Als Kuren Kinder krank machten

Musste hoffentlich nicht zur Kur: Junge, 1950. Bild: Deutsche Fotothek‎, CC BY-SA 3.0 DE

Ehemalige "Verschickungskinder" haben sich bundesweit organisiert. Sie fordern die Aufarbeitung erlittener Gewalt. Immerhin ein Landesparlament will nun tätig werden. (Teil 1).

Nicht selten kamen Kinder aus den "Verschickungskuren" der 1950er- bis 1980er-Jahre krank oder traumatisiert nach Hause. Dabei sollten die Maßnahmen auf Betreiben von Gesundheits- und Jugendämtern eigentlich das Gegenteil bewirken. Aber Misshandlungen und auch sexualisierte Gewalt blieben in den sogenannten Kindererholungsheimen und Kinderheilstätten nicht aus. Betroffene sprechen heute lieber von Verschickungsheimen.

In der Regel verbrachten sie zwei bis sechs Wochen dort, auf Grundlage ärztlicher Überweisungen. Oberflächlich sollten in den Heimen möglichst schnell Erfolge erzielt werden, etwa bei untergewichtigen Kindern eine Gewichtszunahme – notfalls auch durch gewaltsames "Aufpäppeln".

Immer wieder schildern Betroffene, dass sie in den Heimen Erbrochenes wieder auf den Teller bekamen und zum Teil sogar aufessen mussten, nachdem sie gezwungen worden waren, schlecht zubereitete Speisen zu essen und sich übergeben hatten.

Bundesweit Millionen Kinder "auf Kur" geschickt

Bundesweit gab es über den gesamten Zeitraum Millionen Verschickungskinder. Lückenlose Register sind nicht erhalten; konservative Schätzungen variieren zwischen drei und acht Millionen. Es können aber auch bis zu zwölf Millionen gewesen sein. Ein Teil der Betroffenen organisierte sich im Erwachsenenalter, um das Geschehene aufzuarbeiten.

Am 21. März dieses Jahres hat sich im Landtag NRW der "Runde Tisch Verschickungskinder" konstituiert. Zum ersten Mal trafen sich Betroffene, Politiker und Vertreter ehemaliger Trägerorganisationen – Anbieter sogenannter "Verschickungskuren".

Bei der konstituierenden Sitzung des neuen Gremiums vereinbarten die Teilnehmer eine gemeinsame und umfassende Aufarbeitung.

Das Land NRW nimmt bei dieser Aufarbeitung bundesweit eine Vorreiterrolle ein: Nachdem Anja Röhl im Jahr 2019 die "Bundesweite Initiative Verschickungskinder" gegründet hatte und das Thema in verschiedenen Medien aufgegriffen wurde, stellte im Februar 2020 der SPD-Abgeordnete Dennis Maelzer eine Kleine Anfrage im Landtag von NRW.

Dort begann nun die systematische Auseinandersetzung mit dem Thema. Man wollte es angehen und die Politiker empfahlen den Betroffenen in NRW, einen Verein zu gründen, "als legitimierter Ansprechpartner für die Politik", sagt Detlef Lichtrauter, selbst ein Betroffener.

Im Januar 2021 gründete er mit sechs weiteren ehemaligen Verschickungskindern, die schon in der bundesweiten Initiative mitwirkten, den Verein Aufarbeitung Kinderverschickungen-NRW e.V. (AKV-NRW e.V.). Lichtrauter ist nun dessen Erster Vorsitzender.

Er erinnert sich: "Sie sagten, um seriös zu arbeiten und Unterstützung zu bekommen, braucht man eine Rechtsform. Und die einfachste Rechtsform ist ein Verein." Mit diesem Verein stimmt die Landesregierung sich nun bei allen Schritten zur Aufarbeitung ab. Im selben Jahr entschied der Landtag fraktionsübergreifend (CDU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen), "Schicksal und Geschichte von Verschickungskindern anzuerkennen, aufzuarbeiten und sichtbar zu machen".

Am 26. November 2021 wurde in einem einstimmigen Beschluss die Einrichtung des Runden Tisches im Plenum angeregt, das Thema kam auch auf die Tagesordnung in den Fachausschüssen. Und das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (MAGS) begann bald, den Beschluss der Aufarbeitung umzusetzen.

Diese Umsetzung besteht erstens darin, das so genannte "Citizen Science Projekt-Kinderverschickungen NRW" des Vereines Aufarbeitung Kinderverschickungen-NRW e.V. (AKV-NRW e.V.) auf den Weg zu bringen und finanziell abzusichern. Damit sollen die Historie aufgearbeitet, Betroffene unterstützt und qualifiziert, und Öffentlichkeitsarbeit geleistet werden. Das Projekt startete im Mai 2022 und das MAGS fördert es bis zum Jahr 2026 mit insgesamt bis zu 575.000 Euro.

Forschungsarbeit wird gefördert

Zweitens beauftragte das MAGS eine Kurzstudie zur Aufarbeitung des Bereichs Kinderverschickung und finanzierte sie mit rund 25.000 Euro. (Prof. Dr. Marc von Miquel: "Verschickungskinder in Nordrhein-Westfalen nach 1945: Organisation, quantitative Befunde und Forschungsfragen")

Und nun hat sich der Runde Tisch konstituiert. An diesem beteiligen sind eine ganze Reihe von Institutionen: der Verein Aufarbeitung Kinderverschickungen-NRW e.V. (AKV-NRW e.V.), die beiden Landschaftsverbände, die kommunalen Spitzenverbände, die evangelische und die katholische Kirche, Sozialverbände und die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege.

Hinzu kommen die Ärztekammern, die Krankenkassen, die Deutsche Rentenversicherung, das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) und das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (MKJFGFI) sowie das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen.

Die Teilnehmer beschlossen in ihrer ersten Sitzung eine "umfassende Aufarbeitung". Dafür sollen zunächst alle wichtigen Akten gesichert werden. "Mit der Konstituierung des Runden Tisches wurde hier ein vielversprechender Anfang gemacht", so Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) in einer Pressmitteilung.

Ende der Aktenvernichtung versprochen

Wenn man Detlef Lichtrauter fragt, ob das alles sei, und vielversprechend, zögert er etwas: "Einiges ist greifbar. Es werden keine Akten mehr vernichtet, was noch da ist, wird gesichert. Das klingt nach wenig, ist aber elementar." Aber jemand anderes soll gesagt haben, beim nächsten Mal solle der Verein "die Daumenschrauben anziehen".

Noch vor der Bildung des Runden Tisches, im Herbst 2022, hatten Dennis Maelzer und sein Fraktionskollege Josef Neumann eine neue Kleine Anfrage im Landtag gestellt: Wie geht es weiter mit der Aufarbeitung des Themas Kinderverschickung?

Darin wollten sie auch wissen: "Welche Unterstützung hat der Bund bei der Aufarbeitung der Kinderverschickung bislang zugesagt?" Die damalige Auskunft: "Der Bund hat sich an der Aufarbeitung des Themenkomplexes bisher nicht beteiligt."

Allerdings unterstützt er die Aufarbeitung und erkennt das Leid ausdrücklich an: In einer Antwort auf die diesbezügliche Anfrage der Bundestagsabgeordneten Simone Borchardt (CDU/CSU) heißt es: Es "befassen sich nun mehrere Ressorts der Bundesregierung mit dieser Thematik, darunter neben dem BMFSFJ auch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS)."

Sie sind im "Fachaustausch" mit dem Verein "Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickung e. V." (AEKV) eingetreten. Das ist ein von Anja Röhl mitbegründeter und -geführter Verein zur wissenschaftlichen Begleitung des Ganzen. Und das BMFSFJ, so die Bundestagsdrucksache weiter, "wird hierzu mit den Ländern und Kommunen in einen Austausch über die Verantwortung für das erlittene Leid und Unrecht der 'Verschickungskinder' treten."

Die Frage der finanziellen Entschädigung

Da stellt sich die Frage, ob die Feststellung von Verantwortlichkeiten möglicherweise auch eine finanzielle Entschädigung nach sich ziehen sollte.

Ein anderer Schritt auf diesem Weg: Ende März 2023 hat Anja Röhl eine entsprechende Petition an den Bundestag gestartet, "kurz und knapp, nur, damit das Thema im Parlament wahrgenommen wird".

Darin wird die Einführung einer "unabhängigen Kommission Kinderverschickung" gefordert: "Dieses muss gesellschaftlich und wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Die Aussagen der Betroffenen müssen dazu ernst genommen und in die Forschung einbezogen werden."