Am Ende des Kapitalismus: Ein neues Ausmaß der Unternehmensprofitgier?
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Ein Phänomen beschäftigt die Wirtschaftswissenschaft: Die Gierflation. Wie viel Unersättlichkeit der Unternehmen verbirgt sich in der aktuellen Inflation? Was wäre ein Mittel dagegen?
"Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus", lautet der seit Jahren bekannte Ausspruch des marxistischen Philosophen Frederic Jameson. "Ist der Kapitalismus tot?", fragt nun der Global Strategist der Großbank Société Génerale, Albert Edwards. Seine Ausgangsvermutung: "Wir stehen möglicherweise vor dem Ende des Kapitalismus."
Sein konkreter Vorwurf lautet:
Nachdem ich über 40 Jahre im Finanzwesen gearbeitet habe, dachte ich, dass mich nicht mehr viel überraschen könnte. Dennoch finde ich das noch nie dagewesene Ausmaß der Unternehmensgier in diesem Wirtschaftszyklus erstaunlich. Die jüngste Veröffentlichung der Daten zu den gesamtwirtschaftlichen Gewinnen in den USA war ein weiterer Schock für mein sinkendes Vertrauen, dass das kapitalistische System so funktioniert, wie es sollte.
Albert Edwards
Seine Erklärung für die vermutete Gierflation:
"Die Unternehmen in den Industrieländern (insbesondere in den USA) haben unter dem Vorwand steigender Rohstoffkosten die Preise weit über den Kostendruck hinaus in die Höhe getrieben, um ihre Gewinnspannen auf ein noch nie dagewesenes Niveau auszuweiten. Die Unternehmen haben erst die Pandemie und dann den Krieg in der Ukraine genutzt, um 'zu profitieren'."
Krise als Chance
Eigentlich sind Preisabsprachen verboten und in der Marktlogik würden überzogene Preissteigerungen einzelner Unternehmen umgehend durch einen Konkurrenten bestraft, der seinen Marktanteil ausweitet, indem er dasselbe Produkt beziehungsweise dieselbe Leistung preiswerter anbietet. Dadurch würden die überhöhten Preise zwangsläufig wieder fallen und so schützt der Markt den Konsumenten. Nach Albert Edwards geschieht dies aktuell aber nicht mehr. Er schreibt:
Die Unternehmen können ihre Preise ohne Risiko erhöhen, um ihre Gewinnspannen zu schützen, weil sich die Wettbewerber implizit darauf geeinigt haben, dass sie auf Kostenschocks mit der Weitergabe von Kosten reagieren. Tägliche Nachrichten über Probleme in der Versorgungskette und hohe Rohstoffkosten tragen in dieser Phase nicht nur zur Entstehung einer impliziten Preisvereinbarung zwischen den Unternehmen bei, sondern können auch bei den Kunden Verständnis für höhere Preise wecken und so die Nachfrage weniger elastisch machen.
Albert Edwards
Immer wieder wurde das Phänomen der gigantischen Unternehmensgewinne während der Corona-Krise und jetzt während des Ukraine-Krieges thematisiert. Die FAZ spricht von Rekordgewinnen trotz Krise.
Gerade Ölfirmen können sich über sprudelnde Gewinne freuen. Auf der anderen Seite herrschen in Deutschland Reallohnverluste in historischem Ausmaß.
In Großbritannien konnten die 350 größten an der Londoner Börse notierten Unternehmen die durchschnittlichen Gewinnmargen von 5,7 Prozent im ersten Halbjahr 2019 auf 10,7 Prozent im ersten Halbjahr 2022 fast verdoppeln. In den USA jubelten die Unternehmen in der letztjährigen Fortune 500-Liste über einen Rekordgewinn von 1,8 Billionen US-Dollar im vergangenen Jahr.
Das Phänomen von extremen Unternehmensgewinnen einerseits und hoher Inflation sowie Lohnverluste andererseits ist mehr als bemerkenswert. Bereits vor einem Jahr betonte Ralf Streck auf Telepolis, dass sich die explodierenden Spritpreise nur durch Gier erklären ließen.
Fast zeitgleich hatte Andrew Bailey, Gouverneur der Bank of England, zwar betont, er sehe keinen Hinweis auf exzessive Gewinne, die auf eine Gierflation hindeuten würden, gleichwohl war er aber so beunruhigt, dass er in einem Interview auf BBC Unternehmen ausdrücklich bat, Zurückhaltung walten zu lassen.
Paul Donovan, Chefökonomist des UBS Wealth Management, ging zur gleichen Zeit einen Schritt weiter, indem er konstatierte:
"Ein Großteil der derzeitigen Inflation ist auf die Ausweitung der Gewinne zurückzuführen."
Im Herbst warnte dann der ehemalige US-Arbeitsminister Robert Reich eindringlich vor dem Phänomen der Gierflation und riet:
Es sind die Gewinne, nicht die Löhne, die kontrolliert werden müssen.
Aber bei dem Kampf gegen die grassierende Inflation konzentrieren sich die Zentralbanken nach wie vor auf steigenden Nominallöhne, die angeblich aufgrund der Lohn-/Preisspirale eine höhere Inflation zu verursachen drohen.
Welch' geradezu absurdes Ausmaß diese Fokussierung annehmen kann, lässt sich wunderbar in einer unterhaltsamen Diskussion zwischen Jon Stewart und dem ehemaligen Chefökonomen der Weltbank Larry Summers erkennen.