Afghanistan: US-Truppen "davongeschlichen"
Die große Militärbasis Bagram wurde verlassen. US-Präsenz in Kabul bleibt
Die US-Truppen haben ihre größte Militärbasis - und ihre größte Folterkammer - in Afghanistan verlassen. Wie der neue afghanische Kommandeur der Basis, General Asadullah Kohistani, Medien mitteilte, verließen die US-Truppen die Bagram Air Base am vergangenen Freitag um 3 Uhr morgens Ortszeit, ohne ihm vorher Bescheid zu geben.
Nach fast 20 Jahren Anwesenheit soll das US-Militär den Strom abgeschaltet und sich in der Nacht "davongeschlichen" haben, ohne den neuen afghanischen Kommandeur der Basis zu benachrichtigen. Der entdeckte die Abreise der Amerikaner dann mehr als zwei Stunden später, erzählten afghanische Militärs dem Sender al-Jazeera.
Was Plünderer auf der Flugbasis noch genau an Beute vorfanden, geht aus dem Tolo-Video zum verlassenen Gelände nicht hervor, auch der BBC-Bericht, der neben Zehntausenden von Wasserflaschen, Energydrinks und Essensrationen Tausende von zivilen Fahrzeugen erwähnt, die ohne Schlüssel hinterlassen wurden, lässt Fragen offen, unter anderem die Frage nach dem weiteren Verbleib von bis zu 5.000 Taliban, die auf der Bagram Air Base gefangen gehalten wurden, wie der BBC-Bericht nahelegt dann bei der Übernahme zeigte.
Die Pressesprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, war gestern wortkarg, als sie danach gefragt wurde, wie denn die Info-Politik der US-Militärs genau aussah. Sie verwies, ohne Namen zu nennen, auf das Pentagon, "denn sie sind die Verantwortlichen vor Ort, die an die afghanischen Führer vor Ort übergeben haben". Man habe "angemessen informiert, aber nicht über die genaue Uhrzeit", hatte zuvor Pentagon-Sprecher John Kirby bekanntgegeben.
Kontinuierliche Präsenz in Kabul fortsetzen
Das ist keine große Sache, aber vielsagend. Der Abzug der US-Soldaten aus ihrer wichtigsten Basis verläuft aus Sicherheitsgründen heimlich - anderseits wissen alle wichtigen Player im "afghanischen Spiel" längst Bescheid -, der Abzug geschieht ohne Triumpf und Feierlichkeiten, weil er Konsequenz und Eingeständnis einer militärischen und politischen Niederlage ist. Die Zeit arbeitet weiter gegen das, was die USA einmal als Ziel in Afghanistan ausgegeben hatten: mehr Sicherheit.
Laut Psaki werden die USA, ihre "kontinuierliche Präsenz in Kabul fortzusetzen, die auch dann weitergeht, wenn wir unsere Soldaten, die dort dienen, bis Ende August nach Hause bringen". Man werde weiterhin Partner der afghanischen Regierung sein. Dazu gehöre eine "over-the-horizon capacity" und die Präsenz vor Ort auf dem Boden der US-Botschaft in Kabul.
Das sind Andeutungen, die ebenfalls noch viele Fragen offenlassen. Wie wird die "over-the-horizon capacity" genau ausschauen, gemeint ist damit die Fähigkeit, aus der Luft, mit Drohnen, Raketen und Flugzeugen zuzuschlagen (vgl. Krieg aus der Ferne), falls die Sicherheitslage dies erfordert. Was werden die Kriterien dafür sein? Kann man ernsthaft davon ausgehen, dass die US-Militärs, die auf dem Gelände der Kabuler Botschaft, die einzige Truppe sein wird, die in Afghanistan bleibt? Bei Strategiebesprechungen im Frühling dieses Jahres wurde erörtert, dass Spezialtruppen im Einsatz bleiben.
Die Taliban
Wie werden die Taliban auf US-Truppen reagieren, wenn diese ihren Plänen im Weg stehen? Wie verlässlich ist der Schutz, den die USA der afghanischen Regierung versprechen, nachdem all die Verhandlungen zwischen den US-Vertretern und den Taliban-Vertretern der afghanischen Regierung wie auch der afghanischen Zivilgesellschaft keinerlei Garantien und Sicherheit hinterlassen haben? Die USA schauten vor allem auf ihre Interessen.
Die Ziele der Taliban sind klar, ihre Führer haben nichts mit Demokratie am Turban, ihre Gefolgsleute ebenso wenig, der Druck der Bevölkerung, sich ihrem Herrschaftsmodell anzupassen, wird wachsen. Er wächst mit den militärischen Eroberungen, die die Taliban-Milizen in jüngster Zeit machen und der "Kollaps der afghanischen Streitkräfte, der schneller geschah als angenommen".
Karten zu den Eroberungen und eine ganze Menge von Meldungen zeigen, dass die afghanischen Streitkräfte in der Defensive sind. Dass es nun keine Luftunterstützung des US-Militärs von Bagram mehr gibt, ist eine Schwächung. Dort starteten nicht nur Kampfflugzeuge, sondern auch Versorgungsflugzeuge und Aufklärer.
Es geht nicht um die Frage, ob der Abzug der US-Truppen die bessere Lösung war. Der Misserfolg der afghanischen Mission der USA und der Nato führt einmal mehr vor Augen, auf welche Schwierigkeiten Auslandseinsätze westlicher Nationen treffen, wie falsch Kriegstreiber liegen, zumal wenn die Kenntnis über lokale Verhältnisse und Kulturen erbärmlich sind und sich vor allem Überheblichkeit zeigt. Es geht um die Frage, ob der Abzug politisch nicht besser hätte verhandelt und abgesichert werden können.
Es zeigen sich unglaubliche menschliche Desaster, angefangen vom Schutz und der Behandlung derjenigen, die für die US-Nato-Streitkräfte gearbeitet haben und nun Rache fürchten müssen, bis hin zur Abschiebung von afghanischen Asyl-Bewerbern. Und nicht zuletzt an den riesigen Opferzahlen unter Zivilisten, die der fast 20-jährige Krieg mit westlicher Beteiligung gefordert hat und der nun weitergeht.
Die Hoffnung, dass den Taliban Einhalt geboten wird, liegt nun bei den Nachbarländern (siehe: Afghanistan: Kriege ohne Ende, ohne Sieger und der Hoffnung, dass mit Geld Politik zu machen ist.
Sie (die Taliban, Erg. d. A.) glauben, dass sie weiter international Anerkennung gewinnen, und dass sie die nächste Regierung in Kabul bilden können. Aber solange sie ihre Politik nicht in eine zugunsten der Menschen in Afghanistan ändern und zugunsten des sozialen Fortschritts, hat die internationale Gemeinschaft, Amerikaner, Briten, Europäer und auch einige Nachbarn wie Russland und Iran, ihnen klar zu verstehen gegeben, dass sie weder internationale Anerkennung noch Hilfe bekommen werden. Die Amerikaner haben zugesagt, dass sie eine neue Armee unterstützen werden und für den Haushalt einer künftigen Regierung bis zu fünf Milliarden Dollar pro Jahr zahlen werden. Nichts davon werden die Taliban bekommen, wenn sie nicht zu Zugeständnissen bereit sind.
Ahmed Rashid