Alles unter Kontrolle

Beim deutschen Big-Brother-Award 2004 wurden u.a. die Bundesanstalt für Arbeit, Canon und LIDL für hervorragende Arbeit ausgezeichnet

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Der Big-Brother-Award wird immer beliebter: Der Saal in der Ravensburger Spinnerei in Bielefeld war überfüllt, als Datenschützer am Freitagabend zum fünften Mal den deutschen "Oskar für Datenkraken" verliehen wurden. Aus 250 Vorschlägen hatte die Jury insgesamt acht Preisträger ausgesucht: darunter die Bundesanstalt für Arbeit, Canon und die Billig-Supermarkt-Kette LIDL.

Die zunehmende Videoüberwachung ist seit Jahren eines der Lieblingsthemen der Datenschützer. Fast hätte es die Stadt Montabaur geschafft, den Preis im Bereich "Regional" zu erringen: Der Bürgermeister der Kreisstadt hat die Videoüberwachung als Mittel entdeckt Autofahrer zur Kasse zu bitten, obwohl sie sich an die Geschwindigkeitsgrenzen halten. Er ließ Videobänder nachträglich überprüfen, "ob eventuell aus Mimik oder Gestik des Fahrers oder der Fahrerin eine Beleidigung der mit der Verkehrsüberwachung betrauten, versteckt operierenden Politesse ableitbar wäre" - ein Plan, der fatal an den Landvogt im Wilhelm Tell erinnert, der von seinen Untertanen verlangt, einem Stock mit einem Hut Ehrerbietung zu zollen.

Den Vogel schoss jedoch der Rektor der Universität Paderborn ab, der Hörsäle und Rechnerräume per Videokamera überwachen lässt, um Diebstähle zu verhindern. Dass er dazu "Dome-Kameras" installieren ließ, die die Blickrichtung der Kameras verbergen, gleichzeitig aber eine Rede über die kritische Begleitung der Informationsgesellschaft hielt, war der Jury einen Preis wert. Um die Effekte einer solchen Überwachung zu demonstrieren, hatten die Organisatoren auch eine solche Kamera in den Saal der Preisverleihung montiert. Die Kamera schwenkte durch das Publikum, pickte einzelne Gesichter und Handy-Sünder heraus und präsentierte sie auf einer Leinwand.

Wie fast jedes Jahr war auch die Bundesregierung unter den Preisträgern gleich mehrfach vertreten. Bundesjustizministerin Brigitte Zypries erhielt den Preis für ihr Festhalten am Großen Lauschangriff. Kabinettskollegin Ulla Schmidt wurde für neue gesetzliche Regelungen im Gesundheitswesen ausgezeichnet, wonach die Daten der Kassenpatienten nicht mehr anonymisiert, sondern personenbezogen abgerechnet werden. Mit Datenbanken können so die Kassen ein lückenloses Gesundheitsprofil ihrer Mitglieder erstellen und ihnen gar einen "Morbiditätsfaktor" zuordnen. Die Bundesanstalt für Arbeit bekam Schelte für ihren 16-seitigen Fragebogen zum Arbeitslosengeld 2: So müssen die Antragsteller ein Formular mit vertraulichen Daten ihren Arbeitgebern vorlegen und auch Informationen über Mitbewohner einreichen. Zwar hat die Behörde die Verstöße eingesehen und Nachbesserung versprochen. Die neuen Antragsformulare sind aber erst im kommenden Jahr verfügbar, wenn schon Hunderttausende dieser Anträge abgegeben wurden.

Auch die freie Wirtschaft tut einiges, um den Ermittlungsgelüsten des Staates entgegenzukommen. Canon kassierte einen Preis, weil die Jury nachweisen konnte, dass Farbkopierer der Firma auf jeder Kopie eine unsichtbare Kennung hinterlassen, die einem bestimmten Gerät zugeordnet werden können. Die Käufer der Geräte werden hierüber nicht informiert: Besitzer von Copyshops berichten aber schon von gezielten Nachfragen durch die Polizei. Die Datenschützer geben zu bedenken, dass nicht nur vermeintliche Falschgeldhersteller betroffen seien, sondern auch Demoaufrufe oder Kopien von belastenden Unterlagen zurückverfolgbar wären.

Im Bereich Kommunikation erschien der Jury das Angebot Track Your Kid der Firma Armex und PC Funk aus Gladbeck preiswürdig. Eltern können sich per SMS den Aufenthaltsort ihres Kindes anzeigen lassen. Die Firma nutzt dazu die Ortsbestimmung über das GSM-Netz. Wenn diese Funktion freigeschaltet ist, übermitteln die Netzbetreiber auf Anfrage den Standort eines Mobiltelefons. Die Jury stellte nicht nur den Sinn eines solchen Angebots in Frage - wie sollen Eltern reagieren, wenn ihr Kind in einem verbotenen Stadtteil aufhält? -, sie sehen auch großes Missbrauchspotential. So könnten Lebenspartner sehr einfach die Datenschutzvorkehrungen der Betreiber unterlaufen, für Arbeitgeber sei es ein leichtes, ihre Angestellten über ihr Dienst-Handy zu überwachen.

Die Tchibo direct GmbH wurde für den Verkauf ihrer Kundendaten ausgezeichnet. Zwar versichert Tchibo in Prospekten und auf Webseiten immer wieder, dass die Daten der Kunden "vertraulich" behandelt werden - in Wahrheit kann jedoch jeder interessierte Werbetreibende Anschriften von Tchibo-Kunden im Tausenderpack erwerben. Nur einen millimetergroßen Hinweis auf eine eventuelle Datenweitergabe konnten die Juroren in einem Prospekt entdecken, eine Widerspruchsmöglichkeit sehen die Bestellmöglichkeit sehen die Bestellformulare nicht vor.

Preisträger LIDL zeigte, dass Datenschutzverstöße nicht unbedingt etwas mit moderner Technik zu tun haben müssen. So zitierte Laudatorin Rena Tangens Berichte aus tschechischen Medien, wonach LIDL-Mitarbeiterinnen während ihrer Periode Stirnbänder tragen sollten, wenn sie während ihrer Arbeitszeit überhaupt die Toilette aufsuchen wollten. LIDL dementierte diese Berichte zwar, die Big-Brother-Jury hatte aber in Zusammenarbeit mit Gewerkschaften auch viele andere Fälle zusammengetragen, bei denen LIDL-Mitarbeiter mit Kameras, Taschenkontrollen oder heimlich versteckten Babyphonen aufs Äußerste bespitzelt wurden.

Auch dieses Jahr musste die Preisverleihung wieder ganz ohne Preisträger auskommen, die wenig begehrte Siegestrophäe blieb auf dem Podium stehen, während FoeBud-Initiator padeluun immer wieder stellvertretend eine kleine Dankesrede hielt. Vielleicht war auch die Kurzfristigkeit der Einladungen Schuld. Justizministerin Zypries ließ sich aus Termingründen entschuldigen, versprach jedoch, dass es "im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch Gelegenheit zu vielen weiteren interessanten Diskussionen" gäbe - eine Ankündigung, die den Datenschützern zu denken gibt.

Auch LIDL schickte ein Schreiben und drohte mit rechtlichen Schritten. Besonders interessant war das Schreiben der Firma Armex, die sich über die schlechten Recherchen der Jury beschwerte. Interessanterweise rechtfertigten die Gladbecker ihr Geschäftsmodell mit der rhetorisch gemeinten Frage: "Nutzen Sie keine Payback-Karten?" Offenbar war der Firma der langjährige Rechtsstreit des FoeBud mit den Payback-Betreibern kein Begriff (Payback-Karte umfunktioniert zur Privacy-Card).

Auch wenn am Freitag schon die nächste Preisverleihung in Bielefeld angekündigt wurde: die Organisatoren ringen um das Bestehen des Preises. Mit der zunehmenden Bekanntheit nimmt auch die Arbeit für Recherche und Organisation zu. Wichtige internationale Kontakte können kaum gepflegt werden, wenn keine Gelder für die Reisekosten bereitstehen. Deshalb verwies Initiator Padeluun mit mehr Nachdruck als in den letzten Jahren auf die Spendenformulare. Mitinitiatorin Rena Tangens sagt: "Wir warten nicht auf einen Großspender. Wir wollen, dass viele Leute sagen, dass sie unsere Arbeit wichtig finden und uns unterstützen."