Der Dotcom-Populist und die Proteste in Algerien
- Der Dotcom-Populist und die Proteste in Algerien
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Das starre politische System um Bouteflika hat Platz für einen neuen Populistentypus geschaffen: Rachid Nekkaz, der kein Islamist ist und bei der Jugend sehr beliebt
In Frankreich waren es die Gelbwesten, die aus dem Nirgendwo kamen. In Algerien kommt nun ein Populist ganz neues Schlages namens Rachid Nekkaz aus dem politischen Nichts, sammelt Anhänger unter den Jungen und wird zum Konkurrenten des Präsidenten. Die Hälfte des Landes ist jung, unter 24 Jahre alt. 65 Prozent der Wähler haben keine biografische Verbindung zu den beiden geschichtlichen Schlüsselperioden des Landes, an denen sich die Macht klammert.
Die Macht in Algerien ist 82 Jahre alt und heißt Abdelaziz Bouteflika. Seit einer Ewigkeit gibt es keine Alternative zu ihm, obwohl sich der Präsident in den letzten Jahre kaum mehr zeigte. Im öffentlichen Leben war er seit seinem Schlaganfall 2013 nur mehr in Ausnahmemomenten präsent. Bouteflika wurde ein leeres Bild, so der Schriftsteller Kamel Daoud. (Die belgischen Gelbwesten gehen weiter, sie haben einen besonderen Draht zur CIA und wissen, dass Bouteflika längst tot ist).
Vor kurzem hatte der greise Präsident angekündigt, dass er sich für ein fünftes Mandat bewirbt. Jetzt "bestraft ihn das Leben" (Gorbatschow) in Form von Protesten, wie sie das Land lange nicht gesehen hat. Vergangene Woche waren es Tausende in der Hauptstadt Algier und die Bilder gingen hinaus in die internationale Öffentlichkeit, bis in die Tagesschau.
Gestern protestierten die Studenten und die TV-Kameras zeigten die Proteste mit den Schildern gegen eine weitere Amtszeit Bouteflikas ("Nein zum fünften Mandat!", "Bouteflika verzieh dich!", "Für ein freies und demokratisches Algerien" wie auch "Weg mit dem System!") wieder einer größeren Öffentlichkeit, auch in den europäischen Ländern. Und die Nachrichtenkonsumenten bekamen wie so oft wieder nur die Hälfte zu sehen.
Die Proteste fanden nicht nur, wie es viele Hauptnachrichten zeigten, an der Universität in Algier statt, sondern landesweit, an vielen Universitäten, wie es algerische Journalisten und Twitter-News-Multiplikatoren herausstellten. Es ist ein großer Protest und er entwickelt seine Dynamik erst noch, so der Eindruck, der sich gestern aufdrängte.
Friedfertige Proteste und die Angst vor jeder Bewegung
Dafür spricht, dass Bouteflika sich gestern mit seiner Kandidatur für die Wahl im April festlegte und dafür spricht, dass die ersten offiziellen Reaktionen auf die Proteste keine Verurteilungen waren. Im Gegenteil: Die Meldung der algerischen Nachrichtenagentur stellte die Friedfertigkeit der Proteste heraus. Allein das wird in Algerien schon als eine Art Ermutigung aufgefasst.
Auch der ausführliche Kommentar und ein Appell in einer großen Zeitung rückt die Friedfertigkeit der Proteste und ihre Legitimation in den Mittelpunkt. Das heißt viel in einem Land, wo jede Bewegung, wie es Kamel Daoud eindrücklich beschreibt, dem Verdacht ausgesetzt ist, dass sie zur Spaltung, zur Katastrophe der Fitna, führt.
Algerien kennt die Katastrophe gut. Der Bürgerkrieg in 1990ern forderte weit über 100.000 Tote. Die Auseinandersetzung zwischen den Islamisten und der Staatsmacht ist ein Trauma und der Held, der Algerien aus der Misere half, wie es erzählt wird, heißt Bouteflika. Er gilt als Retter und auf diesen Ruf hat er sich eine Machtstellung errichtet, die keine Alternative zu ihm, keinen Konkurrenten zugelassen hat.
Alternativlosigkeit
Es ist nicht so, dass nur die Propaganda-Schreiber Bouteflika als einzige realistische Option beschreiben, das tun auch Kenner des Landes mit nachvollziehbaren Einschätzungen, die "nicht auf Mission" sind. Das Land ist unter Leitung von Bouteflika und dem System, das sich um ihn herum aufbaute - genährt mit Massen von schwarzem Gold - politisch verarmt. Es ist ein starres System geworden, das aber tiefe Wurzeln hat, die zurückreichen in den Befreiungskampf gegen die Kolonialmacht Frankreichs.
Der Hass auf Frankreich lebt noch, wenn man etwa als Indiz dafür die terroristischen Anschläge der letzten Jahre nehmen will. Unter den Dschihadisten-Trupps, die in der Vorbereitung oder in der Durchführung beteiligt waren, waren auffallend häufig Personen mit Beziehungen nach Algerien.
Dennoch weder die Befreiung von Frankreichs Kolonialherrschaft noch der Bürgerkrieg in den 1990ern, beides entscheidende Daten für die politische Sozialisierung und Positionierung der älteren Algerier, würden im Bewusstsein der jetzigen Jugend wichtige Markierungen sein, stellt Daoud fest. Sie kennen diese Vergangenheit nicht.
"Ein bisschen 5-Sterne, ein bisschen Trump und etwas Macron"
Aber sie kennen die Erfolgsbilder von Rachid Nekkaz, den sie bejubeln. Nekkaz ist ein neuer Hero, der soziale Netzwerke und die Versprechungen, von denen sie leben, hervorragend bedient. Nekkaz als ungewöhnlich zu beschreiben, trifft dessen Surrealismus nicht ganz. Experten tun sich schwer. Eine Expertin beschreibt ihn als "ein bisschen italienische 5-Sterne, ein bisschen Trump und auch etwas Macron".
Nekkaz hat vor einigen Jahren, 2008 einen Hungerstreik durchgehalten, bis man ihn ins Krankenhaus einliefern musste. Ob sein Leben wirklich auf der Kippe stand, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Aber es ist auch nicht wirklich mit Sicherheit zu sagen, dass alles nur Show war. Das ist bezeichnend.
Der Grund für den riskant weitgetriebenen Hungerstreik Nekkaz' war, dass ein mit ihm befreundeter Anwalt zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Nekkaz fand die Strafe als ungerecht. Der Anwalt hatte einen in Frankreich berüchtigten, beinahe schon legendären, auf jeden Fall weithin bekannten Kriminellen verteidigt. Dass er mit einem Fall, der große Aufmerksamkeit bekommt, ganz nahe in Berührung ist, ist ebenfalls bezeichnend für Nekkaz.
Er hat einen Hang zur Öffentlichkeit und niemand weiß Genaues. Nekkaz gilt als reich, als Dotcom-Millionär, der um die Jahrhundertwende zu sehr viel Geld gekommen ist. Aber niemand weiß, wie reich er ist und wo das Geld genau herkommen soll.
Geld für die Roma und Geld für französische Burka-Trägerinnen
In Frankreich wurde er mit Öffentlichkeitsaktionen berühmt, bei denen er einmal viel Geld für Mitglieder der Roma spendieren wollte, um Land für sie in Frankreich zu kaufen, damit sie bessere Lebensbedingungen haben. Er wollte damit die Politik des damaligen Innenministers Hortefeux auf eine unorthodoxe, aber pragmatische Art konterkarieren. Von diesem Projekt ist keine Rede mehr.
Aufsehen erregte auch sein Angebot, dass er Frauen die Strafe bezahlen würde, die ihnen drohte, wenn sie in Frankreich öffentlich mit einem Gesichtsschleier unterwegs sind. Das hat Nekkaz in die Schlagzeilen gebracht, politisch geholfen hat es ihm nicht: Zwei Mal, 2007 und 2012, wollte er sich als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen in Frankreich bewerben und kam aber nicht weit. Seine spektakulären Aktionen brachten ihm nicht genug Unterstützer ein.