Als Geheimsekretär für die Post zuständig

Im Tal der Ahnungslosen? - Kardinal Woelki im Kölner Dom 2014. Bild: Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0

Das Erzbistum Köln arbeitet Fehler im Umgang mit sexualisierter Gewalt in seinem Zuständigkeitsbereich aktiv auf. Aber wusste der heutige Erzbischof so wenig, wie er vorgibt?

Auf einer Pressekonferenz des Erzbistums Köln haben Kardinal Rainer Woelki und Generalvikar Markus Hofmann am Dienstag einen umfangreichen Maßnahmenkatalog zur Verhinderung von und zum Umgang mit Sexualstraftaten in der Zukunft vorgestellt. Woelki räumte dabei eigene Fehler in der Vergangenheit ein, einen Rücktritt lehnt er jedoch ab.

Es war mit Spannung erwartet worden, das am 18. März 2021 veröffentlichte Gutachten der in der Domstadt ansässigen Kanzlei Gercke ǀ Wollschläger ("GW-Gutachten"), angekündigt als "Unabhängige Untersuchung zum Umgang mit sexualisierter Gewalt im Erzbistum Köln" und zu möglichen Versäumnissen bei der Aufarbeitung der Fälle.

Zumal das bereits zuvor erstellte Gutachten der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) der Öffentlichkeit vorenthalten wurde. In den Gutachten wurden nicht die Fälle an sich untersucht, sondern der Umgang mit zur Kenntnis gebrachten mutmaßlichen Sexualstraftaten in der Diözese. Das Gutachten behandelt den Zeitraum von 1975 bis 2018, untersucht wurden 236 Aktenvorgänge mit dem Ziel, mögliche bestehende Defizite und Rechtsverstöße sowie die hierfür Verantwortlichen möglichst konkret zu benennen.

314 Betroffene und 202 Beschuldigte

Laut GW-Gutachten wurden Hinweise auf 314 Betroffene und 202 Beschuldigte gefunden. Im Umgang mit diesen Vorkommnissen stellten die Gutachter gravierende Mängel fest und nannten in diesem Zusammenhang einige Namen, nur einen nicht: Den von Kardinal Rainer Maria Woelki. Dabei war er immer mittendrin statt nur dabei.

Namentlich genannt wurde der inzwischen verstorbene ehemalige Kardinal Joseph Höffner, dem im GW-Gutachten acht Pflichtverletzungen vorgeworfen werden, sechs wegen Verstoßes gegen die Aufklärungspflicht, zwei wegen Verstoßes zur Pflicht der Opferfürsorge. Dem ebenfalls inzwischen verstorbenen Kardinal Joachim Meissner werden in dem GW-Gutachten 24 Pflichtverletzungen attestiert.

Eine verharmlosende Broschüre

Außerdem wird der Weihbischof und ehemalige Generalvikar Dominikus Schwaderlapp erwähnt. Ihm wird vorgeworfen, das Ausmaß der Fälle sexualisierter Gewalt im Erzbistum Köln bagatellisiert zu haben. Im Jahr 2010 war er mit der Erstellung einer Broschüre beauftragt, in der die sexualisierte Gewalt an Minderjährigen, begangen durch im Erzbistum Köln beschäftigte Täter, aufgearbeitet werden sollte.

In dieser Broschüre wurde von lediglich fünf beschuldigten Priestern berichtet, in der später erstellten und im September 2018 bei der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda vorgestellten sogenannten MHG-Studie war von 87 Beschuldigten die Rede. Die Kölner Broschüre war 2012 unverändert neu aufgelegt worden.

Im Zusammenhang mit dieser Broschüre wurde auch der Name Stefan Heße genannt. Dieser war unter Meisner und Woelki Generalvikar im Erzbistum Köln tätig gewesen, bis er am 26. Januar 2015 zum Erzbischof von Hamburg geweiht wurde.

Stefan Heße werden im GW-Gutachten insgesamt elf Pflichtverletzungen vorgeworfen. Der darin nicht namentlich genannte Ansgar Puff, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des GW-Gutachtens Weihbischof im Erzbistum Köln, steht ebenfalls im Zusammenhang mit der Broschüre.

Stefan Heße hat Ende vergangener Woche den Papst gebeten, ihn von seinem Amt zu entbinden. Dominikus Schwaderlapp, Ansgar Puff sowie der ebenfalls in dem GW-Gutachten erwähnte Offizial Gunter Assenmacher wurden von Woelki vorläufig von ihren Aufgaben freigestellt. Zum Zeitpunkt der Erstellung besagter Broschüre war Rainer Kardinal Woelki Erzbischof in Berlin. Da der Skandal in Berlin ausgelöst wurde, ist nicht anzunehmen, dass ihm die Existenz dieser Publikation verborgen geblieben war.

Der Maßnahmenkatalog

Auf der Pressekonferenz am Dienstag sprach zunächst Woelki. Ein Gespräch mit einem Betroffenen, "lange vor der Veröffentlichung der MHG-Studie" habe ihm die Augen geöffnet. "Das ist für mich der Antrieb gewesen, für alles, was danach passiert ist."

Ziel sei "ein echter Wandel in unserer Haltung". Den Betroffenen müsse auf Augenhöhe begegnet werden, "das System aus Schweigen, Geheimhaltung und mangelnder Kontrolle" gebrochen werden. Dazu hat die Diözese acht Maßnahmen erarbeitet, die Generalvikar Markus Hofmann vorstellte.

1. Die Errichtung einer Aufarbeitungskommission: Diese solle mit sieben Personen besetzt werden, davon fünf seitens der Betroffenenkommission des Erzbistums sowie des Landes Nordrhein-Westfalen und nur zwei Vertreter des Erzbistums Köln. Bis diese Kommission ihre Arbeit aufnehmen könne, sei die Ermittlungsrichterin Erika Nagel mit dieser Aufgabe betraut. Die Richterin werde auch später der Kommission angehören.

2. Eine große Summe Geld werde für die Entschädigung der betroffenen zur Verfügung gestellt: Der Fonds werde nicht durch Mittel aus der Kirchensteuer eingerichtet, sondern aus Eigenmitteln des Erzbistums. Entschädigt werden sollen auch Personen, deren Fälle strafrechtlich bereits verjährt sind.

3. Kontrolle beschuldigter Kleriker und Laien: Damit soll sichergestellt werden, dass eventuell verhängte Maßnahmen auch eingehalten werden. Verstöße könnten zur Kürzung der Bezüge führen; Wiederholungstaten sollen umgehend der Staatsanwaltschaft gemeldet werden.

4. Intervention vereinfachen: Dazu soll unter anderem ein anonymisiertes Hinweissystem installiert werden.

5. Weiterentwicklung der Prävention: Mehr als 100.000 Personen seien inzwischen für den Umgang mit Sexualstraftaten geschult worden, 87 Prozent der dem Erzbistum angeschlossenen Pfarreien hätten bereits Schutzkonzepte entwickelt.

6. Eine Perspektive für den Betroffenenbeirat entwickeln: Das sei wichtig, um "für die Opferfürsorge besser aufgestellt zu sein".

7. Aktenführung digitalisieren: So solle künftig verhindert werden, dass Personal- und Berichtsakten manipuliert werden könnten. Es solle unmöglich sein, etwas unbemerkt hinzuzufügen, zu verändern oder gar zu vernichten.

8. Veränderungen in der Priesterausbildung: Künftig sollen deshalb im Bereich Priesterausbildung Frauen stärker einbezogen werden.

Da stellt sich die Frage, weshalb nicht gleich Frauen als Priesterinnen ausgebildet und in die Leitungs- und Entscheidungsgremien gleich- und stimmberechtigt einbezogen werden. "Es ist mir eine Herzensangelegenheit, dass wir im Erzbistum Köln alles tun, dass wir sexualisierte Gewalt in Zukunft vermeiden werden", schloss Markus Hofmann seine Ausführungen.

Alles in allem ein weitreichender Maßnahmenkatalog, an dem vor allem bemerkenswert ist, dass er auf die Zusammenarbeit mit weltlichen Instanzen setzt und sich das Erzbistum somit deren Kontrolle aussetzt. Wie diese Maßnahmen tatsächlich umgesetzt werden, wird die Zukunft zeigen. Grundsätzlich aber wären solche oder ähnliche Regelungen im allen gesellschaftlichen Bereichen wünschenswert. Sexualisierte Gewalt ist schließlich - leider - kein Alleinstellungsmerkmal der katholischen Kirche.

Kanonisches Recht

Im GW-Gutachten wurden Versäumnisse im Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt untersucht. Allerdings war der Maßstab nicht weltliches, sondern kirchliches Recht. Doch was ist das eigentlich, dieses kirchliche oder kanonische Recht?

In Artikel 140 des Grundgesetzes ist das kirchliche Selbstverwaltungsrecht festgelegt. Damit wird den Kirchen beziehungsweise religiösen Vereinigungen Freiheit von staatlicher Einmischung in innere Angelegenheiten garantiert. Dazu gehört auch die Sondergerichtsbarkeit, das Kirchenrecht, in der katholischen Kirche "Codex Iuris Canonic" (CIC) "Kodex des kanonisches Rechts" genannt, mit dem diese inneren Angelegenheiten geregelt werden.

Bis zum Mittelalter gab es kein einheitliches Kirchenrecht, sondern die lokalen Kirchen regelten die Dinge selbst, nach eigenem Gusto oder anhand der Dekrete des Papstes. Diese wurden erst ab dem Mittelalter gesammelt und zusammengefasst. Die kirchliche Rechtsprechung lehnte sich an die des Kaisers Justinian I. an, das "Corpus Iuris". So entstanden sechs Gesetzeswerke, die zusammen das "Corpus Iuris Canonici" bildeten, das von 1582 bis 1017 in Kraft war; dieses galt allerdings nicht verbindlich und kam nur zur Anwendung, wenn es durch eine öffentliche Bekanntmachung quasi in Kraft gesetzt wurde.

Das erste Vatikanische Konzil am 8. Dezember 1869 regte die Schaffung eines einheitlichen, für alle verbindlichen Regelwerks an. Veröffentlicht wurde das CIC schließlich Pfingsten, 27. Mai 1917, in Kraft trat es ein Jahr später zu Pfingsten am 19. Mai 1918.

Die aktuelle Fassung wurde am 25. Januar 1983 von Papst Johannes Paul II. mit der Apostolischen Konstitution Sacrae Disciplinae Leges öffentlich bekannt gegeben, und ist seit dem ersten Adventssonntag desselben Jahres in Kraft. 2001 wurde es durch Johannes Paul II. um prozessuale Regeln ergänzt, die insbesondere die Stellung der Kongregation für die Glaubenslehre bei der Verfolgung von Vergehen festlegte.

Solange die "inneren Angelegenheiten" das Verhältnis der Gläubigen zur jeweiligen Institution bzw. deren Vertreterinnen und Vertretern oder zum Beispiel die Regeln des Zusammenlebens in einem Kloster betreffen, ist das völlig unproblematisch. Denn die Unterwerfung der Gläubigen und auch der Nonnen und Mönche unter diese Regeln beruhen auf Freiwilligkeit.

Schutz vor Ahndung nach weltlichem Recht

Problematisch wird es allerdings, wenn die Kirchen als größte Arbeitgeberinnen im Land ein eigenes Arbeitsrecht schaffen und Beschäftigte nicht die Möglichkeit haben, vor weltlichen Gerichten wirksam und verbindlich ihr Recht einzuklagen. Gänzlich problematisch wird es, wenn das kanonische Recht dazu missbraucht wird, Straftaten wie Sexualdelikte, bei denen primär Kinder aber auch Erwachsene Opfer sind, zu vertuschen und die Straftäter vor der Ahndung durch ein weltliches Gericht schützen. Das Kirchenrecht wurde jedoch häufig dazu missbraucht, sehr weltliche Verbrechen zu vertuschen und die Täter zu schützen.

"Eines aber unterscheidet die katholische Kirche von allen übrigen gefährlichen Gesellschaften: Sie unterhält eine eigene Strafjustiz, die solche Vergehen ahndet", erläuterte Andreas Zielcke bereits 2010 in der Süddeutschen Zeitung (SZ). " Zwar gibt es auch ein evangelisches Kirchenrecht, doch das stellt kaum mehr als eine gewöhnliche Disziplinarordnung dar, die Pfarrer zur Einhaltung ihrer Dienstpflicht anhält. Ein voll ausgeformtes Strafrecht, das neben das staatliche tritt, ist nur der katholischen Kirche eigen. Und das heißt auch, dass es einheitlich gilt für die gesamte katholische Welt mit ihren mehr als eine Milliarde Gläubigen und ihrer halben Million Klerikern."

Im GW-Gutachten heißt es:

"Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass das kirchliche Strafrecht andere Ziele verfolgt als das weltliche (…) Ziel des kirchlichen Strafrechts ist damit insbesondere, die Ordnung des gemeinsamen Glaubens und des Zusammenlebens als Glaubensgemeinschaft zu sichern. Die klerikalen Standespflichten und die einwandfreie Amtsführung stehen im Vordergrund. Aus diesem Grund kennt das kirchliche Strafrecht auch keine Haftung von Laien für diese Taten, sondern lediglich diejenige von Klerikern."

Beuge- und Sühnestrafen

Das kirchliche Recht unterscheidet laut GW-Gutachten zwischen Klerikern und Laien, also kirchlichen Amts- und Würdenträgern und einfachen Mitgliedern. Letztere können, zum Beispiel als Lehrer einer kirchlichen Einrichtung, sehr wohl als Beschuldigte im Zusammenhang mit dem Vorwurf sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige auftauchen. Ferner wird im kanonischen Recht nach Beugestrafen, deren Zweck die Reue und die Änderung des monierten Verhaltens ist, und Sühnestrafen, also Bestrafung für ein Fehlverhalten unterschieden.

Der Maßnahmenkatalog reicht von Gebeten, Wallfahrten, Fasten, dem Verbot, Sakramente zu geben oder zu empfangen, über Versetzung bis hin zur Amtsenthebung und Entlassung aus dem Klerikerstand. Dabei gilt das Legalitätsprinzip, das heißt, es muss vor Begehen einer Tat klar gewesen sein, dass es sich um eine Straftat handelt. Ausnahme sind schwere Straftaten. Im Falle einer Gesetzesänderung während der Zeit zwischen Tat und Urteil muss das günstigere Strafmaß verhängt werden.

Wie beim weltlichen Recht gilt auch hier die Unschuldsvermutung. Deshalb haben die Autoren der Studie sich entschlossen, von Beschuldigten und Betroffenen zu reden, denn in den allermeisten Fällen wurde die Schuld nie zweifelsfrei festgestellt. Und das, obwohl Kleriker genauso dem weltlichen Strafrecht unterliegen, wie alle anderen auch. Allerdings konstatieren die Autoren den "Wunsch des kirchlichen Gesetzgebers, Strafverhängung zu vermeiden".

2002 erarbeitete die Deutsche Bischofskonferenz "Leitlinien zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche". 2010 wurden diese überarbeitet und im Dezember 2019 ein weiteres Mal. Am 16. Juli 2020 folgte das "Vademecum zu einigen Fragen in den Verfahren zur Behandlung von Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Kleriker" (Vad.), das laut der Gutachter "in vielen Punkten erstmals echte Klarheit" brachte.

Bei Sexualstraftaten gilt seit 2010 eine Verjährungsfrist von 20 Jahren ab dem Tag des Begehens der Tat, bei wiederholten, teils über Jahre hinweg begangenen Taten ab dem Tag der Beendigung. Bei Minderjährigen Opfern beginnt die Verjährungsfrist mit dem Tag ihrer Volljährigkeit.

Was aber passiert mit Priestern, denen Sexualstraftaten nachgewiesen werden? In einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit beantwortete der ehemalige US-Benediktinermönch Patrick Wall die Frage mit den erhellenden Worten:

"Sie wurden zwar oft aus der betroffenen Gemeinde abgezogen, aber nie exkommuniziert oder der Justiz übergeben. Dazu wussten sie in der Regel zu viel über all die Verfehlungen der anderen Geistlichen. Die Bischöfe hatten Angst, dass bei einem Gerichtsprozess all die klerikalen Schandtaten ans Licht kämen. Deshalb wurden die Missbrauchstäter meist kurz in eine kirchliche Therapieeinrichtung gesteckt, bevor man sie wieder in eine andere Gemeinde entsandte. Das ist ja überall auf der Welt so passiert, auch in Deutschland."

Wall recherchierte mit Kollegen in Kirchendokumenten und "wir sahen, dass es sexuellen Missbrauch in der Kirche fast seit ihrem Bestehen gibt. (…) Bereits bei der Synode von Elvira im Jahre 309 wurden Regelungen erlassen, wie mit Priestern zu verfahren sei, die sich an Kindern vergehen". So sei es "Bestandteil des Kirchenrechts, dass alle Beteiligten, die in einen Fall von sexuellem Missbrauch eingeweiht werden, eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen müssen. Diese sieht vor, dass sie exkommuniziert werden, wenn sie jemandem davon erzählen".

Wenn Offizialdelikte relativiert werden

"Die Herrschaft des Verfahrens liegt bei der Glaubenskongregation in Rom, mag das Vergehen auch in Irland oder Südamerika stattgefunden haben. Über allem liegt ein Schleier von Geheimnis, von intransparentem Walten fremder Kompetenzen, letztlich kontrolliert vom Heiligen Stuhl, Gesetzgeber und Richter in einem. Vor allem dieser Punkt veranschaulicht die Unverträglichkeit mit weltlichem Recht", resümierte Zielcke in der SZ.

Immer wieder wurden Fälle bekannt, bei denen die Tatverdächtigen aus der Schusslinie gebracht und die Betroffenen mittels Verschwiegenheitserklärung ruhiggestellt worden waren. Die Tatverdächtigen wurden so einem weltlichen Verfahren entzogen, obwohl Sexualdelikte ab einer bestimmten Schwere Offizialdelikte sind und zur Anzeige gebracht werden müssen. Ende Januar 2018 äußerte der Erzbischof von Melbourne, Denis Hart, er würde eher in Gefängnis gehen, als gebeichtete Sexualdelikte bei der Polizei anzuzeigen.

Als Ursache für die vielen Fälle von Pädo-Kriminalität, durch die die katholische Kirche immer wieder in die Schlagzeilen gerät, nannte der Ex-Mönch Wall ihr völlig verquastes Verhältnis zur Sexualität.

Rainer Woelki - mittendrin statt nur dabei

Im GW-Gutachten tauchen wie erwähnt einige Namen Geistlicher auf, denen nach Ansicht der Autoren Fehlverhalten im Umgang mit Sexualstraftaten vorzuwerfen wäre: Den beiden inzwischen verstorbenen Kardinälen und Kölner Erzbischöfen Joseph Höffner und Joachim Meisner werden gravierende Verfehlungen bescheinigt; dem heutigen Weihbischof Dominikus Schwaderlapp sowie dem Hamburger Erzbischof Stefan Heße wird vorgeworfen, das Ausmaß der Fälle sexualisierter Gewalt innerhalb der katholischen Kirche in einer Broschüre bagatellisiert zu haben.

Vertraut mit Vertuscherkreisen

Der im Gutachten nicht namentlich genannte Kölner Weihbischof Ansgar Puff wurde wie Heße und Schwaderlapp vorerst von seinen Aufgaben freigestellt. Nur Rainer Maria Woelki blieb bisher von Konsequenzen verschont. Der war aber mittendrin statt nur dabei. Mentorbeziehungen und Vertrauensverhältnisse verbanden ihn mit zentralen Akteuren der Vertuschung.

Der Erzbischof von Köln, der aktuell als Saubermann innerhalb der katholischen Kirche glänzen will, studierte Theologie in Bonn und Freiburg, unter anderem bei Kardinal Karl Lehmann. Diesem wird vorgeworfen, über die Fälle sexualisierter Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und Schutzbefohlene im Bistum Mainz, dessen Bischof er von 1983 bis 2016 war, weggesehen und die Täter bestenfalls versetzt zu haben.

In einem im September 2018 von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegebenen Gutachten für das Bistum Mainz ist von 53 Beschuldigten und 169 Betroffenen die Rede. Die Fälle reichen bis in das Jahr 1931 zurück, die jüngsten sind auf 2010 datiert. Das Bistum schaltete die Staatsanwaltschaft ein.

Nach Medienberichten ermittelte auch in Hamburg die Staatsanwaltschaft gegen zwei Beschuldigte, nachdem sich vier Betroffene der Sankt-Ansgar-Schule gemeldet hatten. Die Schule gehört zum Erzbistum Hamburg, zu dessen Erzbischof im Januar 2015 Stefan Heße geweiht wurde. Dieser war im Erzbistum Köln unter Woelki Diözesanbeauftragter für Rundfunk und Fernsehen, 2006 wurde er zum Stellvertreter des Generalvikars Schwaderlapp ernannt, den er 2012 ablöste, nachdem dieser zum Weihbischof ernannt wurde.

1985 war Rainer Maria Woelki von Joseph Kardinal Höffner zum Priester geweiht worden, 1990 wurde er Erzbischöflicher Kaplan und Geheimsekretär von Joachim Kardinal Meisner. Josef Höffner werden im GW-Gutachten werden acht Pflichtverletzungen vorgeworfen, sechs wegen Verstoßes gegen die Aufklärungspflicht, zwei wegen Verstoßes zur Pflicht der Opferfürsorge. Eine im Bistum Münster eingerichtete Forschergruppe zur Untersuchung zum Umgang mit sexualisierter Gewalt durch Priester und Diakone des Bistums bescheinigt ihm "intensives Leitungs- und Kontrollversagen".

Zeitweise mehr Empathie für Beschuldigte

Höffners Nachfolger Joachim Meisner war von 1980 bis '89 Bischof in Berlin. Das dortige Erzbistum gab 2020 ein Gutachten zur Untersuchung der Fälle sexualisierter Gewalt in Auftrag. Seit 1946 gab es eine Vielzahl von Fällen mit 61 Beschuldigten und 121 Betroffenen. Die mit dem Gutachten beauftragte Kanzlei Redeker, Sellner und Dahs geht von einer "erheblichen Dunkelziffer" aus und bescheinigt den Verantwortlichen, in erster Linie bemüht gewesen zu sein, Schaden von der Institution abzuwenden. In den Jahren vor 2002 sei häufig eine deutlich größere Empathie für die Beschuldigten zu erkennen gewesen als den Betroffenen gegenüber. Das gilt dann mutmaßlich auch für Bischof Joachim Meisner.

Von 1989 bis 2014 war dieser Erzbischof in Köln. Im GW-Gutachten werden ihm 24 Pflichtverletzungen attestiert. In seine Amtszeit als Kölner Erzbischof fallen 85 der untersuchten Fälle.

Am 30. März 2003 wurde Rainer Maria Woelki von Joachim Kardinal Meisner zum Bischof geweiht, am 24. Februar 2004 wurde er zum Weihbischof in Köln ernannt und am 27. November 2011 als Erzbischof von Berlin eingeführt. Dort wurde er keine drei Jahre später verabschiedet und am 11. Juli 2014 zum Erzbischof in Köln ernannt. In die Zeit von 2003 bis 2011 fallen mehr als zwei Dutzend der in dem GW-Gutachten skizzierten Fälle, weitere 70 seit 2015.

Erstes Gutachten wegen "methodischer Mängel" unter Verschluss

Ein erstes Gutachten, in dem es nicht um die Taten an sich, sondern um den Umgang des Bistums mit den Vorfällen gehen sollte, gab Woelki 2018 in Auftrag. Im Oktober 2020 teilte er mit, dass dieses nicht veröffentlicht werde. Als Grund wurden erhebliche methodische Mängel genannt, die u. a. von der Kölner Medienkanzlei Höcker als solche benannt wurden. Das führte zu viel Streit in der katholischen Kirche und mit dem Betroffenenbeirat sowie zu großem Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit.

Dieses erste Gutachten für die Öffentlichkeit freizugeben, weigerte Woelki sich bislang beharrlich, nun soll es auf der Webseite des Kölner Erzbistums doch öffentlich einsehbar werden. Das aktuelle Folgegutachten der Kanzlei Gercke ǀ Wollschläger ist dort bereits vollständig einzusehen.

Eine Vielzahl der Fälle ereignete sich während der Zeit Woelkis als Weihbischof in Köln, umgeben von mindestens vier Männern, die in die Vertuschung bzw. Bagatellisierung des Problem involviert waren, allein 70 der in dem Gutachten skizzierten Fälle ereigneten sich in seiner Amtszeit als Erzbischof in Köln. Doch ein Fehlverhalten konnten die Gutachter nicht feststellen?

Woelki gab letztlich den Anstoß für die Aufarbeitung

Was Woelki anders machte als seine Vorgänger, inwiefern er zur Aufklärung der Vorkommnisse beitrug und ob er die Staatsanwaltschaft einschaltete, haben wir beim Erzbistum Köln nachgefragt. Die Pressereferentin des Erzbistums, Nele Harbeke, teilte Telepolis daraufhin mit:

"Wo Prof. Dr. Gercke auf für die Staatsanwaltschaft relevante Informationen gestoßen ist, hat er diese unverzüglich der Staatsanwaltschaft mitgeteilt. Das vollständige Gutachten wurde zudem am 18. 3. 2021 der Staatsanwaltschaft übergeben."

Zudem versicherte sie, das Erzbistum Köln habe bereits seit 2011 verbindliche Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen sowie schutz- und hilfebedürftigen Erwachsenen getroffen, die in all seinen Einrichtungen angewendet und konstant weiterentwickelt würden.

Bereits 2014, so die Pressereferentin, sei die Präventionsordnung überarbeitet und der für Minderjährige geltende Schutzauftrag auf schutz- oder hilfebedürftige Erwachsene ausgeweitet worden.

"Nach der Einrichtung der Stabsstelle Intervention durch Kardinal Woelki im Juli 2015 wurden die verschiedenen Aktenbestände sukzessive zusammengeführt. Ab 2016 wurde für die sog. MHG-Studie, die die Deutsche Bischofskonferenz in Auftrag gegeben hat, alle Akten gesichtet, Informationen für die Forscher zusammengestellt und zur Verfügung gestellt. Im weiteren Verlauf wurden alle bis dahin bekannten Fälle intern einer weiteren Prüfung unterzogen und Ende 2018/Anfang 2019 den Staatsanwaltschaften zur erneuten Überprüfung zur Verfügung gestellt."

Unter dem Eindruck der MHG-Studie zum Thema "Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz" im Jahr 2018 habe die Deutsche Bischofskonferenz, gemeinsam mit dem Zentralkomitee der Deutschen Katholiken, die Aufnahme eines "Synodalen Weg" beschlossen. Dieser habe im Dezember 2019 begonnen und hat die Themenfelder "Macht und Gewaltenteilung in der Kirche - Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag", "Leben in gelingenden Beziehungen - Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft", "Priesterliche Existenz heute" und "Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche". Ziel sei laut Satzung die gemeinsame Suche nach "Schritten zur Stärkung des christlichen Zeugnisses".

Am 15. März 2021 habe Kardinal Woelki eine Vereinbarung über verbindliche Kriterien und Strukturen für eine umfassende und unabhängige Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bereich des Erzbistums Köln unterzeichnet. Damit sei die "Gemeinsame Erklärung über verbindliche Kriterien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland" für das Erzbistum Köln in Kraft gesetzt worden.

Zudem sei die Höhe der Anerkennungsleistungen angehoben worden. Darüber entscheide die neu geschaffene "Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistung" (UKA) in Bonn. Ihre Zahlungen orientieren sich nach Angaben des Erzbistums "grundsätzlich an Urteilen staatlicher Gerichte zu Schmerzensgeldern in vergleichbaren Fällen". Daraus ergebe sich ein Leistungsrahmen von bis zu 50.000 Euro. Bisher betrugen diese Leistungen durchschnittlich 5.000 Euro. Zusätzlich könnten Betroffene Kosten für Therapie- oder Paarberatung erstattet bekommen.

Woelki im Tal der Ahnungslosen

Das klingt alles super - und um der ganzen Wahrheit die Ehre zu geben: Ohne Kardinal Woelkis Einsatz wäre die Aufarbeitung innerhalb der katholischen Kirche nicht da, wo sie jetzt ist. Geschweige denn im Erzbistum Köln, das immerhin das größte der katholischen Kirche in Deutschland ist.

Dennoch musste er Fehler einräumen. Doch das GW-Gutachten kommt zu dem Schluss, dass er nach geltendem Kirchenrecht richtig gehandelt habe.

Aber reicht das? Im Anschluss an die Pressekonferenz betraf deshalb auch ein Großteil der Fragen der anwesenden oder zugeschalteten Journalistinnen und Journalisten die Rolle Woelkis: Ob er nicht im Laufe der Jahre, mitten in einem System, das er selbst als "System aus Schweigen, Geheimhaltung und mangelnde Kontrolle" bezeichnete - umgeben von Männern, die laut GW-Gutachten dieses System maßgeblich ausmachen - von all diesen Vorfällen hätte wissen und handeln müssen? Ein Kollege der Bild brachte das Wort "Mitwisserschaft" ins Gespräch. Doch Woelki wandelte nach Angaben im Tal der Ahnungslosen.

Als Geheimsekretär von Meisner sei er zuständig gewesen für die Post, habe Informationen für die Vorträge des Kardinals zusammenstellen sowie dessen Visitationen planen und organisieren müssen. Die Meldungen über Fälle sexualisierter Gewalt seien ja "erst danach aufgeschlagen. Jedenfalls das Gros". Als Weihbischof sei er zwar bei Personalkonferenzen anwesend gewesen, aber "meiner Erinnerung nach sind solche Fälle nicht explizit behandelt worden". Ein solcher Fall sei "nie vorgestellt und diskutiert worden", bekräftigte er.

"Der Ruf der Kirche wurde höher bewertet als das Leid der Betroffenen", was Woelkis Resümee zu Beginn der Pressekonferenz. "Das hätte so nie passieren dürfen, im Zweifelsfalle muss rigoros gehandelt werden.". Gerichte seien die einzige Instanz, die in solchen Fällen urteilen und richten dürften.

Bleibt zu hoffen, dass er diese Erkenntnis fürderhin in praktisches Handeln umsetzt. Der vorgestellte Maßnahmenkatalog bietet zumindest die entsprechenden Werkzeuge dafür.

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