Algerien: Friedliche Proteste kippen das System Bouteflika
Die Demonstrationen erreichen eine Dimension, mit der niemand gerechnet hat. Bislang erscheint die alte Führung noch planlos
Die Bilder aus Algerien sind völlig ungewohnt. Man sieht Massen demonstrierender Menschen, es fehlt aber das übliche Beiwerk: Polizeireihen in Kriegsmontur, Rauch und Flammen, Typen mit Kapuzen oder Kopftüchern, Molotowcocktails, geworfen von Vermummten, Gaswolken, Wasserwerfer, Schlagstockeinsatz, Plünderungen, am Boden liegende Menschen, auf die eingedroschen und eingetreten wird. Zuletzt führten die französische Polizei und Event-Extremisten aus der französischen Zivilgesellschaft die hohe Kunst der Proteste in einem avancierten demokratischen Land vor. Es gibt Hunderte von zum Teil Schwerverletzten als Opfer und Zeugen einer Polizeibrutalität unter Präsident Macron, die ihresgleichen sucht.
Die Demonstrationen in Algerien verlaufen anders. Bis jetzt. Es gibt Bilder von Demonstranten, die einen Schutzkordon um Polizisten bilden, damit gar nicht erst die Idee aufkommt, dass man Polizisten angreifen könnte. Und es gibt Bilder von Polizisten, die sich Befehlen widersetzen, die Aggressivität in eine Bewegung bringen, die sich bisher durch eine phänomenale Friedfertigkeit auszeichnen.
Sie sind weit gekommen die Proteste (der Populist von dem neulich noch hier die Rede war, ist zu einer Nebenerscheinung geworden). Mittlerweile haben sie eine Dimension angenommen, die das zwanzig Jahre alte System und die Macht, die dahintersteht, ernsthaft ins Kippen bringt. Es geht nicht mehr nur um den Phantompräsidenten Bouteflika, der für ein fünftes Mandat kandidiert.
Die Proteste holen sehr viel weiter aus und haben "Treibstoff" für sehr viel mehr, wie Beobachter sagen. Wie sich gestern zeigte, haben sich mit dem Unabhängigkeitskampf Algeriens verbundene politische Schwergewichte auf die Seite der Jugend geschlagen. Denn die Jungen stellen nicht nur die Mehrheit im Land, sondern ganz deutlich auch bei den Demonstrationen.
Das Land ist aus der Balance; zu hoffen ist, dass solche Szenen, wie eingangs geschildert, auch im weiteren Verlauf der Proteste ausbleiben. "Würdig" ist bis dato als Auszeichnung der Demonstrationen neben "friedlich" als häufigste Kennzeichnung zu lesen.
Derzeit wird trotz Demonstrationsverbot in Algers täglich protestiert. Heute sind es Anwälte und Journalisten; am Dienstag waren es Massen von Studenten nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in anderen Städten. Die Kommentare, die online gepostet wurden, waren euphorisch. Soziale Netzwerke spielen auch bei diesen Protesten eine überragende Rolle. "Abschalten der Verbindungen" war noch kein öffentliches Droh- oder Angstszenario.
Das System Bouteflika ist am Ende
Der Präsident ist nur mehr ein Foto, so der Schriftsteller Kamel Daoud. Die letzte öffentliche Rede von Abdelaziz Bouteflika datiert angeblich aus dem Jahr 2012(!). Derzeit hält er sich gar nicht in Algerien auf, sondern in einer Klinik in Genf. Von dort kam gestern die Nachricht, dass sein Zustand derart ist, dass er jeden Tag sterben könnte.
Das Klinikpersonal muss völlig entnervt gewesen sein, weil die Telefonnummer bekannt wurde und sich Hunderte Algerier den Spaß machten, dort anzurufen, um sich nach dem Gesundheitszustand des Staatsoberhaupts zu erkundigen.
Auch im Lager Bouteflikas liegen die Nerven blank bzw. hat dort eine Neuorientierung stattgefunden. Gestern war der Tag der "Überläufer". Im Stundentakt meldete das Medium TSA, dass sich wichtige Persönlichkeiten (wie etwa der Wahlkampfchef des wichtigsten Gegenkandidaten Ali Ghediri, der seine Kandidatur zurückzieht) und wichtige Vereinigungen auf die Seite der Proteste geschlagen haben.
Aus Befürwortern des fünften Mandats wurden Gegner der Kandidatur. Dazu gehören Legenden des Unabhängigkeitskampfes wie Zohra Drif Bitat, Witwe des ehemaligen algerischen Staatspräsidenten Rabah Bitat, die legendäre Verbindung ehemaliger Geheimdienstleute Malg, die einflussreicheNationale Organisation der Mudschahedin wie auch Teile der Bouteflika eng verbundenen Gewerkschaft UGTA.
Auch wichtige Mitglieder des "Le Pouvoir" (zu Deutsch: "Die Macht") genannten im Geheimen operierenden Apparats der Elitenherrschaft hinter dem Kulissenbild Bouteflika springen auf den neuen Zug auf. Sie alle profitieren vom Erdgas und - ölreichtum des Landes, den der Präsidenten und die ihm Nächststehenden verwalten und aufteilen.
So zum Beispiel die Vereinigung der Unternehmenschefs (FCE), die von Staatsaufträgen leben und davon abhängig sind. Der Vorstand, der Chef der Chefs, Ali Haddad, ist sehr eng mit Bouteflika befreundet. Er bleibt ihm treu. Andere prominente Mitglieder der FCE haben gestern für Aufmerksamkeit gesorgt, als sie sich für die Proteste ausgesprochen haben. Auch die linke Partei FFS (Le Front des forces socialistes) hat sich gegen die erneute Kandidatur erklärt mit Vorschlägen zur Schaffung einer neuen, der zweiten Republik. Ebenso ist die Bewegung Mouwatana auf der Seite der Proteste.
Es gibt politische Kräfte, die sich mit den vorwiegend von Jungen getragenen Protesten verbinden wollen, die schon bei der Kandidatur Bouteflikas zum vierten Mandat Gegnerschaft dokumentiert hatten. Ob daraus nun Bündnisse entstehen, die politisch bestimmende Akteure bei einer Neugestaltung Algeriens sein werden, ist noch völlig offen. Für solche konkrete Formierungen ist die Zeit noch nicht gekommen.
Anderseits scheint man im Regierungslager, bei dem der jüngere Bruder von Abdelaziz Bouteflika, Saïd, eine dominierende Rolle spielt, auch keinen Plan B zu haben. Es gibt, wie es der genannte Schriftsteller Kamal Daoud anzeigt, auch Achtung und Sympathie für die Partei Bouteflikas. (Nachtrag: Dennoch fordert er ihre Auflösung.)
Die FLN (Nationale Befreiungsfront) war die treibende Kraft für die Befreiung Algeriens aus der Kolonialherrschaft Frankreichs. Darüber hinaus hat auch der greise und todkranke Präsident Verdienste bei der Wiederherstellung Algeriens nach den mörderischen Bürgerkriegsjahren in den 1990er Jahren erworben. Für beide, für den Präsidenten wie für die Partei, sei aber die Zeit vorbei, so Daoud.
Vieles spricht dafür, dass die Proteste nicht hauptsächlich von Wut und Hass getragen werden, sondern von einem Gefühl, dass jetzt eine Zeit zu Ende ist, dass es jetzt reicht nach zwanzig Jahren Herrschaft des Systems Bouteflika.
Die Armee und die USA
Eine ganz wichtige Rolle in diesem System spielt die Armee. Auf deren Verhalten es ohnehin in jeder Revolution ankommt. Der Generalstaatschef Ahmed Gaid Salah ist ein enger Freund und Verbündeter des Präsidenten. Nach der ersten großen Demonstration sprach er sich unmissverständlich gegen die Proteste aus und warnte mit Blick auf Algeriens Vergangenheit vor Entgleisungen.
Dann wurde dieses Zitat eigenartigerweise zurückgenommen. Wenige Tage später brachte der 79-jährige Ahmed Gaid Salah abermals mahnende Worte gegen die Proteste vor und ließ erkennen, dass er den Demonstrationen gegenüber misstrauisch ist. Auch in Syrien habe es zu Anfang Rosen gegeben, sagte er. Die Armee werde ein Garant dafür sein, dass die Präsidentschaftswahlen zum vorgesehenen Termin am 19. April stattfinden, betonte er.
Vor ein paar Tagen gab es aus den USA die Botschaft, dass man ein Auge darauf haben werde, wie die Demonstranten behandelt werden.
Am morgigen Freitag wird zur nächsten großen Demonstration aufgerufen. (Nachtrag: Bilder in sozialen Netzwerken legen nahe, dass manche Gewalt provozieren wollen.)