Allmählicher Abschied

Seite 2: War wirklich keine andere Alternative gegeben?

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Bleibt die Frage: War den Herren Chrustschow und Ulbricht damals, 1961, wirklich keine andere Alternative gegeben als der Mauerbau? Hätten sie nicht eine Grenze einrichten können, die durchlässig gewesen wäre - zum Beispiel gegen Hinterlassung einer Kaution von circa 200 Mark? Einzahlbar beim Wechsel von Ostberlin nach Westberlin, und nach Einreichen der Quittung wieder erhältlich bei der Rückkehr. Das Ganze ohne großen Strafaufwand, ohne die Bissigkeit einer Gefängnisverwaltung.

Daneben die ostdeutschen PX-Läden, wo man gegen West-Valuta Bananen, Kaffee, Zigaretten, Jeans und Beat-Musik-Platten hätte erstehen können. Der Sammlerwert einer sowjetischen Rolling-Stones-Platte auf dem Westberliner Flohmarkt hätte sicher rasch astronomische Höhen erreicht, und auch die sozialistische Kifferszene hätte bald verstanden, dass die Mauer ihre Geschäfte nur schützte und beförderte, statt sie zu behindern.

Schupos mit Schusswaffen. Foto: Archiv Tom Appleton, Berlin 1985

Man hätte eine innerdeutsche Form von Fraternité, Égalité und Liberté erlebt, bei der Kennedys berühmte Maueransprache von 1963 nur noch als ein ausgesprochener Lacher gewirkt hätte.

Nein, die Mauer war wirklich blöde und kontraproduktiv, sie entsprang einer humorlosen Gefängniswärtermentalität, die im Grunde in der eingeschlossenen Bevölkerung eine Knastmentalität züchtete. Hätten DDR-Bewohner beliebig oft in die BRD reisen dürfen, hätten sie rasch gelernt, mit dem Zwei-Staaten-System klar zu kommen.

Umgekehrt hätte es das berühmte Berufsverbot für linke Westler nicht gegeben, weil man sich einen Brain-Drain Richtung Ost im Westen gar nicht leisten hätte können. Und wie man heute oft spaßeshalber behauptet, Amerikas Arme hätten sich gefreut, wenn sie in die DDR hätten ziehen können, vernünftige Mieten, Vollbeschäftigung, Kita, ärztliche Versorgung, etc. pp. Die Senioren aus dem Osten wären immer noch in den Westen gedackelt, um Bananen und Kaffee zu kaufen, und abends brav zurückgeströmt, um ihre Nachbarschaft zu beglücken. Eine soziale und sozialistische Marktwirtschaft.

Heute können wir folgendes sagen: Die Mauer ging am 13 August 1961 hoch und am 9. November 1989 nieder. Die Mauer bestand insgesamt 10.315 Tage lang. Seit dem 9 November 1989 bis heute, zum 9. November 2017, sind 10.227 Tage vergangen. Es wird also nochmal rund drei Monate dauern, bis die beiden Hälften dieser Gleichung sich austariert haben werden, und wir eben so lange nach dem Fall der Mauer leben werden wie vor dem Fall der Mauer.

"Was bleibt übrig, wenn der Mensch verreckt? Das Insekt…das Insekt." Foto: Archiv Tom Appleton, Berlin 1985

Die Mauer wird als Horror-Monster der deutschen Geschichte wie ein Kadaver, den eine Schlange verschluckt und schließlich wieder ausgeschieden hat, in die Vergangenheit zurücksinken. Ihre Funktion wird einzig darin bestanden haben, Millionen von Menschen ein Leid anzutun, ihnen Freude und Lebenslust zu nehmen.

Das Einzige, was vielleicht den Bücherfreund beglücken mag, sind die ausgezeichneten DDR-Editionen, die, auf Klopapier gedruckt, bereits zu verrotten beginnen, und von keinem West-Verlag jemals nachgedruckt werden können, weil zu teuer.

Vielleicht, wenn Trumps Mexiko-Projekt einmal klappt, wird es dereinst in Mexiko einen Knast-Verlag geben, der die DDR-Bücher als schöne amerikanische Leinenbände nachdruckt. Dann bäte ich als erstes um die "Deutsche Grammatik" von Gerhard Helbig und Joachim Busch. Untertitel: "Ein Handbuch für den Ausländerunterricht."