommen wird. Aber ob man es wirklich auf das ganze Land herunterbrechen? Da würde ich mich zurückhalten, weil es da doch viele ländliche Regionen gibt, in denen die Taliban schon lange das Sagen haben. Dort gibt es viele Menschen, die einfach mal froh sind, dass es da nicht mehr bombardiert wird.
Ja und dort sind auch die Taliban fester in ihren Strukturen. Die Menschen auf dem Land kommen oft zu kurz. Sie kamen auch in den letzten zwanzig Jahren zu kurz. Man sollte vielleicht doch mehr darauf achten, wieso das alles passiert ist.
Durch die Korruption konnten sich die Taliban in den letzten Jahren erfolgreich inszenieren. Ich glaube nicht, dass sie ein anständiges Staatsmodell haben. Sie wissen zum Teil selbst nicht, was sie machen sollen. Aber wegen der Korruption haben sie oft staatliche Offizielle schnell abgelöst, weil in diesen ganzen Dörfern nie etwas von diesen ganzen großen Hilfsgeldern dort angekommen ist. Die Taliban konnten sich in diesen Strukturen gut ausbreiten.
Wenn man die Situation zahlentechnisch betrachtet: Es gibt sehr viele Menschen, die sich eine Flucht mit Flugzeugen gar nicht leisten können, die auch kein Visum bekommen werden. Und das sind ja die allermeisten Afghanen, sie müssen dort weiterhin verharren. Aber manche sagen auch: Es ist schon krass, dass es nach so vielen Jahren jetzt Tage gibt, wo es kaum Todeszahlen gibt. Es ist kein aktiver Krieg mehr.
Es gibt viele Menschen, denen es nicht passt, dass die Taliban jetzt gewonnen haben. Aber es gibt viele, die sich damit auch irgendwie abfinden und versuchen, irgendwie weiterzumachen. Die grundlegendsten Probleme der meisten Afghanen und die Dinge, über die sie sich Gedanken machen, sind nicht die großen Dinge, von denen man im Westen spricht - individuelle Freiheiten, die uns allen wichtig sind, natürlich Frauenrechte, Demokratie -, das ist alles richtig und das ist wichtig.
Aber man muss auch bedenken, was in einem Land wie Afghanistan passiert. Wie dort die Grundbedürfnisse aussehen. Man will eine Arbeit, irgendwie finanziell über die Runden kommen. Und da will man einfach auch, dass Sicherheit herrscht.