Aleppo: Vom Al-Qaida-Ableger zum westlichen Partner?

Bewaffnete Kämpfer auf einem Jeep

Bewaffnete Kämpfer im syrischen Bürgerkrieg 2017

(Bild: quetions123/Shutterstock.com)

Im syrischen Aleppo tobt der Krieg. Mit dem Vormarsch der Islamisten gerät die Region wieder in den Fokus. Was Türkei, Russland, Iran und Israel damit zu tun haben.

Seit 14 Jahren herrscht Krieg in Syrien, mal mit größerer, mal mit geringerer Intensität, mit Sanktionen und diplomatischen Kanonaden, schließlich mit Waffengewalt, um den syrischen Machthaber Baschar Al-Assad aus dem Weg zu räumen.

Der Assad-Clan ist ein geopolitischer Störfaktor, er hat mächtige und zum Teil sehr unterschiedliche Gegner wie Freunde. Syrien gilt als regionaler Verbündeter des Iran und als wichtiger Eckpfeiler des schiitischen Halbmonds.

Mit dem schiitischen Halbmond kann die geopolitisch-militärische Achse von Teheran über Bagdad und Damaskus nach Beirut oder Gaza bezeichnet werden, kurz: die Stellvertreter-Verteidigung des Iran. Syrien ist zudem ein militärischer Verbündeter Russlands.

In den letzten acht Jahren haben die Waffen in Aleppo jedoch geschwiegen. Die Lage in der nach der Hauptstadt Damaskus zweitgrößten Stadt Syriens hatte sich unter der Kontrolle der syrischen Armee stabilisiert und langsam normalisiert.

Die islamistischen Banden mussten sich – unter dem Schutz des Nato-Mitglieds Türkei – weitestgehend in die Region Idlib zurückziehen, sie wurden nicht geschlagen, gefangen genommen und entwaffnet.

Am vergangenen Freitag wurde die Friedhofsruhe gebrochen: Mit den "heftigsten Kämpfen seit 2020", so die Tagesschau, kehrte der Terror mit einem "Urknall" zurück. Doch warum gerade jetzt und wer verbirgt sich hinter dem Kürzel "HTS"?

HTS: Oppositionelle Rebellen oder geopolitische Gotteskrieger?

Die US-amerikanische Denkfabrik "Center for Strategic and International Studies" (CSIS), die in Russland als unerwünschte Organisation gelistet ist, ist eine akademisch hochrelevante politikwissenschaftliche Forschungsstation und interessante Quelle mit engen Verbindungen zu vergangenen und aktuellen außenpolitischen US-Administrationen.

Im Jahr 2018 veröffentlichte das CSIS eine aktuell bemerkenswerte Studie mit Hintergrundinformationen zur Organisation "Hayat Tahrir al-Sham" (HTS). Interessanterweise erschien die Publikation in einer Reihe, deren Ziel es ist, Hintergrundinformationen und Einordnungen zum weltweiten (insbesondere islamistisch motivierten) Terrorismus zu verbreiten.

Die HTS entstand laut CSIS im Jahr 2011 unter dem Namen "Al-Nusra-Front" als Ableger der Al-Qaida in Syrien.

Trotz einer öffentlichkeitswirksamen Abspaltung von Al-Kaida im Jahr 2017, HTS-Führer Abu Mohammed Al-Jaulani (bürgerlicher Name Ahmed Hussein Al-Shara) verweigerte Al-Qaida-Chef Al-Zawahiri die Gefolgschaft, hält HTS "an einer salafistisch-dschihadistischen Ideologie fest", so die Studie.

Unterstützt von Geldgebern aus den sunnitischen Goldmonarchien kämpfte die HTS in einer ersten Phase gegen den iranischen Einfluss in der Region. In einer zweiten Phase sollte ganz Syrien, die Levante "befreit" werden. Von weltumspannenden Kalifatsplänen à la Osama Bin Laden oder Abu Bakr al-Bagdadi nahm man jedoch bald Abstand.

Zudem kontrollierte die HTS bereits vor den Angriffen auf Aleppo in Form einer selbsternannten Regierung ein Gebiet mit vier Millionen Einwohnern.

Sie verwaltete den Grenzübergang zur Türkei, garantierte eine funktionierende Normalität und grenzte sich in ihrem Gebiet vom Wahabismus oder der Taliban-Herrschaft in Afghanistan ab. Frauen unterliegen offiziell keinem Schleierzwang und sind weder von Bildung noch vom öffentlichen Leben ausgeschlossen.

Ankerpunkt Al-Jaulani - Paria oder Saubermann?

Während HTS und Al-Jaulani in der deutschen Medienlandschaft bereits wenige Stunden nach den ersten erfolgreichen Angriffswellen zur quasi-demokratischen "Opposition" und Rebellengruppe umetikettiert wurden, sind Zweifel angebracht.

Es soll nicht bestritten werden, dass sich HTS in den Bereichen Ideologie, propagandistisches Auftreten, internationale Kooperation und Rhetorik gewandelt hat. In einer neueren Analyse des CSIS von Mackenzie Holtz wird HTS eher als "autoritärer Kleinstaat" denn als radikale Dschihadistenmiliz analysiert.

Dennoch sind Zweifel angebracht: Noch in der Analyse verweist die Autorin auf die rhetorisch geschickte, an westliche Medien gerichtete Kommunikationsstrategie des Milizenverbandes.

Alles nur Fassade? Zumindest Al-Jaulani gibt sich – in den sozialen Medien – gerne als "Kümmerer", Vaterfigur und betender Ramadan-Zelot ohne Grausamkeiten. Einige Gegenargumente: Al-Jaulani hat eine lange und bewegte islamistische Vergangenheit, er hat sich nie öffentlich abgeschworen.

Innenpolitisch regierte Al-Jaulani bis 2018 mit harter Hand – Folter, Journalistenmorde, Unterdrückung der Opposition. Sein angeblicher Sinneswandel setzte ein, als das Geld der Hilfsorganisationen (rund 1,5 Millionen Menschen in der Region waren dringend auf Hilfe angewiesen) an die Verbesserung der Menschenrechtslage geknüpft wurde.

Sein Saubermann-Image ist also eher Kalkül als Gesinnungswandel. Der 1982 in Saudi-Arabien geborene Al-Jaulani soll mehrere Jahre in US-Foltergefängnissen verbracht haben.

Zwei Anekdoten und ein schlechter Witz: Die USA setzen die HTS auf die Terrorliste und auf den Kopf al-Jaulanis 10 Millionen – trotzdem wurde der IS-Chef im von Al-Jaulani kontrollierten Idlib von der US-Armee getötet.

Der Spiegel schreibt Al-Jaulani und seiner Truppe nicht mehr Bin-Laden, sondern Dubai als Vorbild zu – der US-Administration dürfte der gelungene Imagewechsel gefallen. Das Szenario dürfte aus dem Afghanistan der 1980er Jahre bekannt sein.

Ein kluger Schachzug

Wer geglaubt hatte, mit der 60-tägigen Waffenruhe im Gaza-Krieg könne die Region zur Ruhe kommen, sieht sich bitter enttäuscht. Gleich drei geopolitische Großkonflikte – meist auf dem Schachbrett – sind involviert.

Erstens: Der Angriff auf die als Flughafenstandort und Verkehrsknotenpunkt wichtige Region Aleppo ist ein Schlag gegen den Iran. Teheran, das im Libanon und in Gaza massiv unter Druck steht, kann einen weiteren Schlag kaum unbeantwortet lassen.

Der Angriff gefährdet die schiitische Achse – Assad ist ein wichtiger Verbündeter des Iran. Israel und die Türkei dürften den Angriff im Vorfeld abgesprochen haben. Für Israel ist der neue Konfliktherd eine Erleichterung. Der Iran und die irakischen schiitischen Milizen müssen sich bei einer Fortsetzung des Konflikts einem Mehrfrontenkrieg stellen.

Die Türkei empfiehlt sich als Kettenhund in der konfliktreichen Nato-Beziehung. Für Erdogan sind aber weniger Al-Jaulani oder Assad ein Thema, als der Kampf gegen den angeblichen Ableger der PKK in Syrien, den seine Administration analysiert hat. Die kurdische Bevölkerung – ehrenhaft gegen den Islamischen Staat in den Kampf gezogen – droht zerrieben zu werden.

Die autonomen Siedlungsgebiete könnten endgültig türkischen Bomben zum Opfer fallen.

Spannend ist drittens, dass sich Russland in einem Dilemma befindet. Während es Gerüchte gibt, dass ukrainische Söldner rund um Aleppo aktiv sind, muss Moskau entscheiden, wo die Prioritäten liegen. Es ist klar, dass dies der Kampf um die Ukraine sein wird.

Immerhin hat die russische Luftwaffe 2015 Assad gerettet, es ist denkbar und absehbar, dass Russland militärisch und diplomatisch aktiv wird.

Schließlich kam der Angriff zu einem äußerst klugen Zeitpunkt. Iran und Russland sind vermeintlich geschwächt und die neue US-Administration befindet sich – neben dem Endkampf gegen China – in der wahlbedingten Übergangsphase. Der kollektive Westen, der sich vor Ort durch unterschiedliche Interessen auszeichnet, scheint in dieser Situation Fakten schaffen zu wollen.