Afghanistan-Mandat: So betrügt der Bundestag sich und die Öffentlichkeit

Afghanische Frauen vor Felsnischen der einstigen Buddhas von Bamiyan, die von den Taliban gesprengt wurden. Bild: DVIDSHUB/Sgt. Ken Narbe, CC BY 2.0

Abgeordnete sollen Evakuierung heute nachträglich bewilligen. Doch die Entsendung ist völkerrechtlich fragwürdig, hilft zu wenigen und droht zum Himmelfahrtskommando zu werden

Nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) heute Mittag eine Regierungserklärung zur Lage in Afghanistan nach dem Scheitern des zwei Jahrzehnte währenden Einsatzes von Nato-Staaten abgegeben haben wird, sollen die 709 Abgeordneten über einen der problematischsten Bundeswehreinsätze der vergangenen Jahre entscheiden.

Der dreiseitige Regierungsantrag mit dem Titel "Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan" ist dabei eines der heuchlerischsten Dokumente dieser zu Ende gehenden 19. Wahlperiode des Deutschen Bundestags.

Denn während der Westen am Hindukusch vor Augen der Weltöffentlichkeit in epochaler Monumentalität gescheitert ist, versucht das letzte Kabinett Merkel weiterhin vorzugaukeln, man habe das Heft noch in der Hand.

Anders ist der Antrag der Bundesregierung nicht zu interpretieren, der Bundestag möge den "Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte" für die abenteuerliche Evakuierungsmission nachträglich bewilligen.

Dabei ist der Regierungsantrag zur Evakuierungsmission nicht mehr und nicht weniger als ein Beleg der fortdauernden Selbst- und Öffentlichkeitstäuschung. Das wird schon bei einem raschen Abgleich der Vorbemerkungen mit dem Antragstext deutlich. Der Antrag der Bundesregierung dient einzig und alleine der Untermauerung eigener Fake-News.

Eingangs nämlich gesteht die Bundesregierung ein, dass die radikalislamischen Taliban "bei wegbrechender staatlicher Autorität das Land unter ihre Kontrolle gebracht" haben. Vorausgegangen sei die "Implosion der afghanischen Regierung".

Nur wenige Zeilen später begründen die Regierungsautoren die rechtlichen Grundlagen dann aber mit der "Zustimmung der Regierung der Islamischen Republik Afghanistan" und einem "Notenwechsel vom 15. August 2021". An diesem Tag aber war Präsident Aschraf Ghani außer Landes geflohen und die Regierung zerbrochen.

20 Jahre Krieg in Afghanistan (14 Bilder)

Trümmer des World Trade Centers nach dem Anschlag am 11. September 2001, dem Auslöser des Krieges. Bild: NOAA

Irgendwie scheint der Bundesregierung der Widersinn klar zu sein, denn sie führt ergänzend ein "gewohnheitsrechtlich anerkanntes Recht zur Evakuierung eigener Staatsangehöriger" an.

Auf eine Anfrage von Telepolis, wer nach Meinung der Bundesregierung für die Bewilligung einer robusten Evakuierungsmission durch die Bundeswehr in Afghanistan zuständig ist und welche politischen Akteure in Afghanistan einen entsprechenden Einsatz, wie er heute dem Deutschen Bundestag zur nachträglichen Mandatierung vorliegt, wann und in welcher Form genehmigt hat, ließ das Auswärtige Amt am Dienstag unbeantwortet.

Am Werderschen Markt in Berlin scheint man sich bewusst zu sein, dass sich die Lage in Afghanistan am 15. August grundsätzlich geändert hat. Ein völkerrechtlich belastbares Mandat können nur die neuen Machthaber – sei ihre Regierungsgewalt de jure begründbar oder auch nur de facto gegeben – erteilen. Sympathien oder Antipathien gegenüber dem jeweiligen politischen Regime sind da unerheblich.

Robustes Mandat ist nicht durchsetzbar

Der heute zu entscheidende Antrag ist damit erstens nicht nur völkerrechtlich ein Blendwerk, sondern zweitens auch sicherheitspolitisch. Die Bundeswehrkräfte sollen in eine weitere robuste Mission geschickt werden, die – spinnt man dieses Szenario ernsthaft weiter – zu einem Himmelfahrtskommando werden würde. Man erlaube "den Einsatz militärischer Gewalt zur Durchsetzung des Auftrags", heißt es in dem Text. Ernsthaft?

Die Abgeordneten des Bundestags sollen heute der Entsendung von zunächst 600 Soldatinnen und Soldaten grünes Licht geben, damit diese sich mit Waffengewalt am Kabuler Flughafen (und andernorts) gegen die Taliban stellen, denen es gerade gelungen ist, die gesamte westliche militärische Phalanx zu besiegen?

Einige hundert deutsche Militärs sollen sich, so liest man im Antrag der scheidenden Bundesregierung, zu "Sicherung, Schutz und Wirkung" mit "Aufklärung" und "Nachrichtenwesen" in Afghanistan gegen eine islamistische Übermacht behaupten, die gerade die Bestände einer ganzen Armee erobert hat. Und das "längstens jedoch bis zum 30. September".

Das Problem: US-Präsident Joe Biden zieht angesichts der katastrophalen Bilder aus Afghanistan die Reißleine und will seine 6.000 Soldatinnen und Soldaten bis zum kommenden Dienstag abziehen. Er folgt damit einem Ultimatum der Taliban.

Spätestens dann wird das "robuste Mandat", das die Regierungsmehrheit und Teile der Opposition heute Nachmittag durchwinken werden, ebenso in sich zusammenfallen wie die gesamte Einsatzillusion in den Jahren zuvor.

Im Übrigen geht der auf peinliche Weise selbstbetrügerische Antrag der Bundesregierung noch in zwei weiteren Punkten über das bisherige Mandat hinaus.

Zu einen wird keine Obergrenze zur Entsendung der zunächst 600 Einsatzkräften festgelegt. Zum anderen wird das Mandat für das "Staatsgebiet Afghanistans" und "angrenzende Räume" erteilt. Was genau das bedeutet? Fragen Sie besser nicht!

Taliban kontrollieren die Lage und arbeiten mit westlichen Militärs

Die Realität freilich sieht ganz anders aus. Intern gesteht das Bundesverteidigungsministerium ein, dass bis zu 300.000 Geflüchtete im Stadtgebiet von Kabul, vor allem aber vor den Betonmauern des internationalen Flughafens der Hauptstadt campierten.

Wiederholt ist es in den vergangenen Tagen zu Massenpaniken gekommen, zum Schusswaffeneinsatz überforderter westlicher Militärs gegen Zivilisten und zu einem undurchsichtigen Angriff am nördlichen Tor des Flugfeldes.

Dass es bisher keine größere militärische Eskalation gegeben hat, liegt allein in der Zurückhaltung der Taliban begründet, und damit offensichtlich in Verhandlungen mit dem US-Militär.

Und eben das ist die so einfache wie brutale Wahrheit, die man in Berlin nach wie vor nicht anzuerkennen bereit ist: Die Taliban haben den Krieg gewonnen. Wer in Afghanistan etwas erreichen will, muss mit ihnen reden.

Das mag schwer zu akzeptieren sein, ist aber längst Realität. Denn während UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet von Hinweisen auf Massenhinrichtungen durch Taliban berichtet, arbeiten britische Soldaten nach Angaben der BBC mit den radikalislamischen Milizionären. Nördliche Teile des Flughafens befinden sich zudem bereits unter Kontrolle von Spezialeinheiten der Taliban.

Die militärische Evakuierung ist damit nicht nur im höchsten Maße von den neuen Machthabern abhängig. Sie verläuft auch derart schleppend, dass die Zielmarke von 10.000 Evakuierten wohl deutlich verfehlt werden wird. Nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums wurden vom 16. bis zum 23. August 3.442 Personen durch die Bundeswehr außer Landes gebracht, darunter 302 Deutsche.

In der verbleibenden Woche wird das Tempo nicht angehoben werden. Ganz im Gegenteil ist eine Eskalation nicht unwahrscheinlich, in Regierungsdokumenten ist immer wieder von einer "volatilen Lage" die Rede. Brigadegeneral Jens Arlt, der das Bundeswehrkontingent befehligt, gestand bereits ein, dass es unter dem bestehenden Zeitdruck "jederzeit" zu einer weiteren Eskalation kommen könnte.

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