Allein wie ein Stein

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Die deutsche Seele und "Die Nibelungen"

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Neulich im Schloss des Bundespräsidenten. Joachim Gauck gibt ein Fest zur Feier des 80. Geburtstags von Edgar Reitz, der - Gauck zufolge - mit seiner Heimat-Trilogie ein "nationales Epos" geschaffen habe. Wie anschließend der Presse zu entnehmen, beklagt sich der Präsident über die epische Armut in Deutschlands Film und Fernsehen, wo man inzwischen jedem Kaff seinen Heimatkrimi widmet, aber immer weniger die Kraft aufbringt, die großen und komplexen Geschichten zu erzählen, ohne die eine Kultur verarmt, weil sie nur noch Nabelschau betreibt. Da würde ich Herrn Gauck nicht widersprechen. Auch ich bin ein Aficionado der langen Form, muss aber gestehen, dass mich Reitz’ Heimat zunehmend gelangweilt hat. Nicht einmal für den ersten, 1984 mit Jubelchören begrüßten Teil konnte ich mich begeistern, wenn ich ehrlich bin. Deshalb sei hier ein anderes nationales Epos empfohlen, das trotz seiner 90 Jahre erstaunlich frisch geblieben ist und spannend bis zum Schluss, obwohl man vorab das Ende kennt. Die Mutter aller Ritterfilme, bis hin zum Herrn der Ringe und Game of Thrones. Ein echtes Meisterwerk des deutschen Films, das unerbittlich ist in seiner Konsequenz und zeigt, dass das mit der vom Präsidenten beschworenen Freiheit gar nicht so einfach ist, wenn man erst eine falsche Entscheidung getroffen hat.

Filme, die man gesehen haben muss, ehe einen die Demenz ereilt, Folge 3: Fritz Langs Die Nibelungen.

Als heutiger Zuschauer muss man wahrscheinlich drei Hürden nehmen, um Langs grandioses Epos über Macht, Geld und Realpolitik würdigen zu können.

1. Man darf sich nicht vom Etikett "Literaturverfilmung" abschrecken lassen, falls man wie ich das Pech hatte, in der Schule auf Deutschlehrer zu stoßen, deren vornehmste Aufgabe es war, einem die Lust an der Literatur auszutreiben. Lang schuf keine hermetischen Kunstwerke für Insider und Besserwisser, sondern solche, mit denen er die Hochkultur demokratisierte. Für ihn war Karl May wichtiger als der anonyme Verfasser des Nibelungenliedes oder philologische Überlegungen zur mittelhochdeutschen Überlieferung. Das kann man schon daran sehen, dass er später, mit Rancho Notorious, eine ganz ähnliche Geschichte um "hate, murder and revenge" im Westernformat erzählte. Aus Kriemhild ist da ein rachsüchtiger Cowboy geworden und aus der Etzelburg die Ranch einer Ex-Prostituierten, auf der flüchtige Bankräuber Unterschlupf finden.

2. Man muss bereit sein, den Nibelungen eine Chance zu geben, statt das Vorurteil zu pflegen, dass Stummfilme unzugänglich sind, weil man Zwischentitel lesen muss und keine von den Darstellern gesprochenen Dialoge hört. Mein Tipp: Einfach ansehen, sich dem Sog der Bilder überlassen, dann aber bitte anfangen zu überlegen, was man da eigentlich vor sich sieht. Einem Kinomagier wie Fritz Lang kam es natürlich auch auf Schauwerte an, nicht aber auf das Ausschalten des Verstandes und die Übermächtigung des Zuschauers durch das Visuelle wie von den Nazis angestrebt. Lang war der Meister des analytischen Blicks, den man bei ihm einüben kann, ohne durch überflüssiges Gerede abgelenkt zu werden. Statt eine irgendwie geartete Vergangenheit historisch möglichst exakt zu rekonstruieren, entschied sich Lang für die Abstraktion. Die stumme Form eignete sich dafür besonders gut. Kein anderer Ritterfilm ist so modern wie dieser.

3. Man sollte sich selbst ein Bild vom ideologischen Gehalt des Films machen und nicht zu viel auf den später erhobenen Vorwurf geben, dass Die Nibelungen ein protofaschistischer, mit den Zielen der NSDAP sympathisierender Historienschinken sei. Die Nazis, denen selbst wenig Originäres einfiel, plünderten die beiden Nibelungen-Filme aus (vor allem den ersten Teil, Siegfried), bedienten sich bei dem, was Lang und seine Mitarbeiter geschaffen hatten, wenn sie ihre Aufmärsche und ihre nekrophilen Gedenkfeiern für die toten Helden der Bewegung inszenierten (auch Leni Riefenstahl hat ziemlich unverfroren bei Lang geklaut). Daraus kann man lernen, dass es bei Bildern immer auf den Kontext ankommt, in den sie gestellt werden. Erst aus dem Kontext ergibt sich ihre Bedeutung. Wenn das beim Umgang mit dem NS-Filmerbe endlich berücksichtigt würde, statt sich auf Details einzuschießen, wäre schon viel gewonnen.

Vom Schmalzathleten zur deutschen Spitzenleistung

Fangen wir also mit den Nazis an und mit der Drehbuchautorin Thea von Harbou, die sich später zur Parteigängerin und glühenden Verehrerin von Adolf Hitler entwickelte. Harbou fühlte sich ungerecht behandelt, als aus verschiedenen Lagern Kritik an ihrer Bearbeitung des Stoffes laut wurde. Eigenen Angaben nach überwand sie diese Kränkung erst 1935, "durch Worte des Führers, die er über den starken Eindruck berichtete, den der Film und seine Wirkung" auf ihn gemacht hatten - "einen Tag, nachdem er aus der Festungshaft in Landsberg entlassen worden war und als erstes die Nibelungen in München sah". Das müsste der 21. Dezember 1924 gewesen sein. Ob Hitler an diesem Tag wirklich nichts Eiligeres zu tun hatte, als ins Kino zu gehen und sich Die Nibelungen anzusehen (nur Siegfried oder auch Teil 2, Kriemhilds Rache?), was er sich dabei dachte, und ob er elf Jahre danach, als er Thea von Harbou davon berichtete, noch wusste, was er sich 1924 gedacht hatte, ist schwer zu sagen.

Joseph Goebbels, der spätere Propagandaminister, war nicht besonders angetan, als er den Film 1924 sah: "Alle Phantasie aus alten Kindertagen schwindet und zurück bleibt nur rasches Erwachen. Als Siegfried wird ein Schmalzathlet aus Berlin, als Brunhilde eine Frankfurter Pelzhausjüdin photographiert." 1929 hatte er es sich anders überlegt und scheinbar erkannt, dass sich Langs Film propagandistisch ausschlachten ließ, wenn man sich auf den ersten Teil konzentrierte und auch da nicht zu genau hinschaute. 1929, bei einer Wiederaufführung, rühmte er Die Nibelungen als "die deutsche Spitzenleistung", sah er "das deutsche Schicksal schlechthin" auf die Leinwand gebracht: "Ich bin wieder einmal erschüttert von diesem grandiosen Gemälde deutscher Kraft, Größe und Schönheit." Wieder einmal. Da traf es sich gut, dass er das mit dem "Schmalzathleten" und der "Pelzhausjüdin" nur seinem Tagebuch anvertraut hatte.

Am 28. März 1933 hielt Goebbels im Berliner Hotel Kaiserhof vor deutschen Filmschaffenden eine Rede, in der er eine "geistige" Filmkrise unterstellte, dem deutschen Film jedoch zugleich attestierte, dass er das Zeug habe, zur "Weltmacht" aufzusteigen. Dafür sei eine Schärfung der "völkischen Konturen" nötig. Als Beispiel für einen Film, der "einen unauslöschlichen Eindruck" auf ihn gemacht habe, führte er Die Nibelungen an. Obwohl "nicht aus der Zeit genommen", sei das Werk "so zeitnah, so aktuell gestaltet, dass es auch die Kämpfer der nationalsozialistischen Bewegung innerlich erschüttert hat". Als Goebbels seine Rede hielt, hatte die Ufa bereits eine Tonfassung des ersten Teils vorbereitet, mit einem vom Gunther-Darsteller Theodor Loos gesprochenen Kommentar, die im Mai 1933 unter dem Titel Siegfrieds Tod in die Kinos kam.

Das Nibelungenlied machte im Dritten Reich eine unheimliche Karriere. Auszüge wurden im Deutschunterricht durchgenommen, um die "germanische Weltanschauung und germanisches Lebensgefühl" zu verdeutlichen, wie es im Lehrplan für den Unterricht an Höheren Schulen von 1938 heißt, wobei beim Schüler "der Mut zu seelischer Entscheidung zu wecken" sei. Und weiter: "Der Arbeitsunterricht darf nicht zu verantwortungslosem Kritteln und Zerreden führen oder in überheblicher Rechthaberei steckenbleiben. Er muss vielmehr in einem Ergebnis, einer Wertung und Entscheidung sein Ziel sehen. Dafür trägt der Lehrer die Verantwortung." Beim Nibelungenlied war die Interpretationshilfe des Lehrers besonders wichtig, weil vieles am Verhalten der Protagonisten doch zu wünschen übrig lässt und es einiger Volten bedurfte, um die Geschichte propagandistisch nutzbar zu machen, als Beitrag zur Formung des nationalsozialistischen Menschen.

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Hagen, der den ihm vertrauenden Siegfried von hinten mit dem Speer ermordet, wurde nach dem Ersten Weltkrieg gern herangezogen, wenn es galt, die Dolchstoßlegende zu illustrieren. Damals war er noch der Böse. Unter den Nazis erfuhr sein Verhalten eine radikale Umdeutung. Bei den 1937 bis 1939 in Worms veranstalteten Nibelungenfestspielen (aufgeführt wurde eine braun eingefärbte Fassung von Hebbels Nibelungentrilogie) war Hagen der Held. Das Programmheft von 1937 feierte das Nibelungenlied als "die größte Dichtung aus den Frühzeiten der Völker Europas, zugleich die früheste dichterische Kunde von germanischer Größe und germanischem Heldentum", eine Dichtung, "die sich zum Volkstum und zum Ideal männlichen Rittertums" bekenne. "Kraftvoll verkörpert" werde das in der Gestalt Hagens. 1939 steuerte der Oberbürgermeister ein Geleitwort bei, in dem es heißt:

Was in Jahrtausenden aufgewachsen war und wieder zerbrechen musste, hat der Führer neu zusammengefügt im Großdeutschen Reich, das sich anschickt, der Nibelungen Not in das Glück des ganzen Volkes zu wenden. So ist das Wormser Festspiel über alle Spiele anderer Städte hinausgehoben durch die Bodengebundenheit seines Geschehens und durch die Eingliederung vergangenen Schicksals in das gegenwärtige Erleben, das alle Herzen und Hände der Verwirklichung des neuen Reiches zuwendet.

Nicht nur dem Bürgermeister war klar, in welcher Rolle im Festspiel man sich den Führer primär zu denken hatte. Heinrich Himmler, der sich die persönliche Abstammung von einem deutschen Kaiser des Mittelalters herbeiphantasierte und die SS an seinen Vorstellungen von einem Ritterorden ausrichtete, pries Hitler als Wiedergeburt Hagens und ließ sich auch gern selbst mit diesem vergleichen. "Meine Ehre heißt Treue" war der Wahlspruch der SS, und der Treueste überhaupt war Hagen. In ihrer Eidesformel schworen die SS-Männer als viele kleine Hagens dem Ober-Hagen Hitler "Treue und Tapferkeit" sowie - als Synonym für Treue - "Gehorsam bis in den Tod". Für Letzteres gab es ab 1939 reichlich Gelegenheit, nicht nur für die SS. In seiner berüchtigten, am 30. Januar 1943 im Rundfunk übertragenen Stalingrad-Rede prophezeite Hermann Göring, dass Stalingrad "einmal der größte Heroenkampf gewesen sein" wird, "der sich jemals in unserer Geschichte abgespielt hat". Dabei bezog er sich explizit auf die Burgunder, die sich in der Etzelburg verbarrikadieren und den Angriffen der Hunnen trotzen:

Wir kennen ein gewaltiges, heroisches Lied von einem Kampf ohnegleichen, das hieß "Der Kampf der Nibelungen". Auch sie standen in einer Halle von Feuer und Brand und löschten den Durst mit eigenem Blut - aber kämpften und kämpften bis zum Letzten.

In der Nazi-Propaganda wurden die Kämpfe um Stalingrad als das neue Nibelungenlied verklärt, obwohl die dort eingekesselte Armee am Tag nach Görings Rede kapitulierte, statt heroisch unterzugehen, was Hitler, dem neuen Hagen, gar nicht schmeckte. Jeder Deutsche, so Göring am 30. Januar, müsse "noch in tausend Jahren […] mit heiligen Schauern das Wort Stalingrad aussprechen und sich erinnern, dass dort Deutschland letzten Endes doch den Stempel zum Endsieg gesetzt hat!" Wem aber fiel die Schurkenrolle zu, wenn Hagen plötzlich einer von den Guten war? Das Wormser Programmheft von 1939 kennt die Antwort: "So wird auch das Nibelungenlied zum Sinnbild kämpferischer Gemeinschaft, die zerbrechen muss, wenn ein einzelner - in diesem Falle Kriemhild - die Urzelle aller Gemeinschaft, die Sippe, zerstört." Umso bemerkenswerter ist, dass der zweite Teil von Langs Die Nibelungen, Hitlers vermeintlichem Lieblingsfilm, im Dritten Reich nicht mehr aufgeführt wurde, nicht einmal in einer akustisch und ideologisch bearbeiteten Version wie Teil 1.

Ich erkläre mir das damit, dass da nicht nur Kriemhilds Rachefeldzug gegen Hagen gezeigt wird, sondern auch die Auswirkungen der Nibelungentreue, die der Rechtfertigung von allerlei Verbrechen dient (Alfred Polgar: "Ein feierlich gedrehtes Hohelied auf die altgermanische Sitte, um der Treue willen Untreue zu begehen."). Das daraus resultierende Gemetzel wird mit einer solch brutalen Konsequenz vorgeführt, dass die Nazis (würde ich sagen) gar nicht erst den Versuch unternahmen, die schaurigen Ereignisse in ihrem Sinne umzudeuten. "Wer weltanschaulich nicht fest ist", warnte Goebbels 1933 in seiner Kaiserhof-Rede, könne durch gewisse Filme "zum Bolschewisten werden". Die Gefahr war wohl zu groß, dass sich der Zuschauer am Ende mit Grausen von den deutschen Helden abwenden oder gar Partei für die Hunnen ergreifen könnte. 1986, als das Münchner Filmmuseum seine Rekonstruktion der Nibelungen präsentierte, war auf dem Plakat ein traurig dasitzender Hunnenkönig Etzel zu sehen. Ich weiß noch, dass das Motiv einigen Unmut auslöste, weil nicht Siegfried durch den deutschen Wald ritt wie sonst bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Fritz Lang hätte es bestimmt gefallen.

Helden braucht das Land

Wer Die Nibelungen partout vor den völkisch-konservativen Karren spannen wollte, musste viel geistige Flexibilität aufbringen. Lang und Harbou orientierten sich bewusst nicht an Richard Wagner, und Gottfried Huppertz komponierte eine eigenständige Musik, statt, wie allgemein erwartet, Wagner-Opern zu recyceln. Als weltanschaulich gefestigt erwies sich 1924 der Kritiker der Filmwoche, der das einfach ignorierte, Wagner zum einzig möglichen Komponisten des Nibelungenlieds erklärte ("Er hat zu allen Zeiten mit ehernem Ernst unverrückbar vor dem deutschen Menschen gestanden und hat ihn gemahnt, daß der kühne Mut der Vorfahren nie die feige Angst der Epigonen werden darf.") und so tat, als habe Lang sich voller Freude in dessen Tradition gestellt. War diese im real existierenden Film nicht vorhandene Traditionspflege erst hinzuerfunden, konnte man Lang auch loben wie die zum Hugenberg-Konzern gehörende Filmwoche, die ihm in ihrem Nibelungen-Sonderheft attestierte, er habe "das deutsche Heldenlied auferstehen" lassen und sich damit zu einer Tat bekannt, "deren Kühnheit dem Deutschen wohl kaum offenbar ist". Der Kritiker jubilierte:

Ein geschlagenes Volk dichtet seinen kriegerischen Helden einen Epos in Bildern, wie ihn die Welt bis heute noch kaum gesehen - das ist eine Tat! Fritz Lang schuf sie und ein ganzes Volk steht ihm zur Seite. Ein ganzes Volk, weil eben dieses er bei seinem innersten Herzen faßt. […] Wir brauchen wieder Helden!

An Interpretationen wie dieser war Lang nicht ganz unschuldig. Im Programmheft zum Film schrieb er etwas vom "geistigen Heiligtum einer Nation" sowie von "einer gewissen Andacht vor dem zu Schaffenden", und in Interviews erweckte er den Eindruck, er wolle dem deutschen Volk dabei helfen, sich nach der im Weltkrieg erlittenen Niederlage wieder aufzurichten und strebe die Erneuerung Deutschlands an, indem er einen nationalen Mythos zu neuem Leben erweckte. Das kann man als die übertriebene, allzu leicht in den Kult des Nordischen abdriftende Deutschtümelei eines soeben erst eingebürgerten Wieners deuten, als Anbiederung an seine neuen Landsleute oder schlicht als die Geschäftstüchtigkeit eines geschickten Selbstdarstellers, der sich am Set als Diktator gebärdete, keine künstlerischen Kompromisse mochte, dabei aber teure Filme drehte und wusste, dass er ein großes (und notwendigerweise ein breites politisches Spektrum abdeckendes) Publikum brauchte, um das weiter tun zu können. Die Selbstinszenierung wird schon daran offensichtlich, dass Lang beim Drehen auf dem Studiogelände Stiefel und Reithosen trug, manchmal auch nur die Hosen. Cecil B. DeMille hatte dieses Kostüm des Regie-Impressarios ursprünglich angelegt, um sich bei Außenaufnahmen gegen Schlangenbisse zu schützen. Später behielt er es bei, weil es half, den Regisseur als eigene Marke zu etablieren, was wiederum mehr künstlerische Freiheit mit sich brachte. Lang lernte genauso von DeMille wie Alfred Hitchcock.

Fritz Lang (aus "Das Erbe der Nibelungen")

Die Ufa startete eine nahezu flächendeckende Werbekampagne. So gut wie alle Illustrierten und die großen Tageszeitungen druckten während der neunmonatigen Drehzeit Auszüge aus dem Skript. Thea von Harbou brachte vorab ihre Romanfassung auf den Markt (Das Nibelungenbuch, mit Standphotos), die für den Film warb und in dessen Vorspann wiederum der Roman beworben wurde. Etwa zeitgleich mit der Fertigstellung des Drehbuchs traten Fritz und Thea vor den Altar. Es gab Home Stories über die Liebes- und Arbeitsbeziehung des frisch getrauten Paares, und das gewisse Etwas hatte die Sache auch, eine das Private und das Öffentliche verbindende Psychodynamik, weil Theas vorheriger Gatte, der Mabuse-Darsteller Rudolf Klein-Rogge, König Etzel spielte, der darunter leidet, dass die von ihm angebetete Kriemhild nur den toten Siegfried (und ihre Rache) liebt.

Pünktlich zur Uraufführung des ersten Teils erschien eine mysteriöse Dame vor der Grabkammer eines anderen großen Deutschen, zu dessen Nachfolger Hitler später stilisiert wurde, des Alten Fritz, und bestand darauf, dass ihr mitgebrachter Kranz gut sichtbar in der ersten Reihe stehen müsse. Den Kranz zierte eine riesengroße Schleife mit der Aufschrift "Zur Premiere des Nibelungenfilms. Fritz Lang", und die Presseabteilung der Ufa sorgte dafür, dass die Öffentlichkeit davon unterrichtet wurde. Die Dame dürfte Thea von Harbou gewesen sein, die damals, 1924, aber nicht so linientreu war, wie Interpreten sie gern haben würden, die den Film in die völkisch-chauvinistische Ecke stellen wollen. Im Premierenjahr unterlief ihr ein Fauxpas, als sie abfällige Bemerkungen über die Germanen machte. Die Rede war von "tückischen Gesellen", "rücksichtslosen Wortbrechern" und "kalten Mördern", die auf eine so trotzige Weise zu sterben verstünden, dass ihr Tod meistens ruhmreicher sei als ihr Leben. Als das in einem Pressetext auftauchte und bei wichtigen Zielgruppen für Ärger sorgte, schickte die Ufa eiligst ein Dementi hinterher. Der ursprüngliche Text, hieß es nun, sei durcheinander geraten. Die alten Germanen aus der Epoche der Nibelungen, das habe man eigentlich sagen wollen, seien hin und wieder gewalttätig und temperamentvoll gewesen, aber im Grunde doch prächtige Menschen, deren Tugendhaftigkeit alle Deutschen nacheifern sollten.

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Die dem Film vorangestellte Widmung, "Dem deutschen Volke zu eigen", dürfte einem der am schönsten gestalteten Kinderbücher der Zeit geschuldet sein, dem erstmals 1908 in "Gerlachs Jugendbücherei" erschienenem Band Die Nibelungen - "dem deutschen Volke wiedererzählt" von Franz Keim. Die von Carl Otto Czeschka beigesteuerten Jugendstilillustrationen waren eine wichtige Inspirationsquelle für den Film, der auch der stark gerafften Handlung in Keims Nacherzählung einiges zu verdanken hat. Damit ist ein Grund genannt, weshalb manch ein Bildungsbürger empört die Nase rümpfte: die mangelhafte Texttreue. Harbou tat kund, dass sie bei der Recherche auf etwa zwanzig verschiedene Versionen des Stoffes gestoßen sei. Daraus leitete sie das Recht und die Notwendigkeit ab, "aus allen Quellen das am schönsten und stärksten Erscheinende herauszufangen und ihm eine neue Form zu geben". Sie reduzierte die Geschichte auf die wichtigsten Figuren und auf das, was sie für zeitlos hielt: "Liebe und Hass, Treue und Verräterei, Freundschaft und Rache" (Programmheft).

Im Roman wie im Drehbuch geht es dann doch mitunter ziemlich völkisch-weihevoll zu. Der kühlen Präzision von Langs Inszenierung ist es zu danken, dass davon im Film nicht viel übrig bleibt. Joe Hembus zitiert im Nibelungen-Kapitel seiner Klassiker des deutschen Stummfilms Jean-Luc Godard: "Man muss unbestimmten Ideen klare Bilder gegenüberstellen." Mich würde es nicht wundern, wenn Godard dabei an Lang und seine detailversessenen, sorgfältig komponierten Einstellungen gedacht hätte. In Godards Film über das Filmemachen, Le Mépris, spielt Lang einen Regisseur namens Fritz Lang, der die Odyssee verfilmen will und Sätze sagt, die auch für Die Nibelungen sehr erhellend sind.

Warnende Widmung

Lang entschied sich für eine Strategie der radikalen Künstlichkeit, um gar nicht erst den Verdacht aufkommen zu lassen, er habe Vergangenes rekonstruieren wollen. Die Bäume des Waldes, durch den Siegfried am Anfang reitet, wurden aus Gips gebaut und mit Rindenmustern bemalt. Das Licht der Scheinwerfer vermischte sich mit dem durch das Glasdach über dem Ateliergebäude fallenden Licht der Sonne, was das Ganze noch unwirklicher erscheinen lässt. Enno Patalas, der in den 1970ern damit begann, die nur noch verstümmelt erhaltenen Nibelungen wieder zusammenzusetzen, kamen die Bäume des Odenwalds vor, als leuchteten sie von innen wie Neonröhren. Einer der genialen Filmarchitekten der Ufa, die Lang in sein Team holte, war Erich Kettelhut (in der Privatwohnung Langs und Harbous am Hohenzollerndamm fanden schon Monate vor dem ersten Drehtag regelmäßige Regiesitzungen mit dem gesamten Stab statt). "Dieser Wald", schreibt Kettelhut in seinen Erinnerungen, "sollte nicht aussehen wie gewachsene Natur, sondern wie ein von geheimnisvollen Kräften erschaffener Dom, dessen Baumpfeiler sich astlos in ein dämmeriges Dunkel reckten. Einzelne breite Sonnenbahnen erhellten das Dunkel unter dem unsichtbaren Laubdach."

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Wenn doch einmal etwas natürlich ist, wird es für harte Kontraste eingesetzt wie die Blumen, die im Herbst gesät wurden und im Frühling, als Symbol neuen Lebens, an der Quelle blühten, an der Siegfried getötet wird. Fast alles in diesem Film ist stilisiert. Ein wichtiger Ideengeber war Wilhelm Worringers Studie Formprobleme der Gotik. Berühmte Vorbilder aus Malerei, bildender Kunst und Architektur wurden in Filmbilder übertragen, das Nebeneinander von Stilen und Perioden wurde zum ästhetischen Prinzip erhoben. Arnold Böcklin kann man genauso finden wie Gustav Klimt, Julius Diez, Pieter Bruegel, Caspar David Friedrich, Hans Thoma oder die von Hans Poelzig für das Große Schauspielhaus in Berlin geschaffenen Lichtsäulen (der Einfluss des Jugendstils überwiegt). Wenn Siegfried auf seinem Schimmel im Wald unterwegs ist könnte man fast glauben, es mit einer animierten Version des Bamberger Reiters zu tun zu haben. Aber das, was sich in diesem Wald abspielt, ist trotz der märchenhaft-unwirklichen Atmosphäre nur allzu menschlich - egal, ob man Lendenschurzträgern, Zwergen oder schockierend unedlen Rittern begegnet.

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Siegfried sehen wir das erste Mal in einer Höhle im Wald. Er ist bei Mime dem Schmied in die Lehre gegangen und liefert gerade sein Meisterstück ab: ein Schwert, das so scharf ist, dass eine auf dieses herabschwebende Daunenfeder glatt durchgeschnitten wird. Nun würde man erwarten, dass der Lehrer stolz auf seinen Schüler ist, doch Mime wirkt mürrisch und misstrauisch, weil Siegfried ihn in der Schmiedekunst übertroffen hat. Einer der Gesellen erzählt von den zu Worms am Rhein residierenden Burgundern und von der schönen Kriemhild. Siegfried ist begeistert und will nach Worms, um Kriemhild - oder genauer: das Bild, das er sich aufgrund der Erzählung von der Frau macht, die er noch nie gesehen hat - zu heiraten. Mime zeigt ihm einen Weg durch den Wald, der angeblich nach Worms führt, tatsächlich aber zu Fafner dem Drachen, der ihn töten soll. In diesem Film, heißt das, darf man keinem trauen. Die Verschwörungen im Märchenwald, der Welt des Mythos, sind eher unterkomplex. Siegfried können sie daher nichts anhaben. Doch den Realpolitikern am Königshof von Worms, in der vermeintlich zivilisierten Gesellschaft, wird er nicht gewachsen sein. Das ist nicht ausschließlich eine schlechte Nachricht. Ich zumindest kann dem durchaus etwas abgewinnen, dass letztlich das Gehirnschmalz über die Muskelkraft des blonden Helden siegt. In keinem Film von Fritz Lang wird je behauptet, dass man den Verstand nur dafür verwenden kann, andere Leute umzubringen. Außerdem steigert man bei Lang das eigene Vergnügen, indem man sein Hirn eben nicht an der Garderobe abgibt (wie bei dem ganzen Schrott zwingend erforderlich, in den Drehbuchautoren, Regisseure und Produzenten den Nibelungenstoff später verwandelt haben).

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Die Tricktechnik in Die Nibelungen setzte 1924, als man Spezialeffekte noch vor und in der Kamera schuf, statt sie nachträglich am Computer zu generieren, neue Maßstäbe (wie es gemacht wurde kann man in Erich Kettelhuts Der Schatten des Architekten nachlesen und - weil reich illustriert - nachschauen, einem der schönsten Filmbücher der letzten Jahre). Der Drache war eine Sensation. Nach heutigen Sehgewohnheiten wirkt er vielleicht zu plump und mechanisch, wie ein überdimensioniertes Urmel aus dem Eis (im Körper steckten sieben Männer, die ihn bedienten). Lang hätte es nicht anders haben wollen. Das ist daran zu erkennen, dass auch der Vogel betont künstlich ist, obwohl man problemlos einen echten hätte nehmen können. Die Spezialeffekte fügen sich in das Gesamtkonzept des Films ein und sind diesem untergeordnet, statt alles zuzudonnern, um von den Löchern in der Handlung abzulenken, wie man es mittlerweile gewohnt ist.

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Kein anderer Lang-Film ist kunstvoller strukturiert als dieser. Das ist auch das Verdienst Thea von Harbous, die wusste, wie man für das Kino eine Geschichte baut und mehr war als die Kitschkönigin und Nazitante, der Langs Verehrer gerne alles zuschieben, was ihnen an seinen deutschen Filmen nicht gefällt. Jeder der beiden Teile ist in sieben Kapitel ("Gesänge") untergliedert. Jedes Kapitelende ist eine Zäsur, die Lang und Harbou zur Rekapitulation des Geschehenen und als Ausblick auf das Kommende nützen, meistens zu einer Einstellung verdichtet, um zu Beginn des folgenden Gesangs eine Information hinterherzuschieben, die wir bisher nicht hatten und die eine neue Perspektive auf das Gesehene eröffnet.

Am Schluss des ersten Gesangs taucht Siegfried den Finger in das Blut des sterbenden Lindwurms. Das Blut ist heiß und Siegfried steckt den schmerzenden Finger in den Mund. Weil er dadurch von ihm trinkt, kann er plötzlich den (künstlichen) Vogel verstehen, der zwitschert, dass er, Siegfried, unverwundbar würde, wenn er im Blut des Drachen baden würde. Siegfried zieht sich nackt aus und stellt sich unter den Blutstrahl, der aus dem Körper des Untiers schießt wie das Wasser aus einer Quelle. Der Körper des sterbenden Monsters macht letzte Zuckungen. Sein Schwanz schlägt gegen den Stamm einer Linde, ein Blatt segelt herab und landet auf Siegfrieds Rücken. Im ersten Gesang sehen wir, wie der blonde Recke zum unverwundbaren Märchenhelden wird. Die letzte Einstellung zeigt, dass er doch verwundbar ist, weshalb er später - an einer Quelle - sterben wird. So ist in der Szene, die Siegfried unsterblich machen soll, bereits sein Tod enthalten.

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Durch das Töten des Lindwurms setzt Siegfried eine Kettenreaktion in Gang, die dazu führt, dass er selbst, bei einer Treibjagd mit ihm als Wild, ermordet wird, worauf ein immer größer werdendes Gemetzel folgt, das erst mit dem Untergang der Burgunder endet. Das ist noch schlimmer als in The Alamo von John Wayne, wo wenigstens ein junger Mann, eine Mutter und ihr Kind überleben. Man kann darin eine fatalistische Weltsicht erkennen, die nach Meinung vieler Kritiker typisch für den Regisseur Fritz Lang ist, sollte dann aber auch anfügen, dass es immer wieder Momente gibt, in denen die Charaktere eine Wahl haben. Siegfried muss den behäbig im Wald sitzenden Drachen nicht töten (weit und breit keine Jungfrau in Not), er muss nicht nach Worms reiten, die Burgunder müssen ihn nicht in ihre Burg lassen (Hagen rät explizit davon ab) und so weiter. Sich auf ein unabänderliches Geschick berufen zu können, oder gar auf die Vorsehung wie Adolf Hitler, so einfach macht Lang es seinen Figuren nicht. Seine Charaktere müssen Entscheidungen treffen. Dann zeigt er mit unerbittlicher Konsequenz, wohin der Weg führt, den sie eingeschlagen haben. Die Widmung, "Dem deutschen Volke zu eigen", kann man auch als Warnung verstehen.

Reise in das Unbewusste

Die Burgunder werden betont distanziert eingeführt. Durch die Lücken zwischen den im Vordergrund Spalier stehenden Rittern schauen wir ihnen dabei zu, wie sie, an der statischen Kamera vorbei, durch ihre von Quadern, Torbögen und geometrischen Mustern dominierte Burg schreiten. Lang stellt damit klar, dass wir immer nur einen Ausschnitt dieser zivilisiert wirkenden, scheinbar als Gegenentwurf zur barbarischen Welt des Waldes gedachten Gesellschaft am Königshof zu sehen bekommen, nicht das ganze Bild. Besonders im ersten Teil soll sich der Zuschauer dauernd fragen, was er sieht (und was nicht), aus wessen Perspektive, und was es bedeutet. Das ist das Thema des zweiten Gesangs, der mit Volker von Alzey beginnt, dem Minnesänger. Volker berichtet Kriemhild, König Gunther und dem Rest der Sippschaft von Siegfried, dem Drachentöter. Auf diese Weise erfahren wir, dass das, was wir im ersten Gesang gesehen haben, die Illustration von Volkers Heldenlied war. Das ist nicht das einzige Mal in Die Nibelungen, dass wir der Fiktion dabei zuschauen, wie sie verfertigt wird.

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Kriemhild verliebt sich nicht in den realen Siegfried, sondern in den Siegfried aus Volkers Erzählung, so wie sich Siegfried in die Kriemhild aus der Erzählung des Schmiedegehilfen verliebt hat. Das wirft die Frage auf, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen, wie wir uns ein Bild von anderen Menschen machen und uns in unseren Fiktionen einrichten; und wie nebenbei rückt es den Minnesänger, den Repräsentanten der Hochkultur, ganz nah an den behaarten Gesellen aus dem Wald heran, denn beide sind Erzähler - so wie Lang und Harbou, die sich eine trickreiche Struktur ausgedacht und die Geschichte so mit einer sehr modernen Metaebene ausgestattet haben, ohne dadurch Zuschauer zu vergrätzen, die eine stringente Handlung haben wollen (das ist immer noch ein Film für das große Publikum). Wer sich auf die Metaebene einlässt, erhält einen intellektuellen Mehrwert.

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

In einem Film wie diesem, in dem Hinterwäldler, Zwerge und in Höhlen lebende Hunnen auftreten, hat die Problematisierung der Erzählperspektive auch eine wichtige politische Komponente. Ein primitiver Bewohner des Waldes oder der Steppe ist ein Primitiver. Ist der Waldbewohner aber eine Figur in einem vom Minnesänger vorgetragenen Lied, wie wir im zweiten Gesang erfahren, stellt sich die Frage, wie sehr das, was uns als "primitiv" vorgeführt wird, ein von den Vorurteilen des Königshofs gespeistes Zerrbild ist. Manchmal ist Die Nibelungen so verschachtelt wie ein Film noir. Man merkt nur nicht gleich, dass man in einen Vexierspiegel blickt, weil Langs Einstellungen genau da, wo die schlimmsten Ränkespiele getrieben werden, am Hof der Burgunder (also dort, wo angeblich Kultur und Zivilisiertheit wohnen), streng geordnet sind und sich am stärksten an symmetrischen Mustern ausrichten.

Nicht immer, sagt Gesang Nummer Zwei, sehen wir, was wirklich da ist, denn der Blick ist trügerisch. Siegfried reitet durch den Nebelwald und wird vom Nibelungenkönig Alberich überfallen, der durch seine Tarnkappe unsichtbar geworden ist. Das ist kein schlechtes Bild für die Boshaftigkeit und Negativität in dieser Welt. Man sieht sie nicht, und doch sind sie immer anwesend und drohen, einem die Luft abzuschneiden wie Alberich dem blonden Helden. Eines der besten Bücher, die man lesen kann, um sich Langs Filmen anzunähern, ist Freuds Die Traumdeutung. Gegen eine psychoanalytische Interpretation (der Märchenwald als Manifestation des Unbewussten) hätte Lang bestimmt nichts einzuwenden gehabt. Auch hier ist es bedeutsam, dass die Bewohner des Waldes als Figuren im Lied des Minnesängers kenntlich gemacht werden, als nach außen projizierte Angstbilder aus dem Inneren einer Kultur.

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Genauso kann man die Hunnen in Kriemhilds Rache interpretieren, die wie Affen auf Bäumen sitzen und in Höhlen leben. Politisch korrekt sind solche Darstellungen natürlich nicht. Die Übertreibung nimmt aber so groteske Formen an, dass diese Hunnen weniger zur Verkörperung der Bedrohung aus dem Osten werden, sondern vielmehr zur Karikatur einer solchen Bedrohung, was die Angelegenheit genauso verkompliziert wie die Tatsache, dass die Hunnen 1924 nicht mehr nur Hunnen waren wie vielleicht noch zur Entstehungszeit des Nibelungenlieds. Am 27. Juni 1900 verabschiedete Kaiser Wilhelm II. das deutsche Expeditionskorps, das sich in Bremerhaven Richtung China einschiffte, um den Boxeraufstand niederzuschlagen, mit einer berühmt-berüchtigten Rede, in der er die Soldaten aufforderte, kein Pardon zu geben und den Gegner mit derselben Brutalität zu bekämpfen, die einst Etzels Hunnen an den Tag gelegt hätten. Wer sich schon mal gefragt hat, warum deutsche Soldaten in amerikanischen und britischen Kriegsfilmen oft als huns bezeichnet werden: das ist ein Verdienst von Kaiser Wilhelm. Durch seine "Hunnenrede" schenkte er den Sprachen anderer Länder ein bis heute gebrauchtes Synonym für die Deutschen. Das war auch 1924 schon so.

Die Nibelungen - Teil 2: Kriemhilds Rache

Lang ging gern Wagnisse ein und verknüpfte Dinge, die andere fein säuberlich getrennt hielten. In gewisser Weise ist Die Nibelungen eine ihrem Wesen nach intime, kammerspielartige Doppelgängergeschichte wie Der Student von Prag, realisiert als Monumentalfilm mit Westernelementen. Der Besuch der Burgunder am Hof des Hunnenkönigs Etzel (= Attila) wird so zur Reise in das eigene Unbewusste, mit desaströsem Ausgang. Gut möglich, dass das die Nazis 1933 so unheimlich fanden, dass sie den zweiten Teil deshalb nicht mehr aufführen ließen, denn von den Untergangsphantasien im Führerbunker waren sie damals noch ein gutes Stück entfernt, oder zumindest war es nicht politisch opportun, dem deutschen Volk, dem dieser Film gewidmet ist, zu zeigen, wie das tausendjährige Reich mitsamt seiner Verherrlichung von Rittern, Germanen und Nibelungentreue einmal enden könnte.

Die Nibelungen - Teil 2: Kriemhilds Rache

Trotzdem würde Fritz Lang heute manches anders machen. Hätte er gewusst, dass Werner Krauß in Veit Harlans Jud Süß mehrere jüdische Figuren karikieren würde, hätte er vermutlich Georg John nicht für drei Rollen besetzt (als Mime, Alberich und Blaodel, Etzels verschlagenen Bruder), als Bindeglied zwischen dem Märchenwald in Siegfried und dem Hunnenreich in Kriemhilds Rache. John, der zu Langs Stammpersonal gehörte (in M ist er der blinde Ballonverkäufer), erhielt nach Goebbels’ Kaiserhof-Rede keine Filmrollen mehr und wurde 1941 in das Ghetto von Lodz deportiert, wo er bald danach starb, weil seine Gesundheit den unmenschlichen Lebensbedingungen nicht gewachsen war.

Albtraum aus Stein

Wer glaubt, dass die Burgunder für Heldenverehrung und die Suche nach nationalen Leitfiguren taugen, ist nach dem zweiten Gesang desillusioniert. Sollten König Gunther und seine Verwandtschaft irgendwann große Taten vollbracht haben, muss das lange her sein. Sie sitzen so blasiert und gelangweilt in ihrer Burg herum, dass man meinen könnte, man sei unter den dekadenten Müßiggängern im Salon von Graf und Gräfin Told gelandet (Dr. Mabuse, der Spieler), wenn sie anders angezogen wären und wenn es in der Burg nicht so zugig wäre. Es gibt nämlich noch keine Fensterscheiben, weshalb ich persönlich es für sehr vernünftig halte, wenn das Fußvolk der Hunnen in warmen Höhlen haust. Kurz vor der Pleite stehen die Burgunder scheinbar auch, denn Hagen wird später sagen, dass der Nibelungenhort sehr gelegen käme, um die Ausgaben zu decken.

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Der Nibelungenhort, das ist der in einem Bergwerk angefertigte und aufbewahrte Schatz des Zwergenkönigs Alberich, den dieser Siegfried verspricht, wenn er ihn dafür am Leben lässt. Der Schatz liegt auf einer von angeketteten Zwergen getragenen Schale. Lang sind da Einstellungen gelungen, die auch aus einem Agitationsfilm gegen den Raubtierkapitalismus stammen könnten. Als der heimtückische Alberich erneut versucht, Siegfried zu töten, um sich nicht von seinen Pretiosen trennen zu müssen, wird er von diesem umgebracht. Sterbend belegt Alberich den Schatz mit einem Fluch. Dann versteinern er und die anderen Zwerge (Kettelhut erklärt, wie es gemacht wurde). Das ist eines der zentralen Bilder des Films. In einem betont langsamen Erzählrhythmus sehen wir den Burgundern dabei zu, wie sie majestätisch durch ihren Palast in Worms schreiten oder herumsitzen. Weil das menschliche Auge zu träge ist, um den eigentlichen Vorgang zu erkennen, schiebt Lang in Alberichs Schatzhöhle eine Art Zeitraffer ein. Hinter dem höfischen Zeremoniell in Worms, sagt der Film, verbirgt sich die allmähliche Versteinerung einer dekadenten Oberschicht. Denn letztlich sind die Burgunder auch nur Zwerge. Ganz egal, wie heldenhaft sie einem erscheinen mögen.

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Volkers Lied vom Drachentöter bringt etwas Abwechslung in das tägliche Einerlei, doch der rechte Kick ist das noch nicht für die blasierte Herrenrunde. Nur Kriemhild ist rundum zufrieden mit dem Gehörten und überreicht dem Minnesänger zum Dank einen von ihr bestickten Mantel. Die Nibelungen ist auch ein Film über den Kapitalismus, über Warentausch und Geschäftsbeziehungen. Kaum hat Kriemhild dem Dichter sein Honorar ausgehändigt, stößt schon ein Wachposten ins Horn und ein Diener bringt die Kunde, dass Siegfried mit zwölf Vasallen vor dem Tor steht und Einlass begehrt. Kriemhilds Wunschbild von einem Mann nimmt damit konkrete Formen an, und der sagenhafte Held tritt in die Wirklichkeit ein, die ihm zum Verhängnis werden wird. Bei Siegfrieds Einmarsch in die Burg hat sich Leni Riefenstahl einiges abgeschaut und später, auf dem Umweg über Triumph des Willens, George Lucas, als er Star Wars drehte.

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Auch solche Aufmarschbilder sind bei Lang für Heldenverehrung ungeeignet. Siegfried ist gekommen, weil er um Kriemhilds Hand anhalten will, und die Burgunder machen ein Geschäft daraus. Gunther möchte die Königin der Amazonen ehelichen, muss Brunhild dafür aber im Wettkampf besiegen, und weil er das allein nicht kann, soll Siegfried ihm dabei helfen. Im Austausch kann er Kriemhild haben. Darum machen sich die edlen Recken nach Island auf, um für Gunther mit List und Tücke eine Frau zu erobern. Das Nahen dieser Ehrenmänner wird Brunhild von einer Hellseherin avisiert, und Lang zeigt uns die Bilder dazu: die Landung des Burgunderschiffs, den Marsch zu Brunhilds Felsenburg und den diese umgebenden See aus Feuer, das verlischt, wenn der Stärkste (Siegfried) kommt. Wir sind jetzt im dritten Gesang, der uns die dritte Erzählerfigur präsentiert. Lang und Harbou waren schon postmodern, als die Postmoderne noch gar nicht erfunden war. Sie sind nur weniger arrogant als mancher postmoderne Künstler, der einen gern seine intellektuelle Überlegenheit spüren lässt.

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

"Menschen, die ich als ‚Film-Idioten’ zu bezeichnen liebe", schrieb Lang 1924 in einem Aufsatz, "machen dem Film einen Vorwurf daraus, dass er der Sensationslust der Masse entgegenkommt. Meine Herrschaften, was tut der Film da anderes, als was das vielgepriesene Volksmärchen, die verherrlichten Heldensagen aller Völker tun!" Lang trat mit dem Ziel an, das Nibelungenlied den Bildungsbürgern, den Spezialisten und den Ideologen zu entreißen und einen massentauglichen Film daraus zu machen. Also: Keine Angst vor stummen Bildern (die sowieso nicht stumm sind, weil Gottfried Huppertz eine kongeniale Musik komponiert hat), Hochkultur und Germanentum. Langs Ritter sind Gangster im Kettenhemd, die Vorläufer der Corleones, der Sopranos und der Lannisters. Und keine Angst vor Verdummung. Trotz seines elitären Gehabes mit Monokel und Reitpeitsche dachte Lang, der Liebhaber von Karl May, Edgar Wallace und amerikanischen Comics, keinen Augenblick daran, den Stoff auf ein Niveau abzusenken, auf dem sich die Masse angeblich aufhält. Es spricht für sich, dass er ein großes Publikum erreichte, ohne sich dem leider branchenüblich gewordenen Zynismus auszuliefern ("Wir würden ja gern anders, aber die Leute sind zu blöd dafür.").

Tod und Symmetrie

Weil Gunther nicht Manns genug ist, es selbst mit der Königin der Amazonen aufzunehmen, steht ihm Siegfried - unsichtbar unter der Tarnkappe - beim Steinschleudern, Weitsprung und Speerwurf bei. Dank dieser Vorform des Dopings gewinnt der König den wenig ritterlichen Wettkampf. Mit ergaunerter Braut nach Worms heimgekehrt, trinkt er Blutsbrüderschaft mit Siegfried wie Winnetou mit Old Shatterhand. Statt Intschu-tschuna steht der grimmige Hagen mit dabei und sondert Phrasen ab, die bei den deutschen Helden dieses Films nicht die Titelkarte wert sind, auf die sie geschrieben sind: "Im Weg verende, ehrelos, wer dem Blutsbruder die Treue bricht."

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Dummerweise hat Brunhild den Verdacht, dass sie betrogen wurde, weil ihr Gemahl im Brautgemach ein Schwächling ist. Außerdem liebt sie Siegfried (oder das Bild, das die Seherin von ihm gemalt hat), was auch nicht hilfreich ist. Gunther darf darum in der Hochzeitsnacht nicht ins Ehebett. Siegfried soll es wieder richten, will aber davon nichts wissen. Hagen der Machtpolitiker, der in jeder Talkshow eine gute Figur abgeben würde, wenn er etwas photogener wäre, hat wieder den passenden Spruch parat: "Fluchwürdig ist, was halb getan ward!" So argumentierten später auch die Nazis, die den treuen Hagen zu ihrem Helden erkoren. Hatte man erst ein Verbrechen begangen, musste man weitere folgen lassen, auf dass alles besser werde. Das führte direkt in Hitlers Bunker. In Kriemhilds Rache ist der Bunker die brennende Etzelburg.

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Der blonde Siegfried, dieser Proto-Germane auf weißem Pferd und in weißen Gewändern, macht mit wie nach ihm so viele andere. Als Gunther, dessen Gestalt er dank Tarnkappe angenommen hat, geht er in Brunhilds Schlafgemach und unterwirft sie. Beim ersten Betrug auf Island zeigt Lang den unsichtbaren Siegfried als dunklen Schatten. Als Handlanger von Hagen und Gunther, heißt das, hat der mythische Held seine Unschuld verloren und zugleich den ersten Schritt in Richtung Totenreich getan, denn am Wormser Königshof wird der Mythos sterben. Durch den zweiten Betrug kommt Siegfried seinem Ende näher. Langs Inszenierung lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Nachdem Siegfried Gunther den von Hagen geforderten "Freundschaftsdienst" geleistet hat, steht seiner eigenen Hochzeitsnacht mit Kriemhild nichts mehr im Wege. In einem Vorraum des Schlafzimmers treffen sich die beiden zu einem Fest der Symmetrie. In der Mitte des Bildes führt eine Tür ins Schlafzimmer. Die Tür hat einen breiten, mit auffälligen Mustern verzierten Rahmen, der durch die auf ihn zulaufenden Deckenbalken noch einmal extra hervorgehoben wird. Siegfried kommt von links, Kriemhild von rechts, beide bewegen sich, im rechten Winkel zur Kamera, aufeinander zu, bis sie sich innerhalb des Rahmens treffen. Geordneter und harmonischer geht es nicht. Hier wird die Begegnung eines scheinbar füreinander geschaffenen Paares zelebriert, das nun miteinander verschmelzen wird (vielleicht zu einem androgynen Wesen, wie Tom Gunning in seinem sehr lesenswerten Buch The Films of Fritz Lang meint). Lang aber parallelisiert das junge Glück mit einer Szene im Zimmer des zweiten Paares. In einer wieder sehr sorgfältig komponierten Einstellung liegt Brunhild hingegossen da wie nach einer Vergewaltigung. Gunther steht bedrohlich und zugleich impotent und so frustriert wie vor dem neuerlichen Betrug an seiner Gattin über ihr und löscht die Fackel. Dann schließt sich eine Irisblende als gelte es, den letzten Rest von echtem Leben aus dieser scheinbar so zivilisierten Welt bei Hofe zu pressen. Auf der Leinwand wird es dunkel. Mit diesem Bild, nicht mit Siegfried und Kriemhild, endet der vierte Gesang. Ein finsterer Ort ist das, in den wir da geraten sind. Kein Platz für Lichtgestalten.

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Auch in Kriemhilds Falkentraum (Siegfried als weißer Falke wird von schwarzen Raubvögeln getötet) verdrängt die Dunkelheit das Licht. Geschaffen wurde sie von Walther Ruttmann, dem Meister des abstrakten Films, der mit Formen eine Geschichte erzählt wie in seinen anderen Werken aus dieser Zeit, also einen Film im Film beisteuerte (passend zu den Erzählern innerhalb der Erzählung), diesen aber durchaus stimmig in den Gesamtzusammenhang einfügte, was man schon daran erkennen kann, dass er als Ausgangspunkt jene Bogenform wählte, die überall in Die Nibelungen anzutreffen ist - vorzugsweise dann, wenn es richtig schlimm wird und ein Gewaltausbruch bevorsteht. Aus amerikanischen Verleihkopien wurde der Falkentraum herausgeschnitten, weil zu avantgardistisch und angeblich zu verwirrend (da ist es wieder, das vermeintlich dumme Publikum, das selten eine Chance erhält, sich als klüger zu erweisen als von der mit Produzenten und Verleihern besetzten Filmpolizei erlaubt). Ruttmann übrigens war später den Nazis gefällig und einer von Riefenstahls Mitarbeitern bei Triumph des Willens. Gut möglich, dass über ihn visuelle Elemente aus Die Nibelungen in den Reichsparteitagsfilm einwanderten, wo sie ideologisch umgearbeitet wurden.

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Anhand solcher Entwicklungen ließe sich viel über das Dritte Reich lernen, dessen Propagandisten mitunter sehr geschickt auf vorhandenen Traditionen aufbauten und das NS-Projekt dadurch leichter verdaulich machten, dass sie auch dort Kontinuitäten suggerierten, wo ein abrupter Übergang in die Barbarei stattfand. Die dringend nötige, weil zu dem Nazitum vorbeugender Erkenntnis führende Diskussion darüber wird bei uns leider durch unsinnige, autoritären Impulsen folgende Verbote erschwert und auch dadurch, dass es der Murnau-Stiftung seit ihrer Gründung nicht recht gelingen will, das ihr anvertraute Filmmaterial zugänglich zu machen, was eigentlich ihr Auftrag wäre. Halt! Ich hatte mir - ganz ehrlich - fest vorgenommen, die Stiftung (im Folgenden: MS) dieses Mal zu loben. Also erst das Positive.

Die Nibelungen restauriert

Die neu restaurierte, in vierjähriger Arbeit entstandene Fassung der Nibelungen, die 2010 in Berlin erstmals aufgeführt wurde, 2011 auf ARTE lief und jetzt auf DVD erhältlich ist, wird allgemein gelobt, und ich kann mich dem nur anschließen. In dieser Schärfe und Detailgenauigkeit hat man den Film seit den 1920ern nicht mehr gesehen. Das liegt unter anderem daran, dass die MS auf Kameranegative zurückgreifen konnte (statt auf Kopien oder Kopien von Kopien), die dem Filmmuseum München noch nicht zur Verfügung standen, als es die arg verstümmelten Nibelungen in den 1970ern und 1980ern wieder zusammensetzte. Der Ehrlichkeit halber muss ich hinzufügen, dass sich solches Lob meistens auf die technischen Aspekte einer Restaurierung konzentriert. Das ist unvermeidlich, weil außer den Restauratoren und vielleicht noch einigen Spezialisten niemand das gesamte Material kennt, aus dem ausgewählt wurde, was jetzt zu sehen ist. Auf ein anderes Medium übertragen: Haben Literaturkritiker, die schreiben, wie gut oder schlecht eine Übersetzung ist, den fremdsprachigen Originaltext gelesen? In vielen Fällen eher nicht, würde ich sagen.

Die filmische Überlieferung von Die Nibelungen, konstatiert die Restauratorin Anke Wilkening auf der Website der MS, sei beispiellos: "Neben internationalen Verleihkopien aus Italien, England, Russland, Uruguay und den USA, sind auch unvollständige Kameranegative im Bundesarchiv-Filmarchiv, Berlin und im Deutschen Filminstitut - DIF, Frankfurt am Main erhalten." Die jetzige Version ist aus 18 verschiedenen Filmelementen zusammengesetzt (Negative, Verleihkopien etc.). Das ist nicht ganz unproblematisch. Lang drehte mit zwei Kameras und wiederholte jede Aufnahme acht- bis zehnmal, um sicherzustellen, dass es jeweils drei annähernd gleiche (aber nie identische) Einstellungen gab, die seinen Ansprüchen genügten und aus denen hinterher drei Negative montiert wurden. Von diesen Negativen (eines für den deutschen, zwei für den ausländischen Markt) wurden die Verleihkopien gezogen. Keines dieser Negative ist vollständig erhalten. Umso mehr Kopien man herstellt, desto abgenutzter wird das Negativ. Weil der erste Teil der Nibelungen so erfolgreich war, wurde ein viertes Negativ montiert. Dabei verwendete die Ufa auch von Lang ausgemusterte Einstellungen, wenn keine anderen mehr vorhanden waren.

Das Erbe der Nibelungen

Man muss also zum Beispiel fragen, ob man die erhaltenen Negative zur Verbesserung der Bildqualität beliebig miteinander kombinieren kann. Wer das für kleinkarierte Erbsenzählerei hält: Fritz Lang war einer der größten Perfektionisten der Filmgeschichte. Wie Hitchcock war er davon überzeugt, dass es auf jedes Detail ankam und auf den genauen Platz dieser Details innerhalb des Bildausschnitts. Vielen Stars ging er furchtbar auf die Nerven, weil er sich erst zufrieden gab, wenn alles genau so war, wie er es haben wollte. Bei einem wie ihm ist die Filmrestaurierung ein noch schwierigeres Geschäft als ohnehin, und am Ende kommt es oft genug auf die Intuition der Restauratoren an, die sehr genau zwischen den eigenen Präferenzen und denen eines Regisseurs unterscheiden müssen. Dafür muss man sich in das Gesamtwerk oder zumindest in eine bestimmte Schaffensphase einarbeiten. Die Kenntnis eines einzigen Films genügt in aller Regel nicht.

Das Erbe der Nibelungen

Viele Rekonstruktionen von verstümmelten Filmen orientieren sich an der ursprünglichen Länge und an der Stoppuhr, weil das bei einer sehr komplizierten Arbeit noch die einfachste Variante ist. Bei einem Regisseur wie Lang ist das zu wenig. Wer sich im Zweifel für die Einstellung mit der besten Bildqualität entscheidet, liegt damit nicht automatisch richtig, die längste Fassung kommt der Premierenversion und den Intentionen der Schöpfer eines Films nicht unbedingt am nächsten. Das Erbe der Nibelungen - ein informativer, 2011 von Arte ausgestrahlter Dokumentarfilm von Guido Altendorf und der Restauratorin Anke Wilkening - beschreibt die schwierige Ausgangslage, schweigt sich aber leider darüber aus, nach welchen Kriterien ausgewählt und montiert wurde. Inzwischen kenne ich so viele Fassungen, in denen mal die eine und mal die andere Figur (per Titelkarte) einen Satz sagt, wo Kriemhild den Falkentraum hat, bevor sie Siegfried das erste Mal gesehen hat oder auch danach, dass ich schon gern gewusst hätte, warum die neueste Version die richtigste ist (und nicht nur die schärfste).

Solche Fragen stellt man sich schon bald, wenn man die MS-Fassung mit der Rekonstruktion des Münchner Filmmuseums vergleicht, die 1986 erstmals aufgeführt wurde. Das ist die Version, die es seit zehn Jahren in Ländern wie Spanien (laut Cover als Restaurierung der MS), den USA oder Frankreich auf DVD gibt und die bei uns, wo mit der Stiftung der Lizenzgeber sitzt und sie dank des Engagements von Enno Patalas und seinen Mitarbeitern hergestellt wurde (letztlich finanziert vom deutschen Steuerzahler), nie erschienen ist. Während ich das schreibe, stelle ich einen Anflug von schlechtem Gewissen fest. Schon wieder kritisiere ich die MS. Sollte ich nicht vielmehr dankbar dafür sein, dass es der Stiftung nach einer jahrelangen Dürreperiode (die "Deluxe Edition" von Nosferatu erschien 2007) gelungen ist, nicht nur einen der Stummfilme aus ihren Beständen auf den deutschen DVD-Markt zu bringen, sondern sieben Stück auf einen Streich?

Nach eingehender Gewissenserforschung muss ich sagen, dass ich nach vielen Jahren des frustrierenden Wartens nicht auf Dankbarkeit konditioniert bin, sondern dass die Ungeduld überwiegt. Ich gestehe also, dass ich nicht ganz so freudig erregt bin, wie es vielleicht wünschenswert wäre. Wäre ich Ernst Szebedits, der neue Chef der Murnau-Stiftung, würde ich mich jetzt ungerecht behandelt fühlen. Da gelingt es einem, sieben Titel in der zehnteiligen Stummfilm-Edition der Süddeutschen Zeitung unterzubringen, und trotzdem wird gemeckert. Das ist der Fluch, wenn man auf niedrigem Niveau beginnt und versuchen muss, da hinzukommen, wo andere längst sind. Ich schreibe nicht als MS-Versteher, sondern als MS-Langzeitgeschädigter, der sich wie viele Cineasten in diesem Land angewöhnt hat, in England, Spanien oder den USA zu kaufen, weil hier bei uns nichts angeboten wurde.

Zweiklassengesellschaft

Was soll man davon halten, wenn man seit einer halben Ewigkeit auf eine DVD-Veröffentlichung von Der brennende Acker hofft (eins von Murnaus Meisterwerken), und dann erscheint stattdessen Tartüff, den es seit 2005 ausnahmsweise sogar in Deutschland gibt? Würde die SZ-Edition statt Nosferatu neu verpackt Der Gang in die Nacht enthalten (auch von Murnau, mit Conrad Veidt), könnten wir - weil weltweit nicht in einer vernünftigen Fassung zu bekommen - über das mit der Dankbarkeit und der freudigen Erregung noch mal reden. Verglichen mit dem Desaster mit der "Special Edition" von Metropolis ist bei Die Nibelungen allerdings ein Quantensprung gelungen. Seit Menschengedenken muss das der erste von der MS oder in ihrem Auftrag restaurierte Stummfilm sein, den man zuerst in Deutschland kaufen konnte (eine Woche früher als in England). Trotzdem bin ich wieder unzufrieden.

Mein Dilemma: Ich liebe Stummfilme und wünsche dieser zehnteiligen SZ-Edition den größtmöglichen Erfolg, weil das vielleicht die Chancen erhöht, dass weitere Veröffentlichungen dieser Art folgen werden. Uneingeschränkt empfehlen kann ich die SZ-Nibelungen aber nicht. Anhand der einschlägigen Internet-Foren stelle ich nämlich fest, dass heutige Zuschauer viele Fragen haben, von denen die meisten in der sehr sehenswerten, von der MS produzierten Dokumentation Das Erbe der Nibelungen beantwortet werden. Der deutsche Gebührenzahler hat sie co-finanziert (durch die Ausstrahlung bei Arte). Zum Dank dafür schaut er wieder einmal in die Röhre. Wer sich nicht hinterher ärgern will, kauft besser gleich in den USA (Kino) oder in England, wo man bei Masters of Cinema ein paar Euro mehr bezahlt, dafür aber als Bonusmaterial die 72-minütige Dokumentation erhält und ein Booklet mit 52 Seiten. Wer auf Blu-ray umgestiegen ist, ist sowieso auf das Ausland angewiesen.

Bei vielen Stummfilmen wurden die schwarz-weißen Kopien in ein Farbbad getaucht, wodurch die transparenten Teile farbig erschienen. Das hatte dramaturgische und technische Gründe. Brach ein Feuer aus oder geriet das Gefühlsleben der Figuren durcheinander, konnte das durch Rot oder Violett betont werden. Bei Nacht zu drehen war wegen des wenig empfindlichen Filmmaterials, mit dem man damals arbeitete, sehr schwierig. Darum wurden Nachtszenen bei Tag gedreht und dann blau eingefärbt. Carl Hoffmann, Langs genialem Kameramann, gelangen bei Dr. Mabuse, der Spieler Nachtaufnahmen mit dramatischen Licht- und Schatteneffekten. Auf die übliche Viragierung konnte man deshalb verzichten. Bei Die Nibelungen wiederholte Hoffmann dieses Kunststück. Aber auf den Kameranegativen ist vermerkt, dass die Kopien einen orangenen Farbton erhalten sollen. Warum? Vermutlich deshalb, weil die damals zur Verfügung stehenden Filmmaterialien und Emulsionen sehr kontrastreiche Bilder ergaben. Durch das Orange wurden mehr Abstufungen erzielt als in schwarz-weiß. Die MS-Version der Nibelungen ist wieder orange eingefärbt (nur der Falkentraum ist lavendelfarben), die scharfen Kontraste werden dadurch abgemildert, die Bilder haben mehr Graduierungen und sind komplexer.

Der zweite Teil, Kriemhilds Rache, war kommerziell nicht so erfolgreich wie der erste. Das mag daran gelegen haben, dass es kaum Gelegenheit für spektakuläre Spezialeffekte wie im ersten gab und dass die Orgie der Destruktivität, in die sich die vermeintlichen Helden hineinsteigern, zu beunruhigend war. Das sinnlose Töten des Ersten Weltkriegs war noch in unguter Erinnerung, und Langs Film weigert sich, dem Gemetzel einen Sinn zu geben. Die Ufa versuchte, den zweiten Teil aufzupeppen und schnitt Stücke heraus, um Platz für Rückblenden zu schaffen. Der Kampf mit dem Drachen etwa wurde fast in voller Länge wiederholt. "Nie", schreibt Enno Patalas, "ist in den zweiteiligen Filmen Langs der zweite nur die Fortsetzung des ersten. Symmetrie, wie in den Bildern, herrscht auch in der Erzählung." Durch die Eingriffe der Ufa entstand eine Unwucht. Der Minnesänger Volker hatte am Anfang des zweiten Teils eine ähnlich wichtige (weil programmatische) Rolle wie zu Beginn des ersten. Seine Begegnung mit Rüdiger, dem Brautwerber König Etzels, wurde entfernt. Sie fehlt bis heute.

Die Nibelungen - Teil 2: Kriemhilds Rache

Solche Dinge erfahren britische und amerikanische DVD-Käufer durch Dokumentation und Booklet. Filmfreunde, die in Deutschland kaufen, werden allein gelassen wie zu Beginn des vierten Gesangs, wo etwas angekündigt wird, das dann nicht stattfindet, weil das von der Ufa herausgeschnittene Material weiter verschollen ist: "Wie Kriemhild ihre Brüder empfing". Das ist schade. Information schafft Interesse, und Interessierte sind potentielle Käufer. Wenn man die Kundschaft über Jahre stiefmütterlich behandelt muss man sich nicht wundern, wenn die Käufer weniger statt mehr werden. Das Erbe der Nibelungen deutet an, was sich alles machen ließe, wenn man nur könnte oder wollte (und Zugriff auf die Schätze hat, die in Deutschland in nicht-privaten Archiven schlummern). Altendorf und Wilkening zeigen Einstellungen aus Die Nibelungen und wie diese später von NS-Propagandafilmen wie Ewiger Wald oder beim Heldengedenken am Königsplatz in München kopiert wurden. Warum nicht mehr davon? Weshalb nicht mal eine DVD machen, um die man uns in anderen Ländern beneidet, statt umgekehrt? Meines Wissens ist Siegfrieds Tod, die 1933 gestartete und ideologisch der Zeit angepasste Tonfassung des ersten Teils, komplett erhalten. Was spricht eigentlich dagegen, diese als Bonus mit dazu zu packen, damit sich die Cineasten und historisch Interessierten in diesem Land ein Bild machen können, wie die Nazis Langs Film für ihre Zwecke einspannten, und wie sie ihn dafür verändern mussten?

Landschaft des Todes

In Die Nibelungen ist das Christentum der Komplize einer patriarchalischen Gesellschaft, der von einer starken Frau (Kriemhild) der Garaus gemacht wird, indem sie deren führende Repräsentanten, Hagen und ihre Brüder, in das Reich ihres zweiten Gatten lockt, des heidnischen Hunnenkönigs, der zwischen der Zeugung und der Geburt seiner Tochter Rom belagert, die Heilige Stadt. Kriemhild wird damit, ob sie es will oder nicht, zur Rächerin einer anderen starken Frau (Brunhild), die wir in ihrer vorchristlichen Heimat als unabhängige Königin der Amazonen kennenlernen, für die die von einem katholischen Priester geschlossene Ehe mit Gunther ein Kerker ist und die im Wormser Dom als Leiche endet. Viel Gutes hat Langs und Harbous Die Nibelungen über das organisierte Christentum wahrlich nicht zu sagen.

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Sehr gern würde ich mir ansehen (in voller Länge, nicht durch ein paar mir zugeteilte Schnipsel), wie in Siegfrieds Tod mit der Religion umgegangen wird. 1933 einigten sich die Nazis mit dem Vatikan auf das noch immer gültige Konkordat, in dem das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und deutschem Staat geregelt ist. Gleichzeitig wollten Leute wie Himmler das Christentum durch eine Mischung aus Okkultismus, Rassenmythologie und nordischen Heldensagen ersetzen. In Langs Original ist das Christentum sehr präsent (gleich ihr erster Weg führt die Burgunder zur Messe in den Dom), segensreich aber ist sein Wirken keineswegs. Priester und christliche Rituale sind die Vorboten schlimmer Entwicklungen, oder sie segnen Unrecht ab wie bei der Hochzeit Gunthers mit der betrogenen Brunhild. "Deine Gefangene bin ich!" sagt Brunhild auf der Fahrt nach Worms zu Gunther, um sodann, am Königshof, von einem geistlichen Würdenträger mit Kreuz und von Glockengeläut empfangen zu werden (vgl. dazu Maria, die in Metropolis zum Glockenschwengel wird).

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Fast zwangsläufig sind es die Stufen zum Dom, auf denen es zum Showdown zwischen den rivalisierenden Königinnen kommt. Beim Streit darüber, wer den Vortritt hat, enthüllt Kriemhild Brunhild das ihr von Siegfried verratene Geheimnis des Wettkampfs und der Hochzeitsnacht (der blonde Held ist eine Plaudertasche). Brunhild trifft das doppelt hart, weil sie Siegfried heimlich liebt. Von Hagen am Suizid gehindert, fordert sie Siegfrieds Tod. Hagen ist gern behilflich, braucht jedoch das Einverständnis seines Königs. Gunther stimmt zu, als ihm Brunhild vorschwindelt, in der Hochzeitsnacht von Siegfried entjungfert worden zu sein. Damit ist sie endgültig in Worms angekommen. Ihre Ziele erreicht sie jetzt durch Lug und Trug wie die Burgunder. Hagen als der verschlagenste von allen entlockt Kriemhild das Geheimnis von Siegfrieds verwundbarer Stelle und tötet ihn. Brunhild bleibt Siegfried treu bis in den Tod und bringt sich um. Damit wird am Ende des ersten Teils das Thema des zweiten vorweggenommen: Treue als ein in die Apokalypse führender Fetisch oder, wie Joe Hembus es formuliert, als "das Scharnier, um das schändlichste Taten bewegt werden".

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Vor dem Aufbruch zur Jagd, bei der er das Wild sein wird, winkt Siegfried seiner Kriemhild ein letztes Mal zu. Er steht dabei neben einem blühenden Baum. Später, als man ihr Siegfrieds Leichnam vor die Tür legt, hat Kriemhild eine Vision. Der blühende Baum verwelkt und verwandelt sich in einen Totenkopf. Das ist der Entwurf einer Landschaft des Todes, der im zweiten Teil verwirklicht wird. Am Schluss des ersten Teils zeigt Lang noch einmal diese streng symmetrisch organisierten Einstellungen, die zunächst Zeichen der Harmonie zu sein scheinen und doch nur vom langsamen Erstarren einer dem Untergang geweihten Kultur künden. Kriemhild geht zum im Dom aufgebahrten Leichnam Siegfrieds. Zu Füßen des Toten sitzt Brunhild, in einen schwarzen Umhang gehüllt. Kriemhild trägt einen weißen Umhang und nimmt ihren Platz beim Kopf der Leiche ein. Brunhild hat sich erdolcht. Kriemhild ist zur Untoten geworden, zum nur noch der Rache lebenden Zombie. "Ich starb, als Siegfried starb", wird sie im zweiten Teil sagen, mitten im Gemetzel.

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Die deutsche Seele

Auf dem Weg zum Dom schreitet Kriemhild ganz allein die Stufen hinauf, geht wie ein Gespenst durch den Torbogen des Eingangsportals. Hinter ihr ragen quaderförmige Teile der Königsburg in die Höhe. Kriemhild verkörpert so die langsam zu Stein werdende Einsamkeit. Vor diesem Hintergrund, würde ich sagen, wollte Lang die Hunnen des zweiten Teils verstanden wissen. Politisch korrekt sind sie natürlich nicht. Aber verglichen mit den Burgundern sind sie erfrischend lebendig (so wie die isländischen Amazonen des ersten Teils), auch wenn sie von Bäumen springen oder aus Höhlen wuseln. Lang kam es wie üblich auf die Verunsicherung des Publikums an. Die Hunnen scheinen alle Klischees über die Untermenschen aus dem Osten zu bedienen. Etzel ist ein bestenfalls halbzivilisierter Kriegsherr, der sich protzig kleidet und keinen Geschmack hat. Als sei das nicht genug, hat die Maske Rudolf Klein-Rogge eine Stirn verpasst, die ihn aussehen lässt wie das Missing Link der Evolutionstheorie. Und dann erweist sich diese Karikatur von einem Menschen als die sympathischste Figur des gesamten Films, als der Menschlichste unter einer Ansammlung von Intriganten, Mitläufern und Machtpolitikern.

Die Nibelungen - Teil 1: Siegfried

Für Zuschauer, die gern an die moralische Überlegenheit des Ariers glauben wollten, muss das ein Schock gewesen sein - so sie die von Lang vermittelten Einsichten denn an sich heran ließen (die Nazis, wie bereits gesagt, verzichteten darauf, den zweiten Teil der Nibelungen zurück in die Kinos zu bringen). Während die anderen tricksen und täuschen, scheint Etzel Kriemhild aufrichtig zu lieben und darunter zu leiden, dass die Frau, die ihn geheiratet hat, um ihn und die Hunnen zum Instrument ihrer Rache zu machen, nur für den toten Siegfried etwas empfinden kann. Vor Freude über das gemeinsame Kind ist er ganz närrisch. Nachdem Hagen seinen kleinen Sohn ermordet hat, verfällt er aus Trauer in eine Depression, die bei einem wie ihm, der doch eigentlich raubend und mordend durch Europa zieht (im Film sehen wir das nie, weil er schon bei der Belagerung Roms die Lust auf das Töten verloren hat), völlig unerwartet ist.

Die Nibelungen - Teil 2: Kriemhilds Rache

Den Krieg sieht man zunächst nur in Form seiner Resultate. Siegfried betritt den Palast der Burgunder in Begleitung von zwölf Königen, die seine Vasallen sind, weil er sie unterworfen hat. Im zweiten Teil kommt wieder ein Vasall nach Worms. Markgraf Rüdiger wirbt für König Etzel um Kriemhilds Hand. Bei der Abreise ins Hunnenland spendet der Priester aus dem Dom der Königin seinen Segen. Das ist die übliche, auf die Oberschicht konzentrierte Geschichtsbetrachtung, könnte man meinen. Doch als Kriemhild den Wormser Königshof verlässt, um zu ihrem künftigen Gatten zu reisen, stehen bettelnde Invaliden vor dem Tor (die modernen Waffen des Ersten Weltkriegs hatten menschliche Körper schlimmer verstümmelt als je zuvor). Die Invaliden segnet niemand, und sie stehen da als Erinnerung daran, warum Kriemhild Etzels Werbung angenommen hat. Seit Hagen den Schatz der Nibelungen im Rhein versenkt hat, fehlt ihr das Geld, um die Untertanen als Meuchelmörder anzuheuern (getötet werden soll Hagen, der auch ein Meuchelmörder ist). Also braucht sie einen neuen Racheplan, und deshalb verkauft sie sich an Etzel, um wieder Macht und Geld zu haben. Die Invaliden sind somit auch eine Warnung vor dem, was kommen wird. Nützen tut es nichts. Das Volk, das sind die Marionetten in den Ränkespielen einer korrupten Führungsclique. Für die Burgunder gilt das genauso wie für die Hunnen.

Die Nibelungen - Teil 2: Kriemhilds Rache

Lang zeigt Intrigen, Mord und Totschlag mit einer gewissen Faszination am Bösen, der man sich schwer entziehen kann, aber nie mit der Empfehlung, dem nachzueifern, was man auf der Leinwand sieht: die Machtpolitiker Hagen und Kriemhild und dazu - nebst Fußvolk - edle Recken, die sich am Nasenring durch die Manege führen lassen, wenn man ihnen hohl gewordene Worte wie "Ehre" und "Treue" hinhält. Der zweite Teil der Nibelungen ist eine mit gnadenloser Stringenz und Intensität bis zu ihrem blutigen Ende erzählte Untergangsgeschichte, die im deutschen Kino ihresgleichen sucht, mit Kriemhild als blondem Racheengel, der wie zu Stein erstarrt über die Apokalypse präsidiert. Interessant und voller Fragezeichen ist der Schluss. In der Version des Münchner Filmmuseums von 1986 lässt Kriemhild dem letzten ihrer Brüder, der noch lebt, den Kopf abschlagen. Dann legt sie selbst Hand an und tötet den wehrlosen Hagen, weil es keiner der verbliebenen Vasallen ihres Gatten tun will. Darauf fällt sie tot zu Boden wie vom Blitz getroffen, als habe sich mit der Vollendung ihrer Rache zugleich ihr eigenes Schicksal erfüllt. Das passt auch gut zum Doppelgängerthema. Kriemhild tötet Hagen und mit ihm sich selbst.

Die Nibelungen - Teil 2: Kriemhilds Rache

In der MS-Version von 2010 allerdings ist das Finale um neu aufgefundenes Material ergänzt. Kriemhild erschlägt Hagen und wird vom darüber empörten Hildebrand hinterrücks erstochen. Das lässt sich mit dem verqueren Ehrenkodex dieser Ritter erklären. Solange Männer andere Männer niedermetzeln, ist das in Ordnung. Wenn aber die Frau zur Waffe greift, ist das ein mit dem Tode zu bestrafender Regelverstoß. Außerdem lenkt die neu eingefügte Sequenz die Aufmerksamkeit auf ein Thema des Films, das man leicht übersieht. Siegfried findet sein Schwert, Balmung, im Nibelungenhort. Hagen nimmt es ihm ab und behält es als Trophäe, als er ihn an der Quelle ermordet. Kriemhild will es unbedingt wiederhaben. Mit diesem Schwert erschlägt sie Hagen. Ihr eigentliches Verbrechen ist nicht der Mord an Hagen, sondern ihr Anspruch auf den Phallus. Hildebrand würde demnach versuchen, die patriarchalische, von Kriemhild in Schutt und Asche gelegte Ordnung wiederherzustellen. Das wäre die letzte Ironie dieses Films, an dessen Ende nur noch ein Schlachtfeld übrig ist. Manchmal, um Freud abzuwandeln, ist ein Schwert nur ein Schwert. Bei Lang, der sich sehr für die Psychoanalyse interessierte, aber eher nicht.

Die Nibelungen - Teil 2: Kriemhilds Rache

Bleibt noch festzuhalten, dass Hildebrands tödlicher Stoß mit dem Schwert in einer Rolle mit ausgemusterten Schnittresten gefunden wurde. Kettelhut zufolge nahm Lang Kriemhilds Rache einige Tage vor der Uraufführung des zweiten Teils vollständig auseinander, um ihn neu zu schneiden, was der Qualität der Montage nicht immer gut tat. Da, wo Kriemhild stirbt, gibt es in der nicht ergänzten Fassung einen auffallend schlampigen Schnitt. Ob dieser Schnitt auf das Konto der Ufa geht, auf das von Fritz Lang oder von sonst irgendwem, weiß derzeit niemand. Es kann also sein, dass die MS bei ihrer Restaurierung eine Sequenz ergänzt hat, die Lang kurz vor der Premiere nicht mehr haben wollte und darum entfernte. Für das Einfügen gibt es gute Gründe, und beim jetzigen Stand der Dinge ist nichts dagegen zu sagen, zumal Briten und Amerikaner der Dokumentation alles Nötige entnehmen können. Diese Information hätte ich auch den stiefmütterlich behandelten Käufern der deutschen DVD gegönnt.

Die Nibelungen - Teil 2: Kriemhilds Rache

Ob mit mordendem Hildebrand oder ohne, die Apokalypse bleibt bestehen. Irgendwann, als sich in seiner Burg die Leichen türmen, wird Etzel, der vermeintliche Untermensch, zum Sprachrohr des von Lang anvisierten Publikums, wenn er verzweifelt ausruft: "Ein Ende! Ein Ende!" Doch die Burgunder kennen kein Pardon. Einmal schlägt Etzel vor, dass sie Hagen ausliefern sollen, dann soll den Überlebenden freier Abzug gewährt werden. "Ihr kennt die deutsche Seele nicht, Herr Etzel!" erwidert Dietrich von Bern mitleidig. Schon geht das Morden weiter. Allerdings achten die deutschen Helden bis in den Tod auf Ordnung und Sauberkeit, das muss man ihnen lassen. Während bei den barbarischen Hunnen die Leichen der Gefallenen chaotisch und unaufgeräumt herumliegen, bahren die Burgunder die ihren in der Burg, in der sie zum Endkampf angetreten sind, fein säuberlich auf, in Reih und Glied. Wer jedoch glaubt, daraus nationale Leitbilder konstruieren zu können, hat etwas falsch verstanden oder sollte sich eine Brille kaufen.

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