Altersmilde – eine unterschätzte Gefahr für die Staatsräson?

Ist er wirklich altersmilde oder tut er nur so? Wolfgang Ischinger wagte einen unerhörten Vorstoß. Foto: Stiftung Münchner Sicherheitskonferenz (gemeinnützige) GmbH

Manchmal kommt von langjährigen Scharfmachern Erstaunliches, wenn sie nichts mehr müssen. Neuestes Beispiel: Wolfgang Ischinger. Staatstragende "Boomer" reagieren verstört.

Erstaunliche Fälle – oder zumindest Anfälle – von Altersmilde gibt es immer wieder. Wer um die Jahrtausendwende in Bayern aufgewachsen ist, kennt den damaligen Ministerpräsidenten und CSU-Chef Edmund Stoiber als knallharten Law-and-Order-Politiker. Zeitweise ging er mit Sprüchen hausieren, die heute eher als AfD-Sprech gelten – zum Beispiel als er vor einer "durchrassten Gesellschaft" warnte.

Von 1993 bis 2007 führte Stoiber den Freistaat an – er wollte noch höher hinaus, doch dazu reichte es nicht. Aus Protest gegen seine Kanzlerkandidatur wollte die deutsche Punkszene im Sommer 2002 sogar ihre traditionellen "Chaostage" in der bayerischen Landeshauptstadt München abhalten. Doch nachdem die Polizei dort eine Null-Toleranz-Strategie angekündigt hatte, blieb die Zahl der angereisten Punks überschaubar. Dennoch wurden in diesem Zusammenhang mehr als 120 Personen von der bayerischen Polizei in Gewahrsam genommen, mehr als 500 erhielten Platzverweise.

Sozialkritische Töne bei Anne Will

Als Stoiber 2011 im Alter von 70 Jahren in einer Talkshow saß und sich ausgerechnet zu den London Riots äußern sollte, dürfte ein Großteil des Publikums die alten Law-and-Order-Sprüche von ihm erwartet haben – inklusive deftiger Kommentare zum Migrationshintergrund eines Großteils der Randale-Verdächtigen. Doch nichts dergleichen geschah in jener Runde bei Anne Will.

Stattdessen kamen von Stoiber erstaunlich sozialkritische Töne: London könne man sich als normaler Mensch ja gar nicht mehr leisten – und das Problem sei ja auch die Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa, versuchte er den Frust auf den Straßen der britischen Hauptstadt zu erklären. Viele seiner früheren Stammwähler dürften das für "linksgrünversifftes Soz-Päd-Blabla" gehalten haben, während politische Gegner sich wunderten, wie schnell "das blonde Fallbeil" Edmund Stoiber scheinbar altersmilde geworden war.

Damit war es dann aber nicht ganz so weit her, wie sich im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 und 2016 zeigte – die Politik der damaligen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) war Stoiber deutlich zu liberal. Sie mache Europa kaputt, mischte sich Stoiber aus dem Ruhestand ein – und forderte ein gemeinsames Handeln der Unions-Schwesterparteien, "notfalls auch gegen Frau Merkel".

Das Beispiel lässt erahnen, dass auch Wolfgang Ischinger keine 180-Grad-Wendung vollziehen wird, nur weil der ehemalige Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz gerade mit friedenspolitischen Tönen für Unruhe bei staatstragenden Boomern sorgt. Ischinger gehe "Wagenknecht und Schwarzer auf den Leim", warnte am Mittwoch der Focus-Gastkolumnist Thomas Jäger.

"Höchste Zeit" für einen Friedensprozess für die Ukraine

Ischinger hatte in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel am 12. März vorgeschlagen, dass sich schon jetzt eine Kontaktgruppe formieren solle, die öffentlich politisch-strategisch über die Ordnung nach dem Krieg Russlands gegen die Ukraine nachdenkt und beim absehbaren Kriegsende als "Teil einer Vermittlungsgruppe" auftreten könnte.

Nach mehr als 380 Kriegstagen sei es "höchste Zeit, dass wir einen Friedensprozess für die Ukraine in Gang setzen", schrieb Ischinger – und dann wagte es der ehemalige Spitzendiplomat auch noch, die inhaltlich schwache Argumentation gegen verfemte Gestalten wie die Initiatorinnen des "Manifests für Frieden", Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer oder den Philosophen Richard David Precht zu kritisieren:

Der Westen – die Bundesregierung einschließlich – gibt sich gegenüber den Wagenknechts, Schwarzers und Prechts eine völlig überflüssige Blöße, wenn auf die verständliche Frage nach einer Friedensinitiative immer wieder die stereotype Antwort kommt, die Voraussetzungen für Verhandlungen seien bis auf Weiteres nicht gegeben.


Wolfgang Ischinger

Doch den Focus-Gastkolumnisten und Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln überzeugt das nicht. Er will weiter auf militärische Lösungen und die Diffamierung der Kritikerinnen und Kritiker setzen:

Denn "den Wagenknechts, Schwarzers und Prechts" geht es bei ihren zwischen Desinformation und Luftschloss-bauen oszillierenden Kampagnen doch nicht um diplomatische Initiativen, sondern darum, aus dem Thema soviel politische Unterstützung und mediale Aufmerksamkeit zu schlagen wie möglich. Sie würden, sobald eine solche Friedensinitiative-Gruppe aufgesetzt würde, diese als Quelle neuer "alternativer Fakten" zu ihren Gunsten nutzen.


Thomas Jäger, Focus Online

Nun ist der 76-jährige Ischinger wirklich unverdächtig, jemals ein Freund der Friedensbewegung gewesen zu sein. Bei den Protesten gegen die von 2008 bis 2022 von ihm geleitete Münchner Sicherheitskonferenz warfen ihm Friedensbewegte stets vor, Kriegstreiber und Waffenlobbyisten im Münchner Luxushotel Bayerischer Hof zu versammeln. Tatsächlich fanden sich auch immer wieder große Rüstungsfirmen auf der Partner- und Sponsorenliste der Konferenz, die inzwischen von Christoph Heusgen geleitet wird.

Ischinger selbst muss sich inzwischen nicht mehr ständig beweisen, dass er als Scharfmacher funktioniert. Gegen Waffenlieferungen ist er deshalb noch lange nicht. Erst im Februar sprach er sich dafür aus, beim Thema Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine nichts auszuschließen: "Wir sollten möglichst alles vermeiden, was der russischen Seite zusätzliche Sicherheit für die eigene Planung bietet", sagte er dem rbb-Inforadio. So gesehen kann auch die Altersmilde im Tagesspiegel-Gastbeitrag ein Bluff sein. Aber so weit denken die Scharfmacher aktuell nicht.