"Afghanistan hat seit heute eine neue Chance"
Seite 2: Joseph Fischer: Chance, diesen Krieg dauerhaft zu beenden
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Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich erteile das Wort dem Bundesaußenminister Joseph Fischer. Er spricht gleichzeitig für die Fraktion des Bündnisses 90/ Die Grünen.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!
Vor wenigen Stunden wurde in Kabul die Übergangsregierung vereidigt. Angesichts der historischen Situation für Afghanistan möchte ich heute bewusst keine innenpolitische Rede halten. Wir treffen heute auch keine innenpolitische Entscheidung. Das werden wir im nächsten Jahr zu tun haben.
Es ist eine historische Situation. Nach 23 Jahren Invasion, Krieg und Bürgerkrieg hat Afghanistan seit heute eine neue Chance. Es gab bewegende Bilder. Das, was geschehen ist, war erst der Beginn. Vor dem Land, vor den Menschen in Afghanistan, aber auch vor der internationalen Gemeinschaft liegt noch eine schwierige und gefährliche Wegstrecke.
Nach 23 Jahren, die von Invasion, Krieg und Bürgerkrieg sowie einem humanitären Desaster geprägt waren, das die Weltöffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen und das sich seit Jahrzehnten jeden Winter wiederholt hat, besteht jetzt die große Chance, diesen Krieg beziehungsweise Bürgerkrieg dauerhaft zu beenden. Ich finde, dieses verdient nun wirklich alle Unterstützung.
Was mich ganz besonders freut, ist, dass dieses Datum auch mit dem Namen der Stadt Bonn verbunden ist, nämlich mit der Vereinbarung, die auf dem Petersberg getroffen wurde.
Für uns ist es nicht nur deswegen von großer Bedeutung, weil die Petersberg-Konferenz hier war, sondern auch, weil es die Rolle der Vereinten Nationen im beginnenden 21. Jahrhundert klarmacht.
Die Vereinten Nationen werden dieses Land nicht anstelle der Afghanen regieren und befrieden können, aber sie sind die entscheidende Garantie-Institution für diesen Prozess.
Ich stimme den Vorrednern, dem Bundeskanzler, aber auch Ihnen, Herr Merz, und all denen zu, die zu Recht darauf hinweisen, dass wir ohne die militärische Zerschlagung der terroristischen Strukturen von al-Qaida, ohne Beseitigung des Taliban-Regimes heute nicht diese Situation hätten, sondern die humanitäre Katastrophe auch in den kommenden Jahren und die schweren Menschenrechtsverletzungen sowie vor allen Dingen die Unterdrückung der Rechte der Frauen und Mädchen im wahrsten Sinne des Wortes weiter angedauert hätten. Das muss man der Ehrlichkeit halber ebenfalls hinzufügen.
"Geht bei heutigem Mandat um Friedensmission"
Dieser Kampf gegen den internationalen Terrorismus - auch darauf wurde bereits hingewiesen - ist noch nicht beendet. Dennoch geht es bei dem heutigen Mandat um eine Friedensmission.
Es geht nicht darum - ich habe das bereits gesagt -, anstelle der Afghanen zu handeln. Anders als im Kosovo wird es darauf ankommen, von Anfang an die Übergangsregierung instand zu setzen, Sicherheit zu gewährleisten.
Insofern handelt es sich hier um eine robuste Mission, um eine Mission, die eindeutig unterstützen soll und Frieden beziehungsweise die Herstellung des inneren Friedens zum Gegenstand hat, also um eine Friedensmission.
Selbstverständlich hat der 11. September sehr klargemacht, dass die Europäische Union bisher nicht darauf vorbereitet ist, Entscheidungen über Krieg und Frieden zu treffen. Selbstverständlich hätten wir uns einen stärkeren europäischen Ansatz gewünscht.
Die Bundesregierung, insbesondere Bundeskanzler Schröder, hat von Anfang an - ich habe das hier schon mehrmals erläutert - darauf gedrungen, dass Europa hier stärker sichtbar wird. Nicht umsonst ist es ein deutscher Diplomat, der die Europäische Union in Afghanistan als Sonderbeauftragter unter Javier Solana repräsentieren wird.
Auch das macht unsere europäische Überzeugung klar. Wir waren nämlich der Meinung, dass die Europäische Union sichtbar handeln muss. Hier gibt es auch einen engen Zusammenhang zur Verfassungsdebatte.
Es macht aber auch klar, wie wichtig es ist, dass sich die Bundesrepublik Deutschland engagiert. Das ist nicht nur eine Frage der humanitären Hilfe, das ist nicht nur eine Frage unserer Verpflichtung gegenüber den Vereinten Nationen. Es ist nicht nur eine Frage der Beziehungen zu Afghanistan, sondern es ist auch eine ganz zentrale europapolitische Frage, dass sich Deutschland in diesen Fragen gemeinsam mit seinen Partnern engagiert.
Deswegen ist es sehr wichtig, dass die Niederländer und die Dänen gemeinsam mit unseren Soldaten, wenn der Bundestag dem zustimmt, an dieser Friedensmission der Vereinten Nationen in Afghanistan teilnehmen werden.
Der Bundeskanzler hat das Mandat bereits dargestellt. Es ist ein Mandat nach Kapitel VII der UN-Charta. Der Auftrag ist als Stabilisierung der Übergangsregierung klar definiert. Allein seine Größenordnung lässt anderes nicht zu. Anderes ist auch nicht intendiert.
Der entscheidende Punkt ist das Vertrauen zwischen den Bürgerkriegsparteien, die jetzt gemeinsam - nach einem langen Bürgerkrieg und großem Misstrauen - in diese Regierung eintreten und diese Regierung zu einem Handlungsinstrument der Befriedung und des inneren Wiederaufbaus Afghanistans machen sollen und müssen.
In Kabul und Umgebung muss man eine entsprechende Sicherheitsunterstützungskomponente präsent haben. Das ist der Auftrag.
"Zu innerem Frieden und zur Stabilisierung der gesamten Region"
Es handelt sich hierbei um die Umsetzung des Petersberg-Abkommens. Entsprechend steht es auch in der Resolution des Sicherheitsrates geschrieben. Die räumliche Begrenzung ist damit definiert. Die zeitliche Begrenzung setzt eine Obergrenze von sechs Monaten.
Die Fragen, die Sie hier gerade gestellt und die wir auch im Ausschuss diskutiert haben, kann ich Ihnen insoweit beantworten, als wir durchaus bereit gewesen wären, eine längere Perspektive ins Auge zu fassen, aber anerkennen müssen, dass der Sicherheitsrat so beschlossen hat, wie er beschlossen hat. Das heißt, zwischen dem Wünschbaren und dem, was durchsetzbar war, gibt es, wie oft in der Politik, in der Tat entsprechende Differenzen.
Die Frage "Was folgt auf die britische Lead-Funktion?", die Sie gerade gestellt haben, ist eine Frage, die weiter diskutiert werden muss. Es gibt noch keine diesbezügliche Entscheidung. Die Frage des "gemeinsam rein und gemeinsam raus" wird sehr sorgfältig im Lichte dessen, wo wir nach den sechs Monaten stehen, abzuwägen sein.
Dieser Aspekt wird die entsprechende Diskussion vermutlich schon vor Ablauf dieser sechs Monate sehr stark bestimmen. Ich kann Ihnen nur Folgendes versichern: Wir haben einen Mandatsentwurf vorgelegt.
Die Bundesregierung hat einen Kabinettsbeschluss herbeigeführt, in dem wir von einer Dauer von sechs Monaten - bis spätestens zum 20. Juni 2002 - ausgehen. Das ist unsere Position. Aber hier bestehen noch - um diesen Punkt möchte ich nicht herumreden - schwierige Fragen, die weiterhin zu diskutieren sind.
Ich kann Ihnen nur sagen: Im Zusammenhang mit Mazedonien führten wir eine ähnliche Diskussion. Wenn ich mir heute anschaue, wo wir in Mazedonien stehen, dann können wir doch alle gemeinsam sagen: So richtig und wichtig es ist, dass diese Fragen immer wieder gestellt werden müssen, genauso richtig und wichtig ist es, heute festzustellen, dass wir mit den zwei Mandaten in Mazedonien nun wirklich einen Erfolg erreicht haben, und zwar mit einer präventiven Politik unter Einschluss einer entsprechenden Friedenskomponente.
Dasselbe gilt für die klare Trennung der Missionen. Es handelt sich eindeutig um zwei getrennte Missionen.
Der Brief des britischen Außenministers macht sehr klar, dass es im Zusammenhang mit der Luftraumkontrolle, mit der logistischen Unterstützung und mit einer hoffentlich nicht eintretenden, aber durchaus denkbaren Situation des Entsatzes zu einer entsprechenden Koordination kommen muss und dass es hier auch eine Letztentscheidung geben muss.
Im Lichte dessen, was er, als Bestandteil der Sicherheitsratsresolution, an die Vereinten Nationen geschrieben hat, ist dies, wie ich finde, eine sehr gute Lösung, die wir als Bundesregierung auch voll unterstützt haben.
Ich habe vorhin darauf hingewiesen, dass für Afghanistan heute ein besonderer Tag ist. Ich sage nicht, dass diese Chance zum Frieden nach 23 Jahren von selbst Realität wird.
Ich sage nicht, dass in Afghanistan nicht große Risiken, auch in der Umsetzung dieses Mandats, vor uns liegen. Aber ich sehe es als die einzige Chance an, diesem gequälten, durch Krieg und Bürgerkrieg zerstörten Land auf dem Weg zum inneren Frieden und zur Stabilisierung der gesamten Region, einer sehr gefährlichen Region, zu helfen.
Deswegen möchte auch ich Sie um Zustimmung zu diesem Mandat bitten. Unsere Soldaten werden, wenn der Bundestag zustimmt, gemeinsam mit unseren Partnern in Europa und in der Welt eine Friedensmission beginnen. Dies werden sie im Auftrag der Vereinten Nationen und der Humanität tun.
Zu Beginn wird es ein sehr riskanter und schwieriger Einsatz werden. Ich bitte Sie also auch für die Soldaten, die vermutlich in diesen Einsatz gehen werden, um Ihr Vertrauen und um eine breite Zustimmung.
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